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KULTUR/0975: Selbstkritik Fehlanzeige (SB)




Eine Woche nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es auch dieses Mal gelungen ist, die Ursachenforschung in den Dienst von Interessen zu stellen, die nichts mit einem wie auch immer gearteten emanzipatorischen Anspruch zu tun haben. Indem im medialen Diskurs vor allem die Frage danach aufgeworfen wird, inwiefern der Islam für die Radikalisierung junger Muslime verantwortlich zeichnet, wird eine kulturalistische Polarisierung betrieben, in der die sozialen und politischen Ursachen gewaltsamer Eskalation fast völlig untergehen. Anstatt, wie es auch den ermordeten Satirikern zugeschrieben wird, den doktrinären Charakter jeglicher Religiosität anzugreifen und die Instrumentalisierung von Glaubensfragen zur Verschleierung sozialer Konflikte und politischer Ambitionen zu kritisieren, wird der Kampf der Kulturen reinszeniert. Im Ergebnis wird "den Muslimen" die Bringschuld tätiger Distanzierung aufgelastet und das Abarbeiten eines Pflichtenkatalogs gesellschaftlicher Integration und nachholender Säkularisierung auferlegt, dem eine zivilisatorische Suprematie zugrunde liegt, die ihrerseits Züge eines irrationalen Glaubenspostulats aufweist.

Der eklatante Mangel an Selbstkritik in den Reflexionen auf den Anschlag von Paris ist kaum anders zu erklären als durch die Zementierung einer Frontstellung, die aufzugeben an den Grundfesten westlichen Hegemonialstrebens rüttelte. So haben nicht nur in Frankreich lebende Menschen Grund, sich im Kriegszustand zu wähnen. Die seit Jahrzehnten in mehrheitlich muslimischen Ländern geführten Kriege finden fast alle unter mittelbarer oder unmittelbarer Beteiligung westeuropäischer und nordamerikanischer Regierungen statt. Sie stehen in der Kontinuität eines europäischen Kolonialismus, der durch einen von den USA dominierten Imperialismus abgelöst wurde, ohne daß sich an der grundsätzlichen Subordination der islamischen Welt unter die Imperative fremder Interessen viel geändert hätte. Zwischenzeitliche Versuche der gesellschaftlichen Modernisierung von Pakistan und Iran über den Irak und Syrien bis Ägypten und Libyen scheiterten nicht zuletzt am Sieg der kapitalistischen Staatenwelt über den Realsozialismus. Diese Zäsur betraf auch die säkularen Regimes, die aus der Epoche der Dekolonialisierung hervorgegangen waren und den Kalten Krieg in der Blockfreienbewegung oder durch wechselnde Bündnisse mit den Großmächten zu ihrem Vorteil genutzt hatten.

Der politische Islam ist aus den Trümmern dieser gescheiterten Modernisierung in der ganzen Widersprüchlichkeit eines Spaltproduktes hervorgegangen, das die unterdrückten Sozialkämpfe niemals überwundener Feudalverhältnisse mit dem Mittel der Religion beherrschbar zu machen und die Schwäche der Kolonialsubjekte durch die Stiftung eigener Identität in Stärke zu verwandeln trachtet. Sich auf die Suche danach zu begeben, ob im Koran nicht doch die Gebrauchsanweisung für die terroristische Beherrschung der Welt enthalten ist, verkennt den historischen Zusammenhang eines Konflikts, an dem in jedem Fall zwei Seiten beteiligt sind, der aber vor allem zu Lasten in ihrer eigenständigen Entwicklung behinderter Gesellschaften ausgetragen wird. Ignoriert wird auch die christliche Fundierung eines Werteuniversalismus, an dem seine Adressaten bestenfalls genesen könnten, wenn er nicht als legitimatorisches Vehikel ihrer strategischen Unterwerfung daherkäme.

Wo der Anschlag von Paris zum Angriff auf "unsere Freiheit" hypertrophiert wird, muß das millionenfache Leid dieser vom permanenten Kriegszustand betroffenen Bevölkerungen auf eine kaum wahrnehmbare Fußnote des alltäglichen Medienspektakels schrumpfen. Niemand erwartet, daß in der EU Hunderttausende zu Solidaritätsbekundungen auf die Straße gehen, wenn wieder einmal eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan bombardiert, eine Familie in Pakistan durch Drohnenbeschuß umgebracht oder eine Stadt im Irak im Rahmen der Terrorismusbekämpfung dem Erdboden gleichgemacht wird. Diese Katastrophen in anderen Teilen der Welt treten jedoch um so mehr als Leerstelle in der Wahrnehmung von Bevölkerungen, deren Regierung am Zustandekommen dieser Zerstörungsakte beteiligt sind, hervor, wenn eine vergleichbare Gewalttat in einer europäischen Metropole als Großereignis kulturalistischer Selbstvergewisserung inszeniert wird. Der individuellen Positionierung gegen jeglichen Rassismus ist kaum damit gedient, in einen Staatsakt eingebunden zu werden, der am Zustandekommen rassistischer Demütigungen nichts ändert, weil er lediglich auf ein bestimmtes Ereignis fokussiert, Probleme wie die mörderische Flüchtlingsabwehr der EU oder die Diskriminierung der Roma jedoch ausblendet.

Nicht die Rechtfertigung einer Mordtat steht zur Debatte, wenn an die Mitverantwortung der in Paris gegen den Terrorismus demonstrierenden Staats- und Regierungschefs für einen Krieg erinnert wird, der als jäher Bruch mit dem vermeintlichen Frieden des gesellschaftlichen Normalbetriebs in Erscheinung tritt. Vielmehr ist danach zu fragen, inwiefern nicht dem Anspruch dieser Freiheiten zuwidergehandelt wird, wenn in ihrem Namen Aggression nach außen und Repression nach innen vollzogen werden. Die nun häufig heranzitierten Verwerfungen der französischen Gesellschaft werden auch deshalb ethnisch-religiös interpretiert, weil die in Frankreich wie der ganzen EU aufbrechenden sozialen Konflikte nicht als wesentlicher Faktor angeblich fundamentalistischem Wahn geschuldeter Gewalttaten kenntlich gemacht werden sollen.

Wenn die nun vollmundig beschworene Einheit der Nation nicht zu einer Befriedung dieser Konfliktlagen führt, was aufgrund der unbewältigten Krise des Kapitals bestenfalls vorübergehend gelingen dürfte, dann könnte sie in die Zustimmung zu einer Staatsgewalt münden, die mit um so größerer Legitimation neue Kriege nach außen und innen führt. Diese Gefahr in der emphatischen Aufwallung, die die politischen Stellungnahmen und journalistischen Kommentare seit Tagen bestimmt, zu übersehen, entspricht der Verkennung des aggressiven Charakters einer Moral, die nur Gut und Böse, Schuld und Unschuld kennt, weil sie die eigene Beteiligung am Scheitern des sozialen Friedens nicht aufdecken und beenden will.

13. Januar 2015


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