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KULTUR/1061: Quarantäne, Klimakrise und der Rest - Neue Reproduktions- und Konsumkulturen ... (SB)



Angesichts der Quarantänesituation und der zur Eindämmung der Klimakrise erforderlichen Verbrauchsreduktionen wird viel über Verzicht, aber wenig über die Entdeckung neuer Möglichkeiten gesprochen. Verzicht hört sich für die meisten Menschen so an, als solle ihnen etwas weggenommen werden. Im Rückgriff auf leidgeprüfte Erfahrungen liegen sie nicht falsch, allerdings müssen diese nicht auf gleiche Weise in die Zukunft verlängert werden. Leicht wird vergessen, daß es sich um das zentrale Funktionsprinzip der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft handelt, die Lohnabhängigen nicht für ihre gesamte Arbeitszeit zu bezahlen, sondern den als Mehrwert definierten Teil einzubehalten, weil sich ohne ihn aus der Produktion kein Profit erzielen läßt. Verkürzt könnte man sagen, daß es sich beim Lohn um dasjenige handelt, was einem bereits genommen wurde. Es ist kein Privileg, die Lebenszeit für Geld zu verkaufen und sich damit ein kleines Stück der glitzernden Warenwelt zu sichern, sondern purer, durch das Verhindern anderer Reproduktionsmöglichkeiten bedingter ökonomischer Zwang.

Auf die persönliche Beteiligung an der kapitalistischen Verwertungslogik angewiesen zu sein und damit an dem Ast zu sägen, auf dem die ganze Gesellschaft mit anwachsender Absturzgefahr sitzt, ist diesem grundlegenden Widerspruch immanent, auch wenn Klimakrise und Naturzerstörung als äußere Bedrohung erlebt werden. Der zerstörerische Charakter der dem Kapitalverhältnis abgerungenen sozialen Reproduktion wird immer mehr Menschen bewußt, nur werden daraus Schlußfolgerungen gezogen, laut denen das Drehen an einigen Stellschrauben des Gesamtsystems ausreiche, um dieses Problem zu bewältigen. Die Erkenntnis, daß es nicht genügen wird, die Energieproduktion eins zu eins auf Wind und Solar umzustellen, um weiterhin jenes Wachstum zu erzeugen, das zur Versorgung aller Menschen als unabdinglich dargestellt wird, leuchtet allerdings immer mehr Menschen ein. Ob E-Mobilität oder Mülltrennung, ob Emissionszertifikate oder CO2-Steuer, es bleibt am Ende die gleiche Maschine kapitalistischer Überproduktion und sozialer Ungleichheit, die ohne Krieg, Kolonialismus, Rassismus und Patriarchat nicht auskommt.

Die Prognosen der Erderwärmung und andere destruktive Verläufe der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zeigen mit anwachsender Dringlichkeit auf, daß es tiefgreifender Veränderungen in der herrschenden Produktionsweise bedarf, um die Zukunft der Lebewesen und Natursysteme zu sichern. Da derartige Umbrüche unterhalb der Schwelle revolutionärer Interventionen kaum zu verwirklichen sind, weil ihnen mächtige Interessen entgegenstehen, leuchtet um so mehr ein, daß sich schon in einer von Entfremdung und Kompensationsnot bestimmten Arbeitsgesellschaft Zugewinne an persönlicher Handlungsfreiheit erlangen lassen, wenn der zeitliche Aufwand für Lohnarbeit zurückgeht, grüne Technologien entwickelt werden, wenn Konsumangebote wie Flugreisen, Tiefkühlkost oder exotische Lebensmittel durch einen neuen Blick auf die Landschaften vor der Tür und den Umgang mit heimischen Produkten überflüssig werden.

Diese Erkenntnis hat mit der durch die Coronapandemie erzwungenen Quarantäne eine Breitenwirkung erlangt, mit der im normalen Gesellschaftsbetrieb nicht zu rechnen war. Auf die eigenen vier Wände und sich selbst zurückgeworfen fangen die Menschen an, Fragen aufzuwerfen, die zu stellen zuvor keine Zeit war oder die in der geschäftigen Betriebsamkeit alltäglicher Arbeit untergingen. Wenn irgend etwas Positives aus der gesundheitlichen Bedrohung durch das Coronavirus entstehen könnte, dann ist es die Besinnung auf Fragen danach, wie die Menschen leben und arbeiten wollen, wie sich ihre sozialen Beziehungen auf andere Weise produktiv machen lassen als einander im gegenseitigen Wettstreit um das Übriggebliebene niederzumachen. Der eiserne Panzer der herrschenden Zwangsverhältnisse zeigt Risse, die sich angesichts dessen, daß mit einer Rückkehr zum vertrauten Normalzustand kaum zu rechnen ist, möglicherweise nicht mehr schließen lassen. "Fragend schreiten wir voran" - der Losung der Zapatistas, die die Antiglobalisierungsbewegung der Nuller Jahre beflügelt hat, kommt neue Bedeutung zu, denn mehr als Fragen gibt die krisengeschüttelte Gegenwart nicht her.

