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KULTUR/0789: Bildung als Zwangsregime - Zehn Jahre Bologna-Prozeß (SB)



Den vor zehn Jahren von den führenden europäischen Bildungspolitikern initiierten Bologna-Prozeß als Zwangsregime zu charakterisieren, sollte nicht dem fundamentalen Trugschluß Vorschub leisten, es handle sich beim Bildungsprozeß jemals um etwas anderes als eine Zurichtung unter spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen. Wollte man diesbezüglich vom blinden Fleck der Bildungsdebatte sprechen, so müßte man dabei dem Umstand Rechnung tragen, daß es sich bekanntlich um das Phänomen handelt, die unvollständige Sicht durch ein kompensatorisches Manöver derart zu rekonstruieren, daß man das Manko dauerhaft aus dem Blick verliert. Hat man Bildung erst einmal positiv definiert, ohne der unhinterfragten Voraussetzungen dieses Begriffs gewahr zu werden, läuft man Gefahr, sich unter dem Banner eines "Rechts auf Bildung" einzufinden, das die Teilhabe an Aufstiegsprozessen im Konkurrenzkampf allzu leicht mit einem Aufbegehren gegen eben diese Verhältnisse verwechselt.

Unter Bildung im umfassendsten Sinn muß man heute einen lebenslangen Anpassungszwang vom Kindergarten bis zum rüstigen Rentenalter subsumieren, da die Bezichtigung, man sei nicht lernfähig oder lernwillig genug, um im Wettstreit der Notengebung zu obsiegen, die überlegene Qualifikation zu erwerben, sich erfolgreich zu bewerben und im Kollegenkreis durchzusetzen, nach Verlust des Arbeitsplatzes umzusatteln und zuallerletzt auch noch die Demenz durch täglichen Denksport zu bremsen, umfassender Natur geworden ist. Wie man Krankheit in zunehmendem Maße zur Folge falscher Lebensführung erklärt, die man dem Menschen anlastet, so beschuldigt man ihn gleichermaßen persönlicher Defizite in Bildung und Berufsausbildung, wenn seine Existenz durch Niedriglohn oder Erwerbslosigkeit ins Elend mündet. Bildung nimmt also den Charakter eines Phantoms oder wenn man so will eines Fetischs an, da sie vor allem im Zustand ihrer Abwesenheit oder Unzulänglichkeit bezichtigend ins Feld geführt wird, nicht jedoch in ihrem vorhandenen Umfang ein Auskommen sichern kann.

Grundsätzlich dient der Bildungsprozeß stets den beiden Zwingherrn, die unser Leben bis in den letzten Winkel auszupressen und zu reglementieren suchen. Das Regime kapitalistischer Verwertung der Arbeitskraft verlangt frei verfügbaren und geeigneten Nachschub an Menschenmaterial zum jeweils erforderlichen Dienst an der Maximierung des Profits. Zugleich entbindet es sich in größtmöglichem Maße von der Verantwortung für Bereitstellung und Erhalt der Arbeitskraft. Hier greift der Staat in seiner Eigenschaft als ideeller Gesamtkapitalist ein, indem er unter anderem für das erforderliche Bildungsniveau zu sorgen und die Wechselfälle des Verwertungsbedarfs auszusteuern versucht. In beider Interesse ist neben der Qualifikation der Arbeitskräfte nicht minder deren Bereitschaft, sich der Ausbeutung zu unterwerfen. Daher sind Bildungseinrichtungen stets auch Institutionen, die Werte und Normen vermitteln, ob sie nun mit dem Rohrstock eingeprügelt, durch Lesen, Schreiben und Rechnen eingebleut oder in der privilegierten Freisetzung von körperlich harter Arbeit wie süßes Gift eingeträufelt werden. Wer nie die Schulbank gedrückt hat, wird es auch an der Maschine oder dem Bildschirm kaum aushalten.

Was die Strategen des Bologna-Prozesses umtreibt, ist der Zwang, Europa im weltweiten Konkurrenzkampf um die schwindenden Ressourcen des Überlebens aufzurüsten, wozu es einerseits ein überlegenes ökonomisches Potential vorzuhalten und andererseits die Folgen rasanter Verelendung unter Kontrolle zu bringen gilt. Ihnen vorzuwerfen, sie hätten eine verfehlte Bildungspolitik auf den Weg gebracht, geht an der Sache vorbei: Womit man heute in Schule und Hochschule konfrontiert wird, ist die Durchsetzung dessen, was maßgebliche Akteure wie die deutsche Bertelsmannstiftung und deren Protagonisten für unumgänglich im Dienst der Herrschaftssicherung erachten. Daß dabei enorme Anpassungsprobleme auftreten, liegt auf der Hand, da nicht nur eingespielte Prozesse ausgehebelt, sondern geltende Standards und Errungenschaften auf breiter Front demontiert werden. Den Sand im Getriebe als Absicht des Konstrukteurs auszulegen, er habe ein schlecht funktionierendes Räderwerk geschaffen, weil ihm eine wie geschmiert laufende Maschinerie ein Dorn im Auge ist, driftet ins Fahrwasser absurder Postulate ab und führt zu verhängnisvollen Fehleinschätzungen.

Ob man Finanzspekulanten vorwirft, sie hätten den Kapitalismus an die Wand gefahren und daher dessen Systemkrise zu verantworten, oder den Administratoren des Bologna-Prozesses zur Last legt, sie ruinierten fahrlässig ein funktionierendes Bildungswesen, weil sie dieses für gefährlich hielten, trägt in der Kurzschlüssigkeit der Interpretation gleichermaßen der Beteiligung an den vorherrschenden Verhältnissen Rechnung, die man in verbesserter Version durchaus erhalten wissen möchte. Dabei soll die unbestreitbare Verengung und Verschärfung des letzten Jahrzehnts im Bildungsbereich mitnichten in Frage gestellt, verharmlost oder zur Nebensache erklärt werden. Ganz im Gegenteil könnte doch gerade die aktuelle bundesweite Streikwoche der Schüler und Studierenden zum Anlaß genommen werden, den Bologna-Prozeß nicht als Abirren vom rechten Weg des Bildungssystems, sondern vielmehr als dessen innovative Zuspitzung zu analysieren.

16. Juni 2009