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KULTUR/0825: Wieder gesellschaftsfähig? "Obdachlosenchic" für Sozialvampire (SB)



Ein Laufsteg, gepflastert mit alten Pappen, Models, die einem Karton entsteigen, als hätten sie in ihm genächtigt, die einen Einkaufswagen vor sich herschieben oder eine eingerollte Bettdecke mit sich herumschleppen. Die wild zusammengewürfelte, sich in mehreren Schichten überlappende Kleidung vermittelt den Eindruck, unter rauhen Bedingungen abgetragen zu sein, die Haare weisen weiße Strähnen auf, als sei die kalte Luft auf ihnen zu Eis kondensiert. All das ist sorgfältig und aufwendig inszeniert, befindet man sich doch nicht in einer zugigen, von Müll, Urinlachen und gebrauchten Fixerbestecken verunreinigten Unterführung unter einer Bahnlinie, in der wohnungslose Männer vor dem Unbill des Winters Schutz suchen, sondern in einem Showroom der Mailänder Modewoche.

Dort präsentierte die britische Modeschöpferin Vivienne Westwood Mitte Januar ihre neue Kollektion. Man sieht den im Habitus gescheiterter Existenzen eher schlurfenden denn schreitenden Exponaten an, daß die Inszenierung von Armut recht teuer sein kann, wenn das authentische Moment einer aus dem Übriggebliebenen zusammengestellten Garderobe gerade nicht den Eindruck erwecken soll, Ergebnis notgedrungener Improvisation zu sein. So wie Jeans die Patina harter Arbeit aufgetragen wird, indem man das Denim vor dem Verkauf künstlich abnutzt, so wird der Look des Elends erst vorzeigbar, wenn der Betrachter durch die Widerlegung des ersten Eindrucks eines Besseren belehrt wird. Teures Material in raffinierten Entwürfen wird von jungen Männern vorgeführt, die mit jeder Faser ihres lässig-mißmutigen Auftretens demonstrieren, daß sie sich nur verkleidet haben. Die dargestellte Nähe zu sozialer Delinquenz zeichnet sich durch die denkbar größte Entfernung zu ihr aus, wer das nicht begreift, hat sich als Ignorant disqualifiziert.

"Obdachlosenchic" haben die Medien die spektakuläre Inszenierung jenes Elends getauft, das das Publikum von Modeshows normalerweise nur durch die Fensterscheiben ihrer Limousinen wahrnimmt, wenn sie in schnellem Tempo die Abbruchzonen postindustrieller Metropole durchqueren. Dort, wo Menschen, die nicht tiefer fallen können als zu einem Leben auf der Straße verdammt zu sein, ein bitteres Dasein fristen, steigt man nicht aus, sondern ist froh darüber, daß man das Dämonium der sozialen Katastrophe wie in einem nach außen gekehrten Aquarium aus sicherer Entfernung beobachten kann.

Westwood hat einige Erfahrung darin, soziale Phänomen für die Bekleidungsindustrie verwertbar zu machen. In den siebziger Jahren machte sie mit der modischen Aufbereitung des Punk Furore und ließ den Versuch britischer Jugendlicher, der Vereinnahmung ihres rebellischen Aufbegehrens durch das Popbusiness mit provokanten Formen der Selbstinzenierung zu entkommen, schneller in den Auslagen der Boutiquen enden, als daß er sich zu einer gesellschaftlichen Gegenkraft hätte ausbilden können. Während die Punker in den Nischen subproletarischer Armutsexistenz ein karges Dasein fristeten, zog die Karawane der Fashion Addicts weiter und fand sich konsequenterweise im gehobenen Lebensstil der neuen Yuppie-Bourgeoisie ein.

Nun hat sich die 68jährige Modedesignerin mit ihrem Spürsinn für die verwertungsträchtige Assimilation marginalisierter Lebensformen auf die Fersen von Obdachlosen geheftet. Soziales Elend in seiner ästhetischen Überhöhung wird als dernier cri einer Modeindustrie inszeniert, die in der Krise eher konservativ denkt, da sie nicht weniger als andere Wirtschaftsbereiche vor dem Problem steht, für ihre Designerkleidung immer weniger zahlungskräftige Kundschaft zu finden. Sich an den Härten eines Elends zu erwärmen, von dem man verschont geblieben ist und das man als Quell des Lebensgenusses dennoch nicht missen möchte, folgt der Logik des Slummings, des touristischen Begaffens der Elendsviertel südlicher Megacities, auf den Fuß. So nahm Westwood den begeisterten Applaus des Mailänder Publikums stilgerecht auf einer Trage für Notfallopfer entgegen, auf der sie zum Ende der Präsentation ihrer Mode für Menschen, die niemals arm waren, es aber nicht versäumen möchten, auch aus der morbiden Blüte existentiellen Elends Honig zu saugen, über den Laufsteg geschoben wurde.

