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OFFENER BRIEF/038: Den Kreislauf der Diskriminierung und Vertreibung durchbrechen (Grundrechtekomitee)


Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. - 9. November 2010

Den Kreislauf der Diskriminierung und Vertreibung durchbrechen


Das Komitee für Grundrechte und Demokratie wendet sich in einem offenen Brief an die Konferenz der Innenminister und -senatoren mit der Forderung, in praktischer Verantwortung für die deutschen Verbrechen an Roma und Sinti während der Zeit des Nationalsozialismus den Minderheiten aus dem Kosovo endlich ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren.

Die Gruppe der Roma und anderer Minderheiten aus dem Kosovo stellten weder qualitativ noch quantitativ ein Problem der Integration dar. Deshalb gäbe es keine Gründe, "einer Gruppe von Menschen wie den Roma aus dem Kosovo unbegrenztes Aufenthaltsrecht und, wenn diese wollen, dauerndes Bleibe- und mehr noch Staatsbürgerrecht zu verwehren". Der Kreislauf andauernder Diskriminierung und Vertreibung der Minderheiten aus dem Kosovo könnte hier in Deutschland durchbrochen werden. Dazu genügte ein Beschluss der IMK.

gez. Dirk Vogelskamp


*


Köln, den 9. November 2010
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Aquinostraße 7-11 | 50670 Köln

An die Konferenz
der Innenminister und -senatoren
Vors. Senator Heino Vahldieck
Johanniswall 4
20095 Hamburg

die Konferenz der Innenminister und -senatoren
Geschäftsstelle beim Bundesrat
Herrn Vors. Senator Heino Vahldieck
Postanschrift:
11055 Berlin



Offener Brief

Bezug: IMK am 18. und 19. November 2010 in Hamburg

Betr.: Abschiebungen von Minderheiten, darunter Roma-Angehörige, in den Kosovo

Sehr geehrter Herr Senator Vahldieck,
sehr geehrter Herr Dr. de Maizière,
sehr geehrte Herren Innenminister und Innensenatoren,

als bundesweite Menschenrechtsorganisation wenden wir uns an Sie mit einem dringenden Ersuchen. Die Diskriminierung von Menschen, die den ethnischen Minderheiten wie Sinti und Roma zugerechnet werden, ist alt ("Zigeuner"). Sie hat während der Zeit des Nationalsozialismus bis an die Grenze des Genozid einen mörderisch kollektiven und individuellen Tiefpunkt erreicht: Hunderttausende europäische Sinti und Roma wurden in deutscher Verantwortung ermordet. Diskriminierungen und Vorurteile leben bis in die Gegenwart hinein fort.

Erst jüngst hat der französische Präsident Sarkozy sich einer die Menschen ins Elend verjagenden Vorurteilsmühle wahltaktisch bedient und an die niedrigsten Motive im Menschen appelliert. Gewaltförmiger Antiziganismus breitet sich heute in Europa aus wie ein Lauffeuer. Um die französischen Lager, in die Roma eingesperrt wurden, und deren anschließende Vertreibung inmitten der Europäischen Union zu rechtfertigen, hat Sarkozy auf ähnliche Lager in Deutschland hingewiesen. Das ist so falsch.

Richtig aber ist ein Dreifaches: 1. Dass in Deutschland seit langem Verwahr-, Ausreise- und Abschiebelager (ergänzt durch Abschiebeknäste) existieren, in die nicht zum Asyl zugelassene Menschen, Frauen und Kinder gepfercht werden. Sie sollen zur "freiwilligen Rückkehr" in ihre oft nicht aufnahmebereiten und/oder sie gefährdenden Herkunftsländer mit wenigen Euro Handgeld genötigt werden. 2. Dass spätestens seit 2008 auch Angehörige der Kosovo-Minderheiten wie Roma, Aschkali und Ägypter, von denen viele vor rund 10 Jahren im Rahmen des NATO- und BRD-Krieges gegen die Republik Jugoslawien ("Kosovo-Krieg") bzw. infolge hierdurch intensivierter Vertreibungen durch albanische Nationalisten geflohen sind, in den Kosovo abgeschoben werden. 3. Dass ethnische Minderheiten wie die Roma aus dem Kosovo oder aus anderen osteuropäischen Staaten wieder und wieder vertrieben werden. Es scheint europaweit gleich zu sein, woher die Roma stammen, wenn sie nur dorthin zurückbefördert werden können, woher sie geflohen sind oder vertrieben wurden.

Aktuell sind Roma aus dem Kosovo in Deutschland in akuter, zum Teil schon realisierter Gefahr, dorthin abgeschoben zu werden. Obwohl sie zum Teil ein Jahrzehnt lang oder länger in den einzelnen Bundesländern leben, freilich lediglich geduldet und häufig mit Arbeitsverbot belegt. Residenz- und meldepflichtig sind sie in ihren Menschenrechten eingeengt und stets von Abschiebung bedroht. Viele ihrer Kinder sind hier geboren und gehen hier zur Schule. Aus ihnen droht im Kosovo eine zukunftslose und verzweifelte Generation zu werden. Viele der rund 10.000 Roma wehren sich dagegen, in den Kosovo zurückgezwungen zu werden, weil ihre Lebenssituation dort nachweislich diskriminiert, jämmerlich und gefährdet wäre. Die vielen internationalen Appelle, die Roma aus dem Kosovo nicht dorthin zu deportieren, müssen nicht noch einmal aufgeführt werden.

