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KULTUR/1047: Coronavirus - Weckruf zur Aufmerksamkeit und Diskussion ... (SB)



Der Rassendiskurs und die rassistische Politik der Moderne [...] lassen sich als Beispiele für die allgemeine Beschäftigung der Moderne mit Hygiene verstehen, diesem realistischen Ersatz für den unrealistischen Traum, dem Tode entgehen zu können. Das Vokabular der Hygiene und die rhetorischen, den Rassendiskurs durchziehenden Figuren sind weder zufällig noch grundlos. Auch sind sie mehr als bloße Metaphern: der Rassendiskurs ist, wie alle anderen zahlreichen Diskurse der Differenzierung und Trennung, tatsächlich ein integraler Bestandteil des Hygienedenkens und der von der Hygiene bestimmten Verhaltensweisen der Moderne.
Zygmunt Bauman - Das Töten des Todes [1]

Die WHO klagt über eine "massive Infodemie" zur Ausbreitung des neuen Coronavirus. Darunter befänden sich auch irreführenden Informationen, die vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet würden. Doch auch Bild schürt die Angst vor dem "China-Virus", der Spiegel wartet mit einer in gelber Schrift gedruckten Schlagzeile "Corona-Virus: Made in China" auf, illustriert mit dem Bild eines asiatisch wirkenden Mannes mit Atemmaske und Seuchenschutzkleidung, die durch die Mohammed-Karikaturen unrühmlich bekanntgewordene dänische Tageszeitung Jyllands-Posten ersetzt die gelben Sterne auf der roten Fahne Chinas durch Piktogramme von Viren. Berichte über die Diskriminierung asiatisch aussehender Menschen häufen sich, und das findet nicht nur in sozialen Netzwerken statt, die die WHO in erster Linie für die angebliche "Infodemie" verantwortlich macht.

Daß die allgegenwärtige Präsenz von Social Media die Bereitschaft von Menschen fördert, andere für ihre Probleme verantwortlich zu machen und dies nach Möglichkeit anhand leicht zu identifizierender Gruppenkriterien zu tun, liegt weniger an der informationstechnischen Bemittelung als der hochgradigen Kompensationsnot der UrheberInnen um sich greifender Gerüchte. Mit was für einem Sprengstoff an rassistischer Stigmatisierung vermeintlich lustige Einfälle wie die Idee eines Liedes samt klischeeaufgeladener Illustration namens "Drei Chinesen im Corona-Fass" [2] hantieren, sollte gerade deutschen JournalistInnen und Kulturschaffenden klar sein. Die in der mittelalterlichen Pestprävention und -bekämpfung dominanten Feindbilder betrafen meist Menschen, die aufgrund ihrer nomadischen Lebensweise, ihrer jüdischen Herkunft oder materieller Armut als VerbreiterInnen ansteckender Krankheiten gebrandmarkt wurden. 500 Jahre immer wieder aufkommender Pestilenzen und die dafür zu suchenden Schuldigen haben stereotype Bezichtigungsmuster hervorgebracht, bei denen Vaganten, Arme, Sinti und Roma, JüdInnen und, sofern sie überhaupt in Erscheinung traten, aus dem Orient stammende Menschen als Quell des Übels ausgemacht wurden.

In der biopolitischen Moderne richtete sich die staatliche Isolations- und Quarantänepolitik nicht nur in direkter Folge mittelalterlicher Pestregimes gegen Menschen, die sich aufgrund ihrer Lebensweise und Herkunft als vermeintliche Krankheitsherde verdächtig machten, sondern sie institutionalisierte auch den Ausnahmezustand und hermetisch zu schließende Landesgrenzen als Maßnahmen der Seuchenbekämpfung. Dies wurde im semantischen Kontext infektionsmedizinischer Desinfektions- und Hygienemaßnahmen zum eliminatorischen Antisemitismus der spezifisch gegen JüdInnen gerichteten NS-Vernichtungspolitik weiterentwickelt. Schon vor dem NS-Regime standen sozial ausgegrenzte Gruppen wie Vagabunden, Bettler, Prostituierte, Sinti und Roma im Zentrum eugenischer Maßnahmen zur medizinaladministrativen Reinigung des "Volkskörpers" von "entarteten Ballastexistenzen". Doch erst die NS-Euthanasiepolitik ging zur systematischen Ermordung von PsychatriepatientInnen und anderen Behinderten über. Deren Vernichtung erfolgte ab 1940 in wie Duschen ausgestatteten Gaskammern, wobei die Nutzung von Kohlenmonoxid bereits zuvor in der Pestbekämpfung bei der Tötung von Ratten Anwendung gefunden hatte.

