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INTERVENTION/001: Afghanistan - Aus den Augen, aus dem Sinn? Truppenabzugspläne schüren Ängste (IPS)



IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. November 2011

Afghanistan: Aus den Augen, aus dem Sinn? - Truppenabzugspläne schüren Ängste

von Karina Böckmann

Berlin, 28. November (IPS) - Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft haben im Vorfeld der Afghanistan-Außenministerkonferenz in Bonn an 5. Dezember dargelegt, was ihrer Meinung nach bis zum Abzug der internationalen Truppen Ende 2014 und danach getan werden muss, damit das Land nicht immer weiter ins Chaos abstürzt. Nach dem gescheiterten Versuch der westlichen Bündnispartner, eine militärische Lösung des Afghanistankonflikts herbeizuführen, seien weitreichende Investitionen in die nachhaltige Entwicklung, in die Rechtstaatlichkeit und in den Ausbau der Institutionen erforderlich.

Wie Fahim Hakin von der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC) betonte, "muss heute in die menschliche Sicherheit investiert werden, damit wir morgen mit der Unsicherheit fertig werden". Seit vielen Jahren kritisieren afghanische und auch internationale Stimmen, dass die afghanischen Bündnispartner erheblich mehr für die militärische als für die zivile Lösung des Konflikts ausgegeben und somit die zunehmende Unsicherheit mit verursacht hätten.

Die afghanische Zivilgesellschaft wird den Außenministern aus 91 Ländern auf der Afghanistan-Konferenz, der größten Konferenz auf deutschem Boden, Empfehlungen vorlegen, wie es am Hindukusch künftig weitergehen soll. Nach den leidvollen Erfahrungen und verpassten Gelegenheiten der letzten zehn Jahre müsse der Fokus der Zusammenarbeit auf der nachhaltigen Entwicklung des Landes und dem Aufbau der rechtstaatlichen Institutionen, der Infrastruktur und des nationalen Sicherheitsapparats liegen, heißt es in dem Papier.


Hilfe, die Afghanen nutzt

An die Adresse der internationalen Gemeinschaft wurde der Appell gerichtet, die afghanischen zivilgesellschaftlichen Institutionen und Organisationen im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe mit der Durchführung von Hilfsmaßnahmen und nationaler Prioritätenprogramme zu betrauen. Auch gelte es im Rahmen der längerfristigen Zusammenarbeit darauf zu achten, dass Entwicklungsmaßnahmen darauf ausgerichtet seien, Afghanistan zu einem eigenverantwortlichen und prosperierenden Land zu machen.

Die afghanische Regierung werden afghanische Nichtregierungsorganisationen auf der Bonner Konferenz am 5. Dezember unter anderem dazu auffordern, energisch gegen Korruption vorzugehen, Reformen zugunsten einer unabhängigen Justiz durchzuführen und die herrschende Kultur der Straffreiheit zu beenden. Und vor allem soll die Regierung bei möglichen Verhandlungen mit ihren politischen Gegnern Menschenrechtsprinzipien und Bürgerrechte kompromisslos vertreten.

Dass Afghanistan nach drei Jahren sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen soll, hat bei vielen Afghanen Ängste geschürt. Befürchtet wird, dass sich die Sicherheitslage nach dem Abzug der ausländischen Truppen weiter verschlechtern wird und das Land das Schicksal eines verfehlten Staates erleiden könnte.

"Das afghanische Volk fühlt sich im Stich gelassen", meinte Aziz Rafiee, Direktor des 'Afghanistan Civil Society Forum-Organisation' (ACSFO), gegenüber IPS.

Den Alliierten warf er vor, das Land zu verlassen, ohne die Voraussetzungen für einen Abzug geschaffen zu haben. So ist die Regierung in Kabul weder in der Lage, für Sicherheit noch für eine grundlegende Basisversorgung der Bevölkerung zu sorgen. "Jetzt, wo sich die internationale Gemeinschaft keine Chancen für einen militärischen Sieg ausrechnet, wird ein hastiger Truppenabzug vollzogen", monierte der ACSFo-Chef, der seit vielen Jahren die Unverhältnismäßigkeit der Militärausgaben der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan im Vergleich zu den Investitionen in die Entwicklung des Landes kritisiert.

Rafiee zufolge schlagen die Militärausgaben von NATO und ISAF seit dem Sturz der Taliban 2001 mit einer Billion (1.000 Milliarden) US-Dollar zu Buche. 525 Milliarden Dollar entfallen demnach auf die USA, 400 Milliarden Dollar auf die EU und etwa weitere 100 Milliarden Dollar auf die übrigen ISAF-Partner. An Afghanistan seien in den letzten zehn Jahren höchstens 100 Milliarden Dollar geflossen. Die Militärhilfe sei somit um das Zehnfache höher gewesen. "Wäre dieser Betrag für Entwicklungszwecke ausgegeben worden, wäre Afghanistan jetzt besser dran."


Nachhaltigkeit spart Geld

Auch die afghanischen Streitkräfte (ASF) wären in einem besseren Zustand. Sie sind viel zu schwach, um mittelfristig für nationale Sicherheit zu sorgen. Rafiee berief sich auf eine Studie der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), wonach der Einsatz eines ISAF-Soldaten pro Tag 4.200 US-Dollar koste. Ein afghanischer Soldat hingegen erhalte 400 Dollar im Monat. "Eine solide Ausbildung der afghanischen Streitkräfte hätte also dazu beigetragen, die Militärausgaben der Alliierten drastisch zu senken."

