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KULTUR/0854: Wer war schuld am Love Parade Desaster? Sündenbock gesucht (SB)



Nachdem ruchbar geworden ist, daß auch die frühere Landesregierung Nordrhein-Westfalens unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers erheblichen Druck auf die Duisburger Stadtverwaltung ausgeübt hat, um die Love Parade in dieser Stadt durchzusetzen, und daß der Veranstalter Rainer Schaller mit anwaltlichen Mahnungen für die reibungslose Erteilung der erforderlichen Genehmigungen sorgte, erweist sich der als Hauptschuldige ausgemachte Oberbürgermeister der Stadt als lediglich eines von mehreren Rädchen des administrativen Getriebes, mit dem politische Interessen gesellschaftlich umgesetzt werden.

Die gegen Adolf Sauerland losgetretene Kampagne ist bei aller Berechtigung, dem CDU-Politiker mangelnde Einsicht in seine Verantwortung für das Zustandekommen der Massenpanik mit 21 Toten und über 500 Verletzten vorzuhalten, Ausdruck der Notwendigkeit, einen Sündenbock zu produzieren, um den gesamtgesellschaftlichen Mißstand, der nicht nur in diesem Fall Katastrophen erzeugt, vergessen zu machen. Indem seit zwei Wochen auf diesen einen Politiker auf eine Weise mit dem Finger gezeigt wird, die jedem halbwegs rational denkenden Menschen als Massenhysterie eigener Art erscheinen muß, wird das Elend einer bürgerlichen Existenz unterschlagen, ohne das die Attraktivität derartiger Massenereignisse und die sie immer wieder heimsuchenden Katastrophen nicht gegeben wären.

Die Rede ist von der alltäglich erlebten Ohnmacht, die Verhältnisse nicht so beeinflussen zu können, wie man es gerne möchte, sondern sich ihnen fügen zu müssen. Das in der Masse angestrebte Erlebnis befristeter Omnipotenz scheint diese Ohnmacht zu überwinden, indem man sich ihr in besonderer Weise hingibt. Wer sich von der Menschenmenge tragen läßt, indem er in gemeinsam erlebter Emphase aufgeht und die Körperlichkeit des Tanzens in der Masse genießt, überantwortet sich einer Instanz, auf die er ebensowenig Zugriff hat wie auf die Gesellschaftsmaschine. Im Unterschied zu diesem vor allem ökonomisch determinierten Verhältnis, das desto mehr als fremdnützige Intervention erlebt wird, desto tiefer der Mensch in der sozialen Hackordnung fällt, handelt es sich beim Rave oder anderen freiwillig besuchten Massenereignissen wie Sportspektakeln oder Großdemonstrationen um Identität stiftende Formen gemeinsamer Affirmation.

Wo politischer Protest aufgrund seines antagonistischen Charakters die als fremdbestimmt und überwältigend erlebten Verhältnisse in Frage stellt und angreift, da ergeht sich der kulturindustrielle Massenkonsum in bloßer Affirmation dessen, was genußvoll erlebt wird. Gesellschaftliche und soziale Konflikte wirken dabei nur als Störung, und an die Entwicklung solidarischer Kampfkraft für die Interessen von Schwächeren ist in der Unvergleichlichkeit des einzelnen, der sich im Mittelpunkt des Universums wähnt, ohne daß ihm die Austauschbarkeit dieser Disposition auffiele, schon gar nicht zu denken. Wird dem Unterhaltungsinteresse selbstgenügsamer Erlebnismonaden Rechnung getragen, dann verläuft das Ereignis ganz im Sinne einer Gesellschaft, deren Politiker Bedeutsamkeit über kulturelle Kompetenzen erwirtschaften, weil sie damit am besten darüber hinwegtäuschen können, wie wenig Einfluß sie wirklich genießen, und deren Bevölkerung nicht zur Besinnung ihres Potentials als nicht nur nomineller Souverän, sondern reales Subjekt gesellschaftlicher Macht gelangen soll.

Bei der Duisburger Love Parade hat sich die Masse zum autonom agierenden Ganzen ermächtigt, das über seine Teile so total verfügte, wie diese nicht wahrhaben wollten. Die organisatorischen Mängel, die zu dieser Situation geführt haben, waren vor allem Ergebnis des politischen Willens, die Veranstaltung unbedingt durchzuführen. Als Wundpflaster für die Mängel und Nöte einer Jugend, die nur noch bedingt gebraucht wird und die nicht in der Lage ist, als gesellschaftliches Subjekt unabhängig von ihrer Verwertbarkeit in Erscheinung zu treten, sowie als Pluspunkt für den Standort Duisburg und NRW wurde die Love Parade gebraucht. Dafür einen einzigen Politiker vorzuverurteilen, schreibt den irreführenden Charakter dieser kulturindustriellen Fassade fort und beweist, daß sich das Bürgertum lieber kannibalisiert, anstatt die Voraussetzungen seiner Vergesellschaftung kritisch zu überprüfen.

8. August 2010