Als Pestizid geführte Blausäure schließlich wurde bei der Massenvernichtung der europäischen JüdInnen im Lager Auschwitz I von Ärzten der SS eingesetzt, die über ein professionelles Selbstverständnis als Hygieniker verfügten und das Gift als Mittel zur Ungezieferbeseitigung orderten. Der Genozid an den europäischen JüdInnen hat die antisemitische Rhetorik der NS-Täter derart mit Metaphern der Seuchenbekämpfung aufgeladen, daß unverständlich ist, wieso bei der Aufklärung über und Bekämpfung von Antisemitismus nicht viel stärker auf die medizinaladministrativen Anteile am spezifisch gegen JüdInnen gerichteten Rassenhaß hingewiesen wird. So war die Abschottung des jüdischen Wohnviertels in Warschau als Ghetto im November 1940 als Isolations- und Quarantänemaßnahme der Seuchenbekämpfung ausgewiesen, wie die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann in ihrem Buch "Der entseelte Tod" ausführlich schildert [3].

Es waren deutsche Wissenschaftler und Medinziner, die in der 1941 veröffentlichten Schrift "Kampf den Seuchen! Deutscher Ärzteeinsatz im Osten" im Abschnitt über die Bekämpfung der "Geißel Fleckfieber" die Ummauerung des vermeintlichen Seuchengebietes mit epidemiologischer Terminologie als dringend erforderliche Maßnahme gegen Seuchen verbreitende JüdInnen begründeten. Der ärztliche Ruf nach "Ausschaltung als Ansteckungsquelle" und "Seuchenträger" zur Beseitigung des "wesentlichen Gefahrenmomentes" bereitete die konkrete Vernichtung der polnischen JüdInnen mit der unerbittlichen Exterminationslogik seuchenpolitischer "Schädlingsbekämpfung" vor.

Bis heute - und nicht nur am Beispiel als ÜberträgerInnen gebrandmarkter chinesisch oder asiatisch identifizierter Menschen nachweisbar - erstrecken sich die Spuren mittelalterlicher Pestregimes und des Zusammenwirkens von Infektionsmedizin und Rassismus. Antisemitische Stereotypen wie "Giftmischer" oder "Brunnenvergifter" wurden insbesondere auf das Judentum Osteuropas angewendet und führten dort zu Pogromen gegen die jüdische Minderheit, die bezichtigt wurde, mit diesen Mitteln Krankheiten verbreitet zu haben. Dieser Verdacht konnte auf asiatisch oder orientalisch wirkende Menschen ausgedehnt werden oder, je nachdem, wo diese Bezichtigung erhoben wurde, auch als slawisch oder russisch identifizierte Menschen betreffen.

Gemeinsam ist allen rassistisch wirkenden Klischees infektionsmedizinischer Art, daß das krankmachende Agens von außen in die Gesellschaft oder den Körper eindringt. Die Bakteriologie des 19. Jahrhunderts war von einem Freund-Feind-Denken durchwirkt, das sich als Analogie für die nationale, völkische als auch kolonialistische Feindbildproduktion geradezu aufdrängte. Wurden Schwarze, Araber oder AsiatInnen in kolonialistischen Eroberungskriegen hingemetzelt, vergaß man schnell, wer der originäre Aggressor war. Die vom Fremden und Andersartigen ausgehende Bedrohung konnte um so besser in eine Aufforderung zur Vernichtung übersetzt werden, als das gefährliche Andere in Form unsichtbarer Krankheitsursachen nach Personifizierung und Materialisierung verlangte. Die Semantik von der Reinheit des "Volkskörpers", der von allen möglichen Parasiten, Schädlingen und Schmarotzern zu befreien war, feiert heute im migrantInnen- und ausländerfeindlichen Haß der extremen Rechten Urständ. Wenn neue Nazis mit Affenlauten und Primatenmimik schwarze Menschen beleidigen, dann frönen sie der weißen Suprematie mit dem gleichen Biologismus, mit dem alte Nazis JüdInnen zu Nichtmenschen machten.

US-Präsident Donald Trump ist nicht der einzige Politiker, der MigrantInnen als vermeintliche TrägerInnen ansteckender Krankheit zur Gefahr für Staat und Nation erklärt. Die medizinische Kontrolle von MigrantInnen und Flüchtenden steht unter der Maßgabe der Infektionsabwehr und legitimiert damit auch Formen der Isolation und Quarantäne, die die davon betroffenen Menschen spätestens dann als moderne "Aussätzige" brandmarkt, wenn sie in den entsprechenden Einrichtungen untergebracht werden. Ganz unabhängig von der konkreten medizinischen Notwendigkeit, die, wie im aktuellen Fall, eine Anwendung derartiger Mittel zur Eindämmung einer in ihrer Ausbreitungspotenz noch unabschätzbaren und auch tödlich verlaufenden Infektionskrankheit selbstverständlich erforderlich macht, findet die soziale Stigmatisierung vermeintlich oder wirklich infizierter Menschen auf einem ganz anderen, potentiell hochgefährlichen Feld statt.

