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KRIEG/1792: Erdogan - gegen Kurden und Jesiden in der Offensive ... (SB)



Die türkischen Bombardements im Nachbarland Irak sind ein Akt der Aggression und völkerrechtswidrig. Erdogans Angriffe auf Überlebende des IS-Terrors in jesidischen Dörfern der Sindschar-Region und das kurdische Flüchtlingslager Machmur, in dem rund 12.000 Menschen unter dem Schutz des UNHCR leben, sind auch ein direkter Angriff auf die Vereinten Nationen. Die Bundesregierung muss das ebenso rechtswidrige wie rücksichtslose Vorgehen der türkischen Armee in aller Schärfe verurteilen und erneute Massenvertreibungen durch Erdogans Truppen wie im Norden Syriens verhindern helfen.
Sevim Dagdelen (Außenpolitikerin Der Linken im Bundestag) [1]

Die türkische Luftwaffe hat im Zuge ihrer "Operation Adlerklaue" massive Angriffe im Nordirak geflogen. Bombardiert wurden Rückzugsgebiete der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Kandilgebirge, aber auch das kurdische Flüchtlingslager Machmur und Wohngebiete der Jesiden in Sindschar. Daß der Luftschlag im Nachbarland keineswegs im Geheimen durchgeführt, sondern in aller Offenheit inszeniert wurde, läßt auf die Vorbereitung einer großangelegten Bodenoffensive schließen. Damit weitet das Erdogan-Regime den Vernichtungs- und Vertreibungskrieg gegen die kurdische Bewegung über den Südosten der Türkei und Nordsyrien hinaus auch auf den Irak aus. Nach dem Willen des Machthabers in Ankara und der AKP/MHP-Regierung soll der kurdische Widerstand und Gesellschaftsentwurf durch militärische Angriffe, eine ethnische Säuberung in den Siedlungsgebieten wie auch die Zerstörung der sozialen und kulturellen Zusammenhänge vernichtet werden.

Der genozidale Haß Recep Tayyip Erdogans erklärt sich im Kern aus seiner unversöhnlichen Feindschaft gegenüber dem emanzipatorischen kurdischen Entwurf ohne Staat, mit Basisdemokratie und Rätestruktur, einer Befreiung der Frauen auf allen Ebenen und der Aufnahme von Menschen jeglicher Herkunft, die sich dem Aufbau dieser Gesellschaft anschließen. Für den im islamistischen Patriarchat verwurzelten und dem türkischen Nationalismus huldigenden zutiefst reaktionären Despoten sind dies rote Tücher, die er zerfetzen will. Als mit allen Wassern gewaschener Machtpolitiker kann er diese Freiheitsbewegung nicht dulden, da ihre bloße Existenz unvereinbar mit der von ihm angestrebten Allgewalt ist und diese in Frage stellt.

Da die PKK seit 40 Jahren als Guerilla den bewaffneten Kampf gegen die Repression türkischer Regierungspolitik führt, die alle Autonomiebestrebungen mit harter Hand unterdrückt, steht die Zerstörung ihrer Rückzugsgebiete im Nordirak seit langem auf der militärischen Agenda Ankaras. Die Einkreisung wurde mit wiederholten Luftangriffen und türkischer Truppenpräsenz auch auf irakischem Staatsgebiet vorangetrieben, so daß man mit Fug und Recht von einem geplanten Genozid, Aggressionskrieg und völkerrechtswidrigen Angriff sprechen kann, der die Souveränität des Irak mit Füßen tritt. Indessen handelt es sich dabei um Kategorien, deren Anerkennung und Wirksamkeit rasant schwindet, da ihnen die Macht zur Durchsetzung entzogen wird. Erdogan erklärt all seine mutmaßlichen und tatsächlichen Gegner kurzerhand zu Terroristen, die er gnadenlos verfolge. Ausländischen Kritikern hält er entgegen, daß jeder Staat seine Terroristen habe, die er ausschalten müsse.

