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STANDPUNKT/063: Ägypten - Demonstrationen ohne Führung und eine selbstverwaltete Besetzung (AIK)


Antiimperialistische Koordination

Demonstrationen ohne Führung und eine selbstverwaltete Besetzung
Die Innovationen des ägyptischen Volksaufstands

Von Yasser Abdallah - Kairo, 27.02.2011


Seit dem Abgang Mubaraks konzentrieren sich die arabischen und internationalen Medien auf die Rolle der virtuellen sozialen Netzwerke und der modernen Kommunikationsmittel im ägyptischen Volksaufstand und vergessen dabei absichtlich die anderen revolutionären Innovationen der Ägypter im Kampf gegen den Diktator, ein Kampf, der auf der Basis der Spontaneität und Freiwilligkeit geführt wurde. Die wichtigsten Innovationen sind, nach Meinung des Autors, die Demonstrationen, die ohne hierarchische Führung verliefen, sowie die selbstverwaltete Dauerkundgebung am Tahrir-Platz.



Taktik des "Black Block"

Die Taktik des Black Block tauchte zum ersten Mal im Deutschland der Achtziger in der Antinuklearbewegung auf. Sie beruht auf der Ansammlung von Demonstranten in großen Blöcken, wo sie sich durch schwarze Bekleidung und Masken von den übrigen Demonstrationsteilnehmern differenzierten. Die Teilnahme am Black Block ist freiwillig und der Modus Operandi schließt die Existenz einer zentralen Führung aus.

Im Gegensatz zu den früheren Demonstrationen in Ägypten, die von Parteien und politischen Organisationen organisiert wurden, hatten die Demonstrationen des Volksaufstands einen spontanen Charakter, was Mobilisierung und Bewegung betraf. Niemand fragte nach der Person und der politischen Identität des Nachbarn. Die erste Millionenmobilisierung am 28. Jänner war die Entscheidungsschlacht dieses Aufstands. Sie fand an einem Freitag statt, als eine große Anzahl von Menschen nach dem Freitagsgebet auf den Straßen war. Die Menschenmenge bewegte sich spontan in Richtung Hauptplätze. Die Dynamik ähnelt dem Black Block hinsichtlich der Spontaneität und des Fehlens einer zentralen Führung. Die Demonstrationen konnten ohne Führung bestehen, bis der Tahrir-Platz unter Kontrolle der Demonstranten gebracht und von den Truppen Mubaraks befreit wurde.


Temporäre autonome Zonen

In seiner Studie über temporäre autonome Zonen (TAZ) definiert der US-amerikanische Anarchist Hakim Bey diese Zonen als Orte, die temporär von jeder Form hierarchischer Autorität isoliert werden. Als Beispiel gibt er die sicheren Unterschlüpfe der Piraten (eng.: pirate utopias). Das Hauptmerkmal dieser Zonen ist das Entfallen der Autorität und die unhierarchische Kontrolle der Zone durch die Besatzung. Dies galt fünfzehn Tage lang bei der Besetzung des Tahrir-Platzes vor dem Abgang Mubaraks und kurz danach. Andere verglichen den Platz mit der Pariser Kommune, wobei bestimmte Autoren gegen diesen Vergleich waren, weil die Besetzung von Tahrir keinen expliziten Klassencharakter hatte.

Als Teilnehmer an der Besatzung kann ich bestätigen, dass die Selbstverwaltung des Platzes unhierarchisch verlaufen ist. Es gab keine Form der Autorität. Auch die "Ordnungskomitees" und "Schutzkomitees" waren nur Namen von spontaner und momentaner Zusammensetzung, die sich nach Megaphonaufrufen bildeten und sich zur Abwehr zu einem der Platzeingänge begaben. Diese "Komitees" bestanden aus jedem, der an der Besetzung, egal wie lange, teilnahm. Als Alarm geschlagen wurde, trugen alle Stöcke und Steine und gingen zu den Eingängen, um den Platz vor den Angriffen der Schläger zu beschützen. Dies war eine spontane Innovation des ägyptischen Aufstands. Das Entfallen einer zentralen Führung machte es dem Regime schwer, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Das erklärt die wiederholte Forderung seitens der Vertreter des Regimes nach der Bildung einer Führung, mit der sie verhandeln könnten.


Was nach dem Abgang Mubaraks?

Sobald Mubarak abgegangen war, kamen Aufrufe zu Putzkampagnen und Verschönerung der Stadt. Es wurde aufgerufen, neue Bäume zu pflanzen, die Verkehrsregeln zu respektieren und auf den Straßen keine Mädchen zu belästigen. Dies war der Diskurs der städtischen Bourgeoisie, die sich ebenfalls in Opposition zu Mubarak befand, weil sