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KULTUR/0786: Sozialdarwinistische Gesellschaft im Reality-TV (SB)



Die Empörung über die RTL-Doku-Soap "Erwachsen auf Probe" sei Bestandteil einer wohldurchdachten PR-Strategie, behauptet Jörg Iringhaus unter Verweis auf Medienexperten in der Rheinischen Post (20.05.2009). Der Sender kalkuliere den Tabubruch von vornherein ein, um ein Maximum an Aufmerksamkeit zu erzeugen, gleichzeitig verzichteten die Bedenkenträger darauf, sich bei RTL über die genauen Modalitäten der Produktion dieser Reality Show zu informieren. Niemand habe sich trotz tagelanger Empörung nach Einzelheiten erkundigt, heißt es dort unter Verweis darauf, daß die echten Mütter der Kinder bei den Dreharbeiten immer dabei gewesen seien. Zudem habe RTL ein Team aus Erzieherin, Kinderärztin und -psychologin für die Produktion der Sendung angeheuert, und die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) bescheinige dem Format eine "positive pädagogische Absicht", so die Rheinische Post.

Der von RTL möglicherweise eingeschlagene Weg der gezielten Skandalisierung ändert allerdings nichts am Anlaß der Empörung. Diese richtet sich nicht nur gegen die vermeintliche Traumatisierung von Kindern, die wildfremden Jugendlichen zum Ausprobieren eines Daseins als Eltern überlassen werden. Allein der Vorgang, Kleinkinder zum Objekt einer pseudopädagogischen Unterhaltungsshow zu machen, läßt sich als Ausdruck menschenfeindlicher Verobjektivierung bewerten. Was die medizinische Bioethik als fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten in der Regel untersagt, sollte im Bereich der Unterhaltung nicht ohne Widerspruch bleiben. Schließlich geht es bei RTL allein um Einschaltquoten, so daß auch die ethisch wertvollste Begründung und Begleitung nichts als ein Vorwand zur Gewinnmaximierung ist. Zu fragen wäre auch, inwiefern es für die an der Sendung beteiligten Ärzte und Erzieher überhaupt vertretbar ist, sich für die Legitimation eines solchen Spektakels herzugeben.

Allerdings sollten sich die konservativen Beschwerdeführer, die an diesen und anderen Reality-Shows einen generellen Werteverfall und kulturellen Niedergang beklagen, an die Nase ihrer eigenen marktkonformen Ideologie fassen. Die Unionsparteien waren Vorreiter der Kommerzialisierung des Fernsehens vor 25 Jahren. Ihre Absicht, dadurch die Hegemonie links angehauchter Programmgestalter in der ARD zu brechen, ist so gründlich in Erfüllung gegangen, daß selbst einige wertkonservative Politiker der stärkeren Ausrichtung an Bildungs- und Kulturinhalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der alten BRD eine heimliche Träne nachweinen. Es gehörte nicht viel dazu, vor der Einführung des Privatfernsehens das eins und eins kapitalistischer Produktionsverhältnisse zusammenzuzählen und die eingetretene Entwicklung, alles und jedes für Zwecke der Unterhaltung tendentiell trivialer bis reaktionärer Art zu verwerten, vorherzusagen. Der neoliberale Strukturwandel der Bundesrepublik war jedoch nicht ohne Abrichtung der Bevölkerung auf das Primat einer sozialdarwinistischen Vergesellschaftung zu haben, und voilà, das Ergebnis kann in Form der diversen telemedialen Sozialknäste und Menschenzoos bestaunt werden.

Nicht eben glaubwürdiger wird der Chor der Empörten durch die einseitige Verurteilung einer exponierten Sendung, mit der die kleinfamiliäre Zwangsexistenz durch die Unverbindlichkeit des Ausprobier-Konsumismus attraktiver gemacht werden soll. Wenn es etwas gibt, das Jugendliche davon abhält, ihren Pflichtbeitrag zur biologischen Reproduktion der Gesellschaft zu leisten, dann ist es das Armutsrisiko, das in der Bundesrepublik mit der Aufzucht von Kindern verbunden ist. Auch ist sehr die Frage, ob die Beteiligung an einer Reality-Show, die die Eltern der "ausgeliehenen" Kindern in der Chance auf einen Zuverdienst eingegangen sein mögen, destruktiver auf ihre Sprößlinge wirkt als die demütigenden Erfahrungen einer Armut, die eine ihrerseits zusehends sozialdarwinistisch agierende Jugend für die Außenseiter unter ihren Altersgenossen bereithält. Und wer fragt nach den traumatisierten Kindern in Afghanistan, im Irak, in Palästina, an deren Leid die Bundesrepublik nicht unbeteiligt ist?

Das den Zuschauer über die beim Warenkauf von ihm zu entrichtenden Kosten der Produktwerbung deutlich teurer als die gebührenfinanzierte Konkurrenz kommende "Free TV" ist nicht der Initiator des gesellschaftlichen Niedergangs, sondern ein kulturindustrielles Resultat des marktwirtschaftlichen Kapitalismus, den es legitimiert und moderiert. Wenn der Bildschirm zur Freakshow, zum Pranger und zum Kuriositätenkbinett menschlicher Schwächen und Obsessionen wird, dann handelt es sich um die paßförmige Entsprechung gesellschaftlicher Einschließungs- und Ausgrenzungsprozesse, die im Rahmen der Sozialkontrolle eine allerdings unverzichtbare Funktion erfüllen. Symptomatische Therapien wie Ausstrahlungsverbote führen lediglich dazu, daß das System der telemedialen Befriedung und Konditionierung auf antiemanzipatorische Weise perfektioniert wird.

20. Mai 2009