Indem er sich des allseits etablierten Terrorbegriffs bedient, beruft er sich auf eine Staatsräson, die sich im Prinzip mit der aller anderen Staaten deckt. Emanzipatorischer und noch dazu bewaffneter Widerstand wird überall als staatsfeindlich verfolgt, weshalb sich Erdogan sicher sein kann, daß seine Drangsalierung der kurdischen Bewegung auch von anderen Regierungen gebilligt und in ihrem Ziel geteilt wird, selbst wenn dabei auf der Oberfläche bisweilen gewisse Unwuchten auftreten sollten. So wird die PKK auch in Deutschland unter dem Feindstrafrecht als Terrororganisation eingestuft und verfolgt, obgleich sie hierzulande schon vor Jahrzehnten jegliche militanten Aktivitäten eingestellt hat. In deutschen Gefängnissen sitzen diverse politische Gefangene der kurdischen und türkischen radikalen Linken teils sogar in Isolationshaft. Die beiderseitigen Geheimdienste tauschen ihre Erkenntnisse über die kurdische Bewegung aus, und deutsche Gerichte haben kein Problem damit, Aussagen zu verwerten, die in der Türkei durch Folter erzwungen oder von offenkundig fabrizierten Kronzeugen geliefert worden sind. Zudem ist bekannt, daß der einflußreiche türkische Geheimdienst MIT in der Bundesrepublik in erheblichem Maße spioniert und über die kurdische Gemeinde hinaus auch Menschen ins Visier nimmt, die mit ihr sympathisieren.

Mit seinen Übergriffen in die Nachbarländer verfolgt Erdogan zudem neoosmanische Expansionspläne, auf deren Landkarte die Türkei weit über ihr gegenwärtiges Staatsgebiet nach Syrien, in den Irak, auf dem Balkan, in der Ägäis und insbesondere im Mittelmeer hinausreicht. Wie die umgehende Türkisierung in den besetzten Gebieten Nordsyriens belegt, handelt es sich nicht um befristete Vorstöße auf fremdes Territorium, sondern eine dauerhafte Okkupation. Ankara strebt dabei vor allem im östlichen Mittelmeer nicht zuletzt den Zugriff auf Bodenschätze wie Erdöl und Erdgas an, da die türkische Energieversorgung in hohem Maße von Importen abhängt.

Innenpolitisch steht Erdogan angesichts der Wirtschaftskrise und längst nicht bewältigten Coronapandemie massiv unter Druck und will einen erneuten Zusammenschluß der Opposition verhindern. Der Krieg gegen die kurdische Bewegung ist eine Trumpfkarte, die er immer wieder zieht, um die kemalistische CHP von der prokurdischen HDP zu spalten. Die Staatsräson, wonach es in diesem Land nur eine Identität, Sprache und Flagge gebe, nämlich die türkische, gilt auch säkularen Nationalisten im Zweifelsfall mehr als ein Zweckbündnis mit der kurdischen Opposition zum Sturz Erdogans. Zudem übertönen dessen Kriegstrommeln auch den aktuellen Sternmarsch auf Ankara, mit dem die HDP gegen die Inhaftierung weiterer Abgeordneter protestiert.

Der türkische Luftangriff im Nordirak dürfte von langer Hand vorbereitet worden sein. Laut Informationen der Zeitung Arab-Weekly war der Leiter des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, vergangene Woche auf einem Besuch in Bagdad, um sich mit Regierungsvertretern zu besprechen, so daß diese vermutlich vorgewarnt waren. Das Oberkommando der irakischen Streitkräfte verurteilte zwar formal die Verletzung der Souveränität des Landes, doch die in der kurdischen Autonomieregion regierende Demokratische Partei Kurdistans (KDP), die mit Ankara kollaboriert, schwieg zu den Angriffen. Der Präsident der Autonomen Region Kurdistan, Nechirvan Barzani, hatte nach einem türkischen Luftangriff im April die Präsenz der PKK im Nordirak als illegitim bezeichnet. [2]

Um Mitternacht starteten etwa 20 F-16-Kampfflugzeuge vom Militärflughafen Diyarbakir. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolou Agency präsentierte zu den Angriffen einen anderthalbminütigen Waffenwerbungs-Clip, unterlegt mit martialisch-stampfender Trommelmusik. Die Auflistung der eingesetzten Waffen, von denen der türkische Sender TRT-World berichtete, suggeriert Präzision: Kampfflugzeuge, Drohnen, unterstützt von Satelliten und Tankflugzeugen. Als Ziele wurden die Kandilberge, Sindschar, Karacak, Zap, Avasin-Basyan und Hakurk genannt, wobei nach Angaben des Verteidigungsministerium 81 Ziele zerstört worden sind, darunter "Unterkünfte und Schutzräume der Terroristen" in Höhlen. Die Flugzeuge seien sicher zu ihren Stützpunkten zurückgekehrt.

