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STANDPUNKT/035: Türkisch-kurdischer Konflikt - Neues Denken ist angesagt (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 11/2010
Dialog-Kreis

Der Kommentar
Neues Denken ist angesagt

Von Andreas Buro


Die Lage im türkisch-kurdischen Konflikt ist widersprüchlich und verwirrend. Da erklärt der Präsident der Türkei Abdullah Gül, es sei die vordringlichste Aufgabe der Türkei, diesen Konflikt zu lösen. Die Regierungspartei AKP, der auch der Präsident angehört, läßt nach den Kommunalwalen 2009 hunderte kurdischer Persönlichkeiten, die gewählt wurden oder einer legalen kurdischen Partei angehören, verhaften und stellt sie in Massenprozessen vor Gericht. Selbst Mitglieder von Friedensgruppen, von der PKK entsandt, werden verhaftet, während andere sich wieder in die "Berge" zurückziehen müssen. Jüngst hört man von Abdullah Öcalan, Vertreter der Regierung führten mit ihm auf Imrali Gespräche, die möglicherweise schon fast in Verhandlungen über gingen. Am 31. Oktober 2010 verübten vermutlich die kurdischen 'Freiheitsfalken' (FR 5.11.2010) in Istanbul ein Selbstmordattentat, bei dem 32 Menschen verletzt wurden. Etwa zur gleichen Zeit fordern europäische Juristen die Streichung der PKK von der EU-Terrorliste.

Ich versuche das Knäuel zu entwirren. Die Aussage von Präsident Gül ist wohl sehr ernst zu nehmen. Die Gespräche in Imrali unterstreichen das. Aber Priorität hat bei allen Parteien die

Sicherung der Macht. Das ist der AKP bei den Kommunalwahlen schlecht gelungen. Sie hat daraufhin den großen und bis heute nicht korrigierten Fehler gemacht, auf die kurdischen Eliten einzuschlagen, die eigentlich ihre Partner bei der Lösung des Konflikts sein müßten. Dieses Verhalten hat selbstverständlich auf der kurdischen Seite große Empörung ausgelöst und die Tendenz bei Splittergruppen verstärkt, durch Terrorakte Rache zu nehmen. Das ist eine große Gefahr für die kurdische Seite, weil dadurch angesichts der bestehenden Medienlandschaft ihre Glaubwürdigkeit, eine friedliche Lösung anzustreben, in Frage gestellt wird. Die europäischen Juristen aber auch Friedensorganisationen werden es deshalb sehr schwer haben, ihr Anliegen, die PKK von der EU-Terrorliste zu streichen, wirkungsvoll zu vertreten. Ohne diese Streichung werden sich die EU-Staaten und vermutlich auch die USA nicht wirklich für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts einsetzen.

Was ist in dieser verfahrenen Situation zu lernen? Wenn es auch AKP und PKK schwer fallen wird, sie müssen begreifen, dass sie Partner bei der Lösung dieses Konflikts sind. Denn die Fortführung des militärischen Kampfes ist in jeder Hinsicht nicht nur aussichtslos, sondern auch konterproduktiv. Sie können also den Konflikt nicht gegeneinander sondern nur miteinander lösen.

Welche anderen politischen Kräfte in der Türkei könnten denn an die Stelle der AKP treten? Die Generäle? Die kemalistische Partei CHP? Oder gar die rechte MHP? Ich sehe keinen anderen Partner für die Kurden als die AKP. Wenn also AKP und PKK de facto politische Partner bei der Lösung dieser Frage sind - was beide vermutlich in der Öffentlichkeit vehement dementieren würden - so müssen sie überlegen, welche legitimen Interessen der jeweils andere hat, die zu berücksichtigen sind. Meiner Einschätzung nach ist dies bei der AKP zu allererst die Sicherung der Macht bei den Wahlen im kommenden Jahr. Die AKP wird voraussichtlich von der CHP unter ihrer neuer Führung sehr bedrängt werden. Die AKP hat nach wie vor die Generäle und große Teile der Justiz gegen sich. Auch ist es für die kurdische Seite völlig legitim, sich konsequent um Stimmen für ihre eigene Partei zu bemühen, die dann der AKP fehlen werden. Das war bereits bei den Kommunalwahlen der Fall. Ist es nicht dann für beide Seiten vernünftig, schon heute eine Art potentieller Koalition für die Zeit nach der Wahl zu vereinbaren?

Zu verabreden wären die Ziele, die gemeinsam verfolgt werden sollten. Dazu gehören selbstverständlich die Schritte zur Lösung der kurdischen Frage im kulturellen Bereich. Vermutlich könnte auch die Förderung des "anatolischen Projekts", die wirtschaftliche, infrastrukturelle und soziale Entwicklung im Osten und Südosten, dazu gehören, was sowohl den Kurden wie auch der AKP nützen würde. In das Paket müßte ohne Zweifel auch eine Amnestie für alle Verbrechen der Vergangenheit und politischen Verurteilungen, wie ein endgültiges Ende des kurdischen Guerilla-Kampfes und der Angriffe des türkischen Militärs und der Sondermilizen gepackt werden. Wäre es nicht auch klug von Seiten der AKP, die 10% Wahlhürde auf 5% zu senken, was die kurdische legale politische Vertretung stabilisierte? Vielleicht wird über solche Fragen in Imrali bereits gesprochen.

An dieser Stelle breche ich ab, weitere Vorschläge für das Paket vorzutragen. Doch etwas anderes ist noch von größter Wichtigkeit. Beide Seiten müssen sich aktiv darum bemühen, die gegenseitigen Feindbilder abzubauen. Die giftige Polemik hat sich tief in das Bewusstsein der Gefolgsleute auf beiden Seiten eingegraben. Die Schuld wird nur jeweils auf der anderen Seite gesehen, statt selbstkritisch das eigene Verhalten zu überprüfen. Das ist keine Aufforderung zur Nestbeschmutzung, sondern dient der Überprüfung der eigenen Politik in Hinblick auf die Förderung einer friedlichen Lösung. Hier und da ist ein Verständnis für die schwierigen Probleme der jeweils anderen Seite zu entwickeln. Wäre es nicht sinnvoll auch anzuerkennen, was die andere Seite geleistet hat, auch wenn man sich mehr wünscht? Das wird den jeweiligen Repräsentanten schwer fallen. Wäre es nicht eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft solches neue Bewusstsein zu entfalten und damit die Voraussetzungen für eine Politik der Aussöhnung und Durchsetzung einer friedlichen, politischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zu schaffen?


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 11/2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2010