Die Utopie der Säuberung, das Phantasma der Reinheit und die Angst vor der Vergiftung des Gesellschaftskörpers begleiten alle politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts zuweilen nur wie ein Schatten, manchmal als taktische Option, nicht selten aber erschienen sie als ihr innerster Kern. Das Phantasma der Reinheit selbst ist keine Ideologie, sondern eine idée fixe, die im Rückblick sich vielleicht angemessener als Basis-Code der politischen Sprache beschreiben läßt, der sich im symbolischen System einer Gesellschaft ausbreiten kann, von wo aus er auf dem Bildschirm des politisch Imaginären vornehmlich biologistische Bilder erzeugt. Dieser Basis-Code ist ein kleines Stück Sprache, eine kurze Signifikantenkette, ein wenig Semantik, ein paar einfache Regeln für metaphorische Verbindungen und zwei, drei Anwendungsinstruktionen, mehr nicht. Er läßt ein Gesellschaftssystem autoritär werden und treibt es nicht selten in einen Angriffskrieg oder gar zum Genozid an der eigenen Bevölkerung. [3]

Von daher kontaminiert das pathogene Potential der beklagten "Infodemie" nicht nur die virtuellen Weiten der social media, deren angebliche Virulenz mit, so die Forderung einer Kommentatorin auf NDR Info, dem Einsatz von Faktencheckern auf Facebook entgegenzutreten sei, was aus der Kommunikationsplattform ein journalistisches Medium macht und diesem kommerziellen Unternehmen eine fast monopolistische Sachwalterschaft über gesellschaftliche Diskurse zuschanzt. Ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk so viel bessere Arbeit bei der Analyse der sozialen und gesellschaftlichen Umstände medizinischer Ausnahmezustände leistet als eine Öffentlichkeit, die sich über die Definitionshoheit medizinischer ExpertInnen hinwegsetzt, darf ebenfalls bezweifelt werden. So fungiert die Berichterstattung dort, durchaus im Gegensatz zu Bild und Konsorten, im Ernstfall als Instrument sozialer Befriedung, was wiederum zu Lasten der kritischen Aufklärung über die sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen pandemischer Bedrohungen geht.

Was die epidemiologischen Daten der WHO und anderer infektionsmedizinischer Institutionen nicht leisten und im Horizont sogenannter FaktencheckerInnen fehlt, sind Fragen etwa nach der Bedeutung des Mensch-Tier-Verhältnisses für die Entstehung von Zoonosen, die auf den menschlichen Organismus übergreifen. So steht die industrielle Landwirtschaft immer wieder im Verdacht, quasi als Inkubator viraler Mutationen zu fungieren. Auch sind durch den Klimawandel hervorgerufene Veränderungen der Entwicklungsbedingungen mikrobiologischer Organismen, das Einebnen räumlicher Schranken, die die Verbreitung seltener Tierarten fern von ihren Lebensräumen zur Folge haben, die globale Konjunktur des schnellen Überwindens Kontinente übergreifender Distanzen im Flugzeug und eine Urbanisierung, die die Verbreitung infektiöser Agentien beschleunigt, zweifellos untersuchungswerte Themen. Was gegen die Entwicklung antibiotikaresistenter Keime getan wird, die die Behandlung bei einer viralen Infektion entstehender Sekundärerkrankungen erschweren, wäre ebenfalls interessant zu untersuchen. Schließlich bedarf die Politik der WHO gegenüber China möglicherweise kritischer Interventionen, folgt sie doch einer globaladministrativen Logik, bei der Regierungen und nicht Bevölkerungen vorrangige Ansprechpartner sind.

Den vermeintlichen Seuchencharakter nicht wissenschaftlich überprüfter Informationen zu beklagen hilft kaum weiter, zumal bei einer fern und abstrakt wirkenden Bedrohung niemandem zu verdenken ist, daß spekuliert und gemutmaßt wird. Zu fragen, wie rational oder irrational die Ängste sind, die die Boulevardpresse mit reißerischen Überschriften und rassistischen Stigmatisierungen erzeugt, ist auf jeden Fall ein produktives Gegenmittel zum Aufbau neuer Feindbilder und zur Verbreitung böswilliger Gerüchte. Sich von ihrerseits spezifischen Interessen verpflichteten ExpertInnen und Organisationen nicht bevormunden zu lassen kann allemal produktiv sein. Emanzipatorische Anliegen dieser Art sind bestens dazu geeignet, Immunität gegen die Suggestionen sogenannter Verschwörungstheorien zu erzeugen. Wird nach Anpassung und Unterwerfung verlangt, indem die herrschenden Verhältnissen reprojektiv in Scheinalternativen umgemünzt werden, ist niemandem als diesen gedient.


Fußnoten:

[1] Zygmunt Bauman: Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien. Frankfurt am Main 1994, S. 231 f.

[2] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus-in-china-sinophobie-und-rassismus-im-netz-16614102.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[3] Anna Bergmann: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod. Berlin 2004

[4] Philipp Sarasin: Anthrax. Bioterror als Phantasma. Frankfurt am Main 2004, S. 158 f.

6. Februar 2020


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