Laut der von den meisten deutschen Medien übernommenen türkischen Version habe die Armee der PKK-Präsenz im Nordirak einen schweren Schlag versetzt und gleichzeitig alles Mögliche getan, damit der Schaden für die Zivilbevölkerung im Nachbarland so gering wie möglich sei. Die mediale Inszenierung wurde von Berichten samt Bildern gekrönt, wonach der Einsatz unter der persönlichen Leitung des Verteidigungsministers Hulusi Akar erfolgt sei. Generalstabschef General Yasar Güler, der Befehlshaber der Landstreitkräfte General Umit Dündar, der Befehlshaber der Luftstreitkräfte General Hasan Küçükakyüz und der Marinebefehlshaber Admiral Adnan Özbal hätten die Operation im Befehlszentrum verfolgt. [3]

Demgegenüber zeichnen kurdische und jesidische Quellen ein ganz anderes Bild der türkischen Luftangriffe. Das kurdische Medium ANF berichtet von Angriffen auf das Flüchtlingslager Maxmur (Machmur), die Medya-Verteidigungsgebiete und die jesidische Region Sengal (Schengal). Die Rede ist von Angriffen "gegen Krankenhäuser und Flüchtlingscamps, offenbar unter Billigung internationaler Kräfte". Das etwa 60 Kilometer südwestlich von Erbil gelegene Camp Mexmur wurde 1998 gegründet und beherbergt rund 12.000 Menschen, die in den 1990er Jahren aufgrund der Repression des türkischen Staates gezwungen waren, ihre Dörfer in Nordkurdistan (Türkei) zu verlassen. Das Camp steht offiziell unter dem Schutz und der Kontrolle des UNHCR. Allerdings sind die Bewohnerinnen von Mexmur seit dem 17. Juli 2019 auf Druck der Türkei einem Embargo durch die Sicherheitskräfte der südkurdischen Regierungspartei KDP ausgesetzt.

Das Camp Mexmur ist nicht zum ersten Mal Angriffsziel der Türkei. Am 15. April starben drei Zivilistinnen bei einem türkischen Drohnenangriff. Wer hinter einem Luftangriff vor etwa fünf Wochen steckt, ist noch immer unklar. Im Juli 2019 wurden zwei Campbewohner bei einem türkischen Bombardement verletzt. Im Dezember 2018 starben vier Mitglieder der Selbstverteidigungseinheiten bei einem Luftschlag auf einen Wachposten zur Abwehr von IS-Angriffen. [4]

Laut Nadia Murad, einer Jesidin, die 2018 durch die Verleihung des Friedensnobelpreises der internationalen Öffentlichkeit bekannt wurde, haben türkische Kampfflugzeuge mehrere Orte im Sindschar angegriffen. Der Mount Sinjar sei nun eine Kriegszone, schreibt sie und appelliert an die Internationale Gemeinschaft, Sicherheitsfragen in dieser Region zu lösen. Die Bombardierung fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem die jesidische Gemeinde die Rückkehr von 200 Jesiden aus Flüchtlingslagern feierte. Vertreter der Jesiden werten dies als Teil eines türkischen Plans, die Rückkehr von Flüchtlingen zu erschweren, wie aus einem Bericht der Kurdistan News hervorgeht. Die nächtlichen Luftangriffe bezeugten, daß die Türkei "kein Interesse am Frieden in der Region" habe. Sie soll Kriegszone bleiben, wird der Chefredakteur von Ezidi-Press zitiert. Zivile Sicherheitsfragen fechten den türkischen Botschafter im Irak, Fatih Yildiz, offensichtlich nicht an, denn er twitterte, daß die PKK nun zerstört werden müsse. [5]

Regierungskritische Stimmen in der Türkei stellen die Offensive auch in den innenpolitischen Zusammenhang eines Protestmarsches, zu dem die HDP aufgerufen hat. Er führt von Edirne im Nordwesten und Hakkari im Südosten des Landes in Richtung Ankara. An den Ausgangspunkten, aber auch entlang der Strecke behindert ein Großaufgebot der Polizei die Demonstrierenden, teils haben Lokalbehörden Zugangssperren erlassen. In Silivri, einem Vorort Istanbuls, löste die Polizei eine HDP-Kundgebung mit Tränengas und Gummigeschossen auf, mehrere Personen wurden festgenommen. Mit ihrer Aktion will die linke Oppositionspartei gegen die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von zweien ihrer Abgeordneten Anfang Juni sowie den allgemein steigenden Druck auf die HDP protestieren. Von den 65 HDP-Bürgermeistern, die nach den Kommunalwahlen 2019 ihr Amt antraten, wurden seither mehr als 50 von der Regierung abgesetzt und gegen Zwangsverwalter ausgetauscht.

