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KULTUR/0804: Zimmermanns Reality-TV ... staatspädagogisch wertvolle Wirklichkeitsproduktion (SB)



In der Rückschau auf den Begründer des TV-Formats "Aktenzeichen XY ... ungelöst" geben sich die Feuilletons, dem Anlaß seines Ablebens gemäß, betont wohlwollend. Man zelebriert die Nostalgie der guten alten Fernsehwelt, als man noch gemeinsam mit einem Gutteil der Nation im Wohnzimmer auf Verbrecherjagd gehen konnte, und lobt Eduard Zimmermann als Begründer des Reality-TV. Die telemediale Inszenierung der Strafverfolgung sei ganz den Opfern der Kriminellen gewidmet gewesen, heißt es in Verteidigung der immer noch ausgestrahlten ZDF-Sendung, und einst sich an dem Spektakel entzündende Kritik wird, wenn überhaupt, als längst überkommene Engstirnigkeit der damaligen BRD-Linken für irrelevant erklärt.

Tatsächlich erfreute sich Zimmermann mit seinem nüchternen Auftreten, seiner korrekten Facon und der perfekten Moral des gesetzestreuen Bürgers so großer Beliebtheit unter Bundesbürgern, denen keine Sicherheitmaßnahme weitreichend genug sein konnte, um das Böse in Schach zu halten, wie er unter Kritikern staatlicher Repression als Symbol einer selbstgerechten besitzbürgerlichen Herrschaftsmoral galt. Der an die Bevölkerung gerichtete Appell, die Augen offenzuhalten und ungewöhnliche Ereignisse sofort den Behörden respektive der Sendezentrale zu melden, war von der Aufforderung, sich der herrschenden Ordnung kritiklos zu unterwerfen, nicht zu unterscheiden. Die freitägliche Verbrecherhatz diente sich so offensichtlich populistischen Law and Order-Motiven an und genügte so unverhohlen der Blockwartmentalität der nachbarschaftlichen Zwangsgemeinschaft, daß der regelmäßige Konsum dieser Sendung dem Ausweis der Zugehörigkeit zur moralisch besseren Mehrheit gleichkam.

Was in der Rückschau antiquiert wirkt, war in der Tat ein Innovationssprung der Rekrutierung der Zuschauer für staatspädagogisch wertvolle Zwecke. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wurde in diesem Reality-Format nicht abgebildet, sie wurde auf den Leisten einer bürgerlichen Wohlanständigkeit zugeschnitten, die als klares soziales Selektionskriterium fungierte. Schuld lädt nur auf sich, wer gegen die Regeln eines Systems der Eigentumssicherung und des Gewaltverbots verstößt, das eigens dafür geschaffen wurde, Ausbeutung und Unterdrückung im legalen Gewand auf Massenbasis zu praktizieren. Daß sich diese Sicht zu Zeiten des Klassenkompromisses keiner Mehrheit erfreute, weil es den Lohnabhängigen in der BRD vergleichsweise gut ging, ändert nichts am apologetischen Charakter eines Amüsements, das Wirklichkeit produziert, um reale gesellschaftliche Widersprüche vergessen zu machen.

Die Ausweitung des Reality-TV zum telemedialen Soziallabor, zum öffentlichen Pranger und zur habituellen Normenkontrolle ist keine Degeneration der Zimmermannschen Verbrecherjagd, sondern deren logische Weiterentwicklung. Entscheidend für die Hypertrophierung der Angst vor Kriminalität zur Projektionsfläche ganz anders verorteter Probleme ist die an den Zuschauer gerichtete Versicherung, sich auf der richtigen Seite des Geschehens zu befinden. Wo das Böse mit Unterstützung der Volksgemeinschaft gejagt, wo der Verdacht anhand spezifischer physiognomischer Merkmale und Verhaltensabweichungen generalisiert wird, da wird der Bürger nicht instruiert, sondern indoktriniert.

Als Beobachter zugleich unerreichbar und beteiligt wird die Ohnmacht, an dem bezeugten sozialen Elend ebensowenig ändern zu können wie an der eigenen desolaten Lage, in die Erleichterung umgemünzt, nicht wie die Objekte dieser Lustbarkeit durch den Fleischwolf der Stigmatisierung gedreht zu werden. Lediglich vom kleineren Übel eigener Verzichtbarkeit betroffen gelangt der Mensch zur Einsicht, daß es sich nicht lohnt, aufzubegehren und dabei absehbar auf die schiefe Bahn zu geraten. Der zur TV-Fahndung ausgeschriebene und irgendwo da draußen vor dem Zugriff der Polizei fliehende Delinquent bereitet ein gutes Ruhekissen, auf dem sich der Schlaf der Gerechten schlafen läßt, der nicht nur im Falle Zimmermanns ewig währen kann.

21. September 2009