Bis zum Abzug der internationalen Truppen sollen mehr als 200.000 afghanische Soldaten bereitstehen. Doch ist nicht klar, wer das Heer finanzieren soll. Die Regierung in Kabul ist finanziell dazu nicht in der Lage. Ohne eine umfangreiche finanzielle Unterstützung werde die Armee die Taliban wohl kaum in ihre Schranken weisen können, warnte Amrullah Saleh, ehemaliger Chef des afghanischen Inlandsgeheimdienstes.

Die Situation sei alles andere als rosig, räumte Botschafter Michael Steiner, der deutsche Sonderbeauftragte für Afghanistan und Pakistan, ein. Sie sei zu rosig gemacht worden. Nach den "Allmachtphantasien" der internationalen Gemeinschaft, Afghanistan im Schnellgang zu befrieden, sei nun eine größere Bescheidenheit in der Zielsetzung angebracht. Nun gelte es, einen Abzug in Verantwortung hinzukriegen. Es dürfe zu "keinen Ruinen des Engagements" kommen.

Dem Diplomaten zufolge könnte Bonn die letzte Gelegenheit sein, dafür zu sorgen, "dass wir (in Afghanistan nach dem Rückzug) in anderer Form dabeibleiben". Es gelte den politischen Prozess zu stützen, in dem sich alle Akteure im Lande einschließlich der Taliban wiedererkennen könnten und bei dem man sich zudem auf nichtverhandelbare Prinzipien wie Menschen- und Frauenrechte verständigen müsse.


Hoffen auf die heilende Wirkung der Inklusion

'Inklusion' war ein häufig benutztes Wort auf der Berliner Veranstaltung 'Zehn Jahre nach Petersberg' und meinte die Beteiligung aller Akteure der afghanischen Gesellschaft an künftigen Friedensgesprächen - Frauen, religiöse Führer, Ethnien, die Nachbarländer und der Taliban, die inzwischen mehr als die Hälfte Afghanistans kontrollieren und sich mit ihren tödlichen Angriffen immer wieder als starke Gegner in Erinnerung rufen.

"Wir können nicht mit und nicht ohne die Taliban", meinte dazu die afghanische Parlamentsabgeordnete Shinkai Karokhail. Nach Ansicht der Politikerin, die auch die Frauenbildungsorganisation 'Afghan Women's Educational Center' leitet, darf die Inklusion der Taliban nicht bedeuten, dass Grundrechte den ideologischen Forderungen geopfert würden. Während es in einigen Bereichen Spielräume gebe, seien Menschen- und Frauenrechte nicht verhandelbar.

Karokhail zufolge herrscht in ihrem Lande inzwischen weitgehend Einigkeit über die Notwendigkeit, die Taliban als politische Kraft zu akzeptieren. Auch den Frauen im Lande werde zunehmend klar, dass es ohne eine Beteiligung der Taliban keinen Frieden geben werde, sagte sie.


Mängel und Fehler

Auf dem Treffen in Berlin wurden die Fehler der Vergangenheit klar benannt. So wurde den Alliierten vorgeworfen, größere internationale Verträge für den Wiederaufbau an Kriegsherren und westliche Unternehmen statt an Afghanen vergeben zu haben und Parallelstrukturen in Form privater Sicherheitskräfte und Milizen zugelassen wenn nicht gar gefördert zu haben. Dadurch habe man Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Menschen- und Drogenhandel Vorschub geleistet.

Francesc Vendrell, ein ehemaliger UN/EU-Sonderbeauftragter für Afghanistan, warf der internationalen Gemeinschaft vor, die wenigen günstigen Gelegenheiten, die sich in Afghanistan geboten hätten, um das Land voranzubringen, nicht genutzt zu haben. Anstatt gleich zu Anfang die Gelegenheit zu ergreifen, die ehemaligen Kriegsherren zu entmachten, habe man sie durch die Beteiligung an politischen und wirtschaftlichen Schlüsselpositionen gestärkt und die Regierung in Kabul geschwächt.

Auch dass die Vereinten Nationen nicht als unabhängige Kraft stärker in den Prozess eingebunden wurden, hält Vendrell für einen großen Fehler. Dadurch hätten USA und NATO zu Lasten einer stärkeren Förderung der menschlichen Entwicklung und staatlichen Institutionen mehr Raum erhalten, sagte er.

Doch nicht nur die Fehler der Alliierten, auch die Schwächen der afghanischen Seite wurden auf dem Treffen weidlich diskutiert wie etwa die verbreitete Korruption, die Straflosigkeit oder die Praxis der Karsai-Regierung, verfassungsrechtliche Instanzen zu umgehen.

"Wir haben alle Fehler gemacht", meinte der ehemalige Geheimdienstchef Saleh, Gründer und Leiter der politischen Bewegung 'The Green Trend'. Nun, wo der internationale Truppenabzug vor der Tür stehe, müsse mit einer sofortigen Bewältigung der Krise begonnen werden. So gelte es die staatlichen Institutionen wie die Justiz und auch die Streitkräfte zu stärken.

Die Zukunft Afghanistans liegt nicht in Bonn und vermutlich auch nicht in Washington", erklärte Britta Peterson, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in pakistanischen Lahore. Damit verwies sie auf die internationale Dimension des Konflikts und die Notwendigkeit, die Bedeutung Pakistans und anderer Länder der Region für eine Lösung des Afghanistan-Konflikts nicht zu unterschätzen. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.boell.de/calendar/VA-viewevt-en.aspx?evtid=10167
http://www.boell.de/worldwide/asia/asia-afghanistan-2011-10-years-international-engagement-dossier-12086.html

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2011