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KULTUR/0848: Mit "Party-Patriotismus" in den neofeudalen Ständestaat ... (SB)



Die positive Bilanzierung des "Party-Patriotismus" der Fußball-WM ignoriert keineswegs mehr spielerische, sondern erniedrigende bis gewalttätige Ausfälle gegen Menschen aus Ländern, die auf dem Spielfeld gegen die deutsche Nationalmannschaft antraten. Als habe man noch nie von den destruktiven Auswirkungen symbolpolitischer Massenmobilisierung gehört, wird der inhärente Zwang zur Anpassung ins Positive einer Einigkeit gewendet, die ohne das notwendig andere keinen Bestand hätte, so daß dessen Qualifikation zum Fremden und Feindlichen auf der Bahn jeder Entwicklung liegt, bei der es nicht um Spiele, sondern Brot geht. Die Urheber begeisterter Kommentare zur neuen Normalität des deutschen Nationalbewußtseins unterschlagen die Frage, was die Funktionseliten in Politik und Medien dazu treibt, auf der Woge der nationalen Emphase zu reiten, anstatt sie kritisch zu reflektieren, weil sie dieses Potential auch in Fällen zu nutzen beabsichtigen, in denen das Spiel zu blutigem Ernst wird.

Derartige Einwände werden rundheraus sauertöpfischen Spaßverderbern einer überkommenen Generation von Bedenkenträgern zugeordnet, die noch nicht gemerkt hat, wie förderlich das entspannte Verhältnis zur eigenen Nation sein kann. Gemeint ist der Übertrag auf politische Handlungsanweisungen, denen das Verhalten der Nationalmannschaft beispielhaft für die Tugend gemeinsamen Strebens nach Bewältigung ökonomischer und sozialer Probleme sei. Den absichtsvollen Trugschluß, das synthetische, in ein festes Regelwerk eingebundene Geschehen auf dem grünen Rasen auf gesellschaftliche Widerspruchslagen von erheblicher Sprengkraft zu übertragen, will man sich nicht nehmen lassen.

Eingebunden in ein Korsett angeblicher Sachzwänge nutzt die politische und kulturindustrielle Elite das Nationale, um vergessen zu machen, daß dem Klassencharakter kapitalistischer Vergesellschaftung keineswegs die Möglichkeit einer anderen, nicht in erster Linie ökonomisch determinierten Lebensweise abgerungen werden soll. In dem Maße, in dem die Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung, obschon Ergebnis politischer Willensbildung, absolut gesetzt werden, wird demokratische Selbstbestimmung durch die Affirmation der herrschenden Verhältnisse relativiert. Die Zugehörigkeit zur Nation soll dafür entschädigen, daß der einzelne Bürger auf höchst unterschiedliche Weise für das Produkt seiner Arbeit entlohnt oder den Erhalt staatlicher Transferleistungen in die Pflicht genommen wird.

Der häufig heranzitierte Nationalstolz soll als Substitut für das Austragen des zentralen sozialen Konflikts fungieren. Das gilt auch und erst recht für seine modernisierte, vom Gift des Rassenhasses befreite Version. Der gerne hervorgehobene multikulturelle Charakter der Nationalelf wird als Belegt einer Toleranz präsentiert, deren legitimatorische Funktion im Gegenteil dessen gründet, was sie erreicht zu haben vorgibt. Die Überwindung des Rassismus schreibt den Klassismus fort, um in der praktischen Mißachtung des Anspruchs von Migranten und Asylanten auf Gleichbehandlung und einer ethnisch-religiös konnotierten Kriegführung in eins zu fallen. Erfolgreich integrierte Fußballprofis sind vom Stigma des Unproduktiven, das notleidenden Menschen, die in der Bundesrepublik Schutz suchen, angelastet wird, befreit, weil sie den Nationalmythos deutscher Tüchtigkeit unter Beweis gestellt haben. Wie im Falle der USA, wo der multikulturelle Charakter des ethnisch-religiösen "Schmelztiegels" zur Legitimation globaler Führerschaft und Kriegführung herangezogen wird, wird der emanzipatorische Anspruch adaptiert, um im Endeffekt kulturalistische Ressentiments wie im Falle des Terrorkriegs oder angeblich unproduktiver "Wirtschaftsflüchtlinge" aus den Ländern des Südens zu schüren.

Das Angebot, sich dem größeren Ganzen der Nation zu überantworten, läuft angesichts systemisch erforderlicher sozialer Widerspruchslagen auf den Lohn der Bescheidenheit hinaus, sich in die hierarchische Ordnung des neofeudalen Ständestaats zu fügen und das Versprechen der Zugehörigkeit zum vermeintlich eigenen Vorteil gegen alle zu wenden, denen es nicht gegeben wurde. Versprechen sind so haltlos und suggestiv wie das Fantasma der Nation, ihre Wirksamkeit ist an die Bereitschaft geknüpft, nicht an ihnen zu rühren. Die Weigerung der Meinungsführer, diesen Sachverhalt zu reflektieren, beschreibt ihren Platz im Herrschaftsgefüge adäquat. Eine auf die Glorifizierung der Nation, und sei es im zivilgesellschaftlich entschärften Gewand des "Party-Patriotismus", ausgerichtete Kulturproduktion ist mit Blindheit in allen Fragen geschlagen, die die Menschen erst zu dem Wagnis ermutigten, über sich hinauszuwachsen.

12. Juli 2010