Die kurdische Frage erweist sich oftmals als effizientes Mittel, um einen Keil ins Lager der Regierungsgegner zu treiben. Dessen Erfolg bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr wäre ohne die kurdischen Stimmen nicht möglich gewesen. Doch bei der Militäroffensive in Nordostsyrien gegen die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) im Herbst 2019 unterstützten die CHP und die nationalistisch-säkulare IYI-Partei den Angriffskrieg im Parlament. Auch bei nationalen Urnengängen hat die Opposition ohne Unterstützung der HDP keine Aussicht auf eine Mehrheit. Obwohl erst 2023 Neuwahlen anstehen, sprachen sich die beiden größten Oppositionsparteien, CHP und HDP, vergangene Woche für die Bildung einer "Plattform aller demokratischen Kräfte" aus.

Auch international macht Ankara den Kampf gegen die PKK verstärkt zum Thema. Wie die EU und Deutschland führen auch die USA die PKK auf ihrer Terrorliste, doch ist die YPG/YPJ ihr wichtigster Partner im Kampf gegen den IS in Syrien, was von der Türkei immer wieder heftig kritisiert wird. Nachdem Donald Trump nun der "Antifa" eine Mitschuld an Ausschreitungen bei den Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt in den USA gegeben hatte, steuerten türkische Regierungsvertreter die Erklärung bei, daß sich auch unter den Freiwilligen der YPG Antifa-Anhänger befänden. Durch Unterstützung der YPG, so die absurde Darstellung Ankaras, stärke Washington dieselben Kräfte, die nun in amerikanischen Städten randalierten. [6]

Zudem droht die Türkei, einen neuen Angriffsplan der NATO gegen Rußland für Osteuropa auf den letzten Metern scheitern zu lassen. Diese Blockade ist brisant, weil die Planungen (Graduated response plans) ein Schlüsselement der Maßnahmen sind und beispielsweise detailliert vorgeben, wie Alliierte im Krisen- oder Angriffsfall unterstützt werden sollen. Ankara will der Arbeit mit den geheimen Dokumenten erst dann zustimmen, wenn die Bündnispartner der Türkei im Gegenzug eine stärkere Unterstützung ihrer Interessen zusichern. So sollen die kurdischen PYD und YPG als "Terrororganisationen" eingestuft werden, was etliche Bündnispartner ablehnen. [7]

Wie eingangs zitiert, verurteilt die Linkspartei die Angriffe der türkischen Armee auf zivile Ziele im Nordirak. Die Bundesregierung müsse die Aggression des NATO-Partners Türkei verurteilen und dürfe Ankara nicht länger durch Wirtschaftshilfen und Waffenlieferungen unterstützen. Wie die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, erklärte, sei es auch in Deutschland notwendig, auf die Straße zu gehen und lautstark gegen den türkischen Angriffskrieg und die Komplizenschaft der Bundesregierung mit den Kriegstreibern in Ankara zu protestieren:

Das Flüchtlingslager Mexmur und die jesidischen Siedlungsgebiete in Sengal waren Hauptangriffsziele der von der Türkei immer wieder unterstützten Terrororganisation IS. Dass nun die Türkei diese Ziele ebenfalls bombardiert, macht die türkische Armee de facto zur Luftwaffe des IS. Einem solchen Regime muss jede Unterstützung entzogen werden. Aber auch die erneuten Angriffe auf die kurdischen Freiheitskämpfer sind scharf zu verurteilen. Der türkische Staat kann den kurdischen Freiheitskampf militärisch nicht besiegen - das haben die letzten 40 Jahre deutlich gezeigt. Stattdessen müssen Friedensverhandlungen stattfinden und eine politische Lösung gefunden werden, sonst wird sich dieser Krieg noch Jahrzehnte hinziehen und weiteres unsägliches Leid verursachen. [8]


Fußnoten:

[1] www.sevimdagdelen.de/tuerkische-angriffe-auf-fluechtlingsdoerfer-im-norden-des-irak-verurteilen/

[2] www.jungewelt.de/artikel/380285.türkei-und-irak-krieg-gegen--* kurden.html

[3] de.sputniknews.com/panorama/20200615327377064-tuerkische-luftwaffe-vernichtet-ueber-80-pkk-ziele-im-nordirak/

[4] anfdeutsch.com/aktuelles/tuerkei-startet-luftoffensive-auf-suedkurdistan-19782

[5] www.heise.de/tp/features/Tuerkische-Luftangriffe-auf-Ziele-im-Nordirak-4784480.html

[6] www.nzz.ch/international/kurdenkonflikt-tuerkei-startet-offensive-gegen-pkk-im-nordirak-ld.1561292

[7] www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_88059838/tuerkei-blockiert-nato-geheimplan-fuer-osteuropa.html

[8] anfdeutsch.com/aktuelles/jelpke-tuerkei-ist-de-facto-die-luftwaffe-des-is-19794

16. Juni 2020


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