Was in einigen Kommentaren als sozialkritisches Engagement einer Modeschöpferin ausgewiesen wurde, die bereits häufiger durch ihr Eintreten für Bürger- und Menschenrechte, gegen Atomwaffen und Klimawandel von sich reden gemacht hat, dient sich ganz und gar jenem sozialrassistischen Vampirismus an, dem die Entbehrlichkeit armer und ausgegrenzter Menschen schon immer einen reich gedeckten Tisch beschert hat. Die britische Klassengesellschaft verfügt über einen großen Schatz an Berichten und Geschichten, in denen die Ausbeutung des namenlosen Lumpenproletariats durch Leichenräuber, Lustmörder und Sklavenhändler Zeugnis einer Blutsaugerei ablegen, die mit dem kapitalistischen Akkumulationsregime zwar keinen Einzug gehalten, aber etwa in Form von Arbeitshäusern moderne Formen sozialtechnokratischer Organisation angenommen hat.

Wenn es in der Presseerklärung zur Mailänder Show heißt, daß die "merkwürdigsten Helden dieser Saison" jener "Inspiration Vivienne Westwoods" geschuldet seien, die sie im "vagabundierenden Herumtreiber gefunden hat, dessen tägliches Aufstehen in einem Kampfanzug für die harschen Wetterbedingungen beginnt", dann wird eine soziale Notlage auf eine Weise romantisiert, die im Fünfziger-Jahre-Schlager "Der lachende Vagabund" vor dem Hintergrund anwachsenden Wohlstands weit harmloser als in Gestalt einer Lifestyleattraktion für diejenigen, deren Sattheit nur noch durch abwegige Genüsse zu stimulieren ist, daherkam. Wenn die berühmte Modedesignerin erklärt, keine eigenen Erfahrungen mit Obdachlosigkeit gemacht zu haben, sondern als schlimmstes der Gefühle damit konfrontiert gewesen zu sein, nach dem Verlust des Hausschlüssel vor verschlossener Tür zu stehen, um die Frage aufzuwerfen, was wohl sei, wenn dieses Haus plötzlich nicht mehr da wäre, dann verrät dieser lahme Versuch, Empathie für Obdachlose zu herzustellen, nichts als die instinktive Abwehr derjenigen, die der Herde geschwächt hinterherhinken und den Beutejägern als erstes zum Fraß vorgeworfen werden.

Auch wenn die Shows der Modedesigner mehr mit Markenwerbung als konkreten Kaufempfehlungen zu tun haben, ist die von ihnen ausgehende Botschaft signifikant für den jeweiligen Zeitgeist. Die Ästhetisierung und Kommerzialisierung des Elends ist ein bezeichnendes Produkt bürgerlicher Dekadenz, die das lustvolle Abfeiern des Niedergangs stets unter dem Vorbehalt betreibt, über einen sicheren Klassenstatus zu verfügen und selbst von ihm verschont zu bleiben. Wenn Menschen, die auf der Straße leben, in Pappkartons schlafen, ihre Nahrung im Müll suchen, sich nur unzureichend waschen können, von chronischen Krankheiten zerfressen werden und in jeder Hinsicht den Gegenentwurf zum wohlgepflegten und durchgestylten Model darstellen, zum Objekt hedonistischen Interesses werden, dann muß der Bedarf, das Vordringen der Armut in arrivierte Kreise systemkonform zu kompensieren, erheblich sein. Werbekampagnen und Marketingstrategien, die wie etwa die umstrittenen Benetton-Plakate der neunziger Jahre einen Kontrapunkt zum konsumistischen Mainstream setzen, sind nur in einem Sinn avantgardistisch - sie versuchen das Entstehen gesellschaftlicher Gegenbewegungen zu verhindern, indem sie den Anlaß des Protestes zu einem konsumierbaren Spektakel überhöhen und damit seiner antagonistischen Sprengkraft berauben.

Die hochgradige Adaptionsfähigkeit kulturindustrieller Produktivität dient der Umsatzsteigerung nur im zweiten Rang. Wie die mit selbstzerstörerischen Folgen einhergehende Verallgemeinerung körperlicher Idealformen zeigt, greift sie tief in die physische Substanz des Menschen und formt sie nach dem Bild seiner optimalen Verfügbarkeit. Indem sie den Menschen zum Verbraucher und seinen Konsum zur unabdinglichen Voraussetzung systemischer Bestandssicherung erklärt, stellt sie ihn unter den Imperativ eines fremden Nutzens, den als eigenes Interesse zu empfinden die besondere Leistung der systematischen Negation humanistischer Werte und solidarischer Praktiken ausmacht. In der Zurichtung dessen, was sich seiner Verwertbarkeit entgegenstellt, zur wohlschmeckenden und gutverdaulichen Ware feiert die Effizienz kapitalistischer Herrschaftsicherung, wie etwa die Eignung Che Guevaras zum verkaufsträchtigen Symbol der Produktwerbung oder die Kombination des Namens Meinhof mit der Modemarke Prada belegen, ihren größten Triumph.

1. Februar 2010