Nicht nur die Vielen schon verblasste Vergangenheit mahnt. Jetzt und in Zukunft wird die Qualität des Lebens in der Bundesrepublik und europawärts daran zu messen sein, wie die unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung mit ihrer Vielheit und Andersartigkeit in friedlichem Streit miteinander umgehen. Indem sie hier in der Bundesrepublik Deutschland an den von den einzelnen und Gruppen gewählten Orten das unverkürzte politisch soziale Lebensrecht aller Menschen verwirklichen.

Wir möchten Sie mit allem bürgerlich demokratischen, grund- und menschenrechtlichen Nachdruck ersuchen, umgehend einen Beschluss zu fassen, alle Vorkehrungen und Maßnahmen zu stoppen, die darauf gerichtet sind, geflohene Bürgerinnen und Bürger aus dem Kosovo, vor allem solche, die den Roma und anderen Minderheiten zugerechnet werden, in den Kosovo zurückzudrängen (mit welchem Mittel "freiwilligen Zwangs" auch immer) oder gar abzuschieben.

Zu den Gründen im Einzelnen (sie könnten umgehend durch eine Fülle von Belegen untermauert werden):

Die Roma aus dem Kosovo, die in deutsche Lande geflohen sind, sind nicht aus eigenem Antrieb gekommen (der als solcher zulässig wäre). Viele mussten im Umkreis des sogenannten Kosovo-Krieges das Land verlassen, viele wurden vertrieben, weitere hatten dort keine menschenwürdigen Existenzgrundlagen mehr.

Am Krieg der NATO im Frühjahr 1999 hat sich die Bundesrepublik beteiligt. Es war auch ihr Krieg. Konsequent sind ein Teil der Menschen, die ihre Bleibe und andere Lebensumstände verloren haben, nach Deutschland geflohen ("Kriegsflüchtlinge"). Zwar hat sich die Lage in den Ländern des vormaligen Jugoslawien in vieler Hinsicht entspannt. Das gilt auch für das zum selbstständigen Staat erklärte Gebiet Kosovo. Mitnichten aber sind die sozialen und politischen Bedingungen der schon zuvor diskriminierten Minderheit so, dass man sie vor allem Kindern und Heranwachsenden zumuten dürfte. Ihre Menschenrechte können dort nicht geschützt werden.

Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 ist seinerzeit ministeriell unter anderem damit gerechtfertigt worden, die "Deutschen" hätten aus den von ihnen verschuldeten genozidalen Massakern vor allem während des 2. Weltkrieges gelernt. Wie immer es mit diesen "Lehren aus dem Krieg" bestellt sein mag, das Friedenlernen ist ungleich entscheidender. Und hier kommt es zuerst darauf an, dass Frauen, Männer, Kinder, die vom Krieg aufgerieben worden sind, die in Orten der Bundesrepublik eine Bleibe gefunden haben, diese erst dann und in der Tat freiwillig aufgeben sollen, wenn sie andere lebenswürdige Verhältnisse vorfinden.

In der Bundesrepublik Deutschland und ihren Ländern ist neuerdings viel von Integration die Rede. Auch von ihren Problemen und Grenzen. Wie immer man diese bestimmen mag, keine Frage ist es, dass die Gruppe der Roma aus dem Kosovo (das gilt prinzipiell auch für andere Minderheiten) weder qualitativ noch quantitativ ein Problem der Integration darstellten. Außer früh gewachsenen und lebendig erhaltenen, dem Grundgesetz und allen Landesverfassungen als Grundlage des Rechtsstaats widersprechenden Vorurteilen gibt es keine Gründe, einer Gruppe von Menschen wie den Roma aus dem Kosovo unbegrenztes Aufenthaltsrecht und, wenn diese wollen, dauerndes Bleibe- und mehr noch Staatsbürgerrecht zu verwehren. Hier in Deutschland könnte der Kreislauf andauernder Diskriminierung und Vertreibung durchbrochen werden - im Kosovo erwartet die Menschen Ausgrenzung und Hoffnungslosigkeit, unsägliches Elend und erneute Flucht.

Wir ersuchen Sie deshalb um der Menschen willen und in praktischer Verantwortung für die niemals wieder "gut" zu machenden deutschen Verbrechen an Sinti und Roma, der dringenden Forderung zu entsprechen: Beschließen Sie endlich ein Bleiberecht für Roma und andere Minderheiten aus dem Kosovo.

Für das Komitee für Grundrechte und Demokratie
Dr. Thomas Hohlfeld
Prof. Wolf-Dieter Narr
Dirk Vogelskamp

P.S.: Einer Antwort auf unser Schreiben sehen wir entgegen.


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Quelle:
Mitteilung vom 9. November 2010
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Aquinostr. 7-11, 50670 Köln
Telefon: 0221/9726920
E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
Internet: www.grundrechtekomitee.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2010