Vor diesem Hintergrund könnte der schon vor Corona geführten Verzichtsdebatte der bedrohliche Impetus genommen und die Reduktion überbordenden Verbrauchs als Zugewinn erkannt werden. Wo der Druck der permanenten Produktivitätssteigerung und ihr Zweck, die Rationalisierung und Verdichtung menschlicher Arbeit, das Zerstörungspotential der industriellen Zurichtung der Reproduktion des Lebens und der instrumentelle Charakter der Konditionierung aller Wechselverhältnisse und Kommunikationsprozesse auf informationstechnische Systeme einmal kritisch reflektiert werden, tritt der inakzeptable Stand herrschender Vergesellschaftungsformen wie von selbst hervor. Zahlreiche alternative Lebens- und Arbeitsformen wie die der Commons-Bewegung, der Solidarischen Landwirtschaft, der Transition Town-Bewegung, autonomer Hausprojekte, selbstorganisierter Landkollektive und vieles mehr sind aus der Erkenntnis entstanden, die Entfremdung des Kapitalverhältnisses auf emanzipatorische Weise zu überwinden.

Was bereits seit Jahrzehnten an den Rändern und in den Nischen der Republik im Gange ist, könnte sich durchaus als Avantgarde einer Massenbewegung erweisen, die insbesondere für jüngere Menschen von großem Interesse ist. Sich selbst kulturell zu betätigen, anstatt auf Unterhaltungsangebote angewiesen zu sein, kollektiv zu leben und selbstbestimmt zu arbeiten, anstatt in Schule, Uni und Beruf auf eine gesellschaftlich anerkannte Karriere gedrillt zu werden - die ungenutzten Möglichkeiten sind zahllos. Sie lassen sich, wenn sie das Gros der Menschen betreffen sollten, die mit Freude aus dem Hamsterrad aussteigen, allerdings nur auf veränderter gesellschaftlicher Grundlage erschließen. Die Herren der Fabriken und Kasernen, der Unternehmen und Technologieschmieden werden nicht kampflos den Platz räumen, den sie schon so lange unter erheblichem Vergießen von Blut und Zufügen von Schmerz behaupten.

Aus individueller Schwäche und Verletzlichkeit kollektive Stärke zu gewinnen ist nicht zufällig ein Merkmal jener Bewegungen, die sich gegen kolonialistische Ausbeutung und menschenfeindliche Grenzziehungen richten, die die Probleme der schwächsten, überflüssig gemachten Menschen zu ihren machen und daran festhalten, auch wenn der Gegenwind immer heftiger bläst. Was an erstrebenswerten Alternativkulturen und neuen Praktiken sozialer Reproduktion bereits erkämpft wurde, müßte sich im Verlauf dieser Entwicklung allerdings frei davon machen, von den Überschüssen in immer größeren Teilen leerlaufender kapitalistischer Produktion zu leben, die es mit immer neuer Legitimität versorgen. Bevor diese Produktionsform mit Gegenentwürfen abgelöst wird, die ihr ein lebensfeindliches Biotop sind, wäre der harte und steinige Teil des Weges noch zu bewältigen.

Da die Versorgungsgarantien, mit denen sich die monopolistische Macht herrschender Produktionsverhältnisse von Widerspruch und Widerstand freigehalten hat, den düsteren Prognosen gemäß in näherer Zukunft immer dünner und schließlich auslaufen werden, stehen ohnehin harte Zeiten bevor. Ob es zu einer postpandemischen Phase kommt oder die Menschen auf Jahre hinaus mit der endemisch gewordenen Gefahr der Erkrankung durch diesen und andere Erreger leben müssen, in jedem Fall dürfte der unverhüllt hervortretende Widerspruchscharakter dieser Produktions- und Reproduktionsform Erschütterungen von epochaler Art anstoßen.

Die außerparlamentarische Linke könnte es als Chance begreifen, die Arbeit am Übergang in ein anderes Leben, der so oder so nicht zu umgehen sein wird, auf solidarische und kämpferische Weise in Angriff zu nehmen. Die Zukunft auf diese Weise vorwegzunehmen wäre bereits gleichbedeutend mit dem Ende von Verzicht und Entfremdung. Das Warten auf bessere Gelegenheiten, der Glaube an das kleinere Übel, das Hoffen auf ein Wunder und der Blick darauf, ob der jeweils andere vorangeht, um es nicht selbst tun zu müssen, könnten keine Bremskraft mehr entfalten.

7. Mai 2020


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