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KULTUR/0944: In wessen Herz lebt Víctor Jara? (SB)




Wollte man alle Mörder Víctor Jaras zur Rechenschaft ziehen, reichte keine Anklagebank der Welt dafür aus. Da waren die Soldaten, die ihn im Stadion von Santiago folterten und töteten. Um so mehr ihre vorgesetzten Offiziere, die dort 5.000 Gefangene zusammengetrieben hatten. Die Militärs um General Augusto Pinochet, die am 11. September 1973 den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt und eine Militärdiktatur errichtet hatten, der zwischen 1973 und 1990 mehr als 3.000 Menschen unmittelbar zum Opfer fielen. Nicht zu vergessen die Eliten des Landes, die das System kapitalistischer Ausbeutung mit der eisernen Faust der Junta sicherten und perfektionierten. Nicht minder politische Führung und Geheimdienste der Vereinigten Staaten, die bei der gewaltsamen Beseitigung der Regierung Allende, der Unidad Popular und aller Ansätze einer Gesellschaftsveränderung in Chile Regie geführt hatten und unmittelbar daran beteiligt waren. Zu nennen sind auch all jene US-amerikanischen Konzerne, die weiterhin satte Profite mit ihren chilenischen Geschäften machen konnten, die Rüstungsschmieden, welche die Diktatoren mit modernen Waffen belieferten, die Banken und internationalen Finanzinstitutionen, die den lateinamerikanischen Regimes mit großzügigen Krediten den Lebenssaft spendeten und die betroffenen Länder tief in die Verschuldung trieben. Auch europäische Regierungen und Unternehmen hatten ihre Hände im Spiel, wenn es galt, stabile Verhältnisse der Unterdrückung und Ausplünderung herbeizuführen.

Die Deutschen haben die historische Ausflucht, sie hätten von nichts gewußt, natürlich nicht für sich gepachtet. Der Kreis der Täter, Mitwisser, Wegschauer ist so riesig groß, daß man fast eine ganze Generation an den Pranger stellen müßte. Wer aber wollte reinen Gewissens den ersten Stein werfen, ist doch die Herrschaft seither allenfalls komplizierter, doch gewiß nicht weniger grausam und folgenschwer geworden! Das entlastet die Täter mitnichten, zieht aber die verhängnisvolle Beteiligung unendlich Vieler in Betracht, ohne die Herrschaftsausübung unmöglich wäre. Juristisch läßt sich diese Widerspruchslage keinesfalls lösen, sind doch Sicherheitskräfte, Justiz und Strafvollzug dem staatlichen oder überstaatlichen Gewaltmonopol verpflichtet, das allein ihre Existenz und Wirksamkeit gewährleistet. Daher steht zu befürchten, daß jede legitime Form der Vergangenheitsbewältigung zuallererst der Konsolidierung fortgeschriebener Herrschaftsverhältnisse in neuem Gewand dient.

Mehr als 39 Jahre nach der Ermordung Víctor Jaras und über 22 Jahre nach Ende der Pinochet-Diktatur geht die chilenische Justiz endlich daran, den Fall aufzuarbeiten, wie es heißt. Richter Miguel Vázquez vom Berufungsgericht in Santiago hat acht Haftbefehle gegen tatverdächtige ehemalige Militärs erlassen. Als Haupttäter werden Hugo Sánchez Marmonti und Pedro Barrientos Núñez gesucht, wobei gegen letzteren ein internationaler Haftbefehl ergangen ist, da er sich in den USA aufhalten soll. Die sechs anderen früheren Soldaten müssen sich nach dem Willen der Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zum Mord verantworten. [1] Der Anwalt von Jaras Angehörigen, Nelson Caucoto, zeigte sich "zufrieden" mit der Gerichtsentscheidung.

Damals kannte jeder Víctor Jara. Er gehörte Anfang der 1970er Jahre zu den populärsten Künstlern Chiles, war Mitglied der Kommunistischen Partei und einer der prominentesten Unterstützer der Volksfrontregierung Allendes. Jara zählte zu den bedeutendsten Vertretern der "Nueva Canción" (Neues Lied) in Südamerika, einer revolutionären Bewegung, der viele Künstler und Gelehrte angehörten. Er wurde als einer der herausragendsten politischen Sänger Lateinamerikas verehrt, und sein Tod markierte weithin den Beginn der Pinochet-Diktatur in Chile. Der Musiker, der auch Schauspieler, Theaterregisseur und Tänzer war, wurde einen Tag nach dem Putsch in der Technischen Universität von Santiago festgenommen, wo er als Dozent arbeitete. Zusammen mit 5.000 anderen Gefangenen internierte man ihn im Stadion von Santiago. Dort entstand sein letztes Gedicht, das meist nach der Anfangszeile "Somos cinco mil" (Wir sind fünftausend) benannt wird. Er wurde geschlagen und gefoltert, man zerquetschte seine Hände mit Gewehrkolben und Stiefeltritten, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte. Wenige Tage später erhob er kurz vor seinem 41. Geburtstag ein letztes Mal seine Stimme, um das Lied der Unidad Popular "Venceremos" (Wir werden siegen) anzustimmen. Daraufhin wurde er zusammengeschlagen und schließlich getötet. Laut den Ermittlungen der Justiz hatte man Jara am 16. September 1973 mit "mindestens 44 Kugeln" erschossen.

Mit seiner britischen Frau, der Choreografin Joan Turner, die ihn 1973 nahezu heimlich begraben mußte, hatte er zwei Töchter. Sie verließ bald danach Chile. Ausländische Journalisten halfen ihr, versteckte Aufnahmen ihres Mannes nach Europa zu schmuggeln. Ende der 1980er Jahre kehrte sie nach Chile zurück, wo sie 1994 die Victor-Jara-Stiftung gründete. Im September 2003, zum 30. Jahrestag seiner Ermordung, wurde das Estadio Chile, das von der Junta in ein Folterlager verwandelt worden war, offiziell in Estadio Víctor Jara umbenannt. Sein Leichnam wurde im Juni 2009 exhumiert, um die genauen Umstände seines Todes zu untersuchen. Sechs Monate später wurden seine Gebeine in einem feierlichen Akt in Anwesenheit der damaligen Präsidentin Michelle Bachelet in Santiago feierlich beigesetzt. Die würdevolle Bestattung war der Höhepunkt eines dreitägigen Gedenkens an Jara. Rund 3000 Menschen begleiteten den Sarg in einem Trauermarsch durch die Hauptstadt zum Zentralfriedhof. Viele trugen Nelken, rote Fahnen und Bilder des Sängers und riefen "Víctor lebt im Herzen seines Volkes".

Ob dem so ist, läßt sich nicht auf dem Wege der Wahrheitsfindung klären. Wen aber berührt, was ihn bewegt hat, wer dafür einsteht, wofür er eingetreten ist, wer denselben Kampf führt wie er, der mag wohl zu dem Schluß kommen, daß Víctor Jara nicht gestorben ist.

Fußnote:

[1] http://www.dw.de/haftbefehle-wegen-mordes-an-victor-jara/a-16486789

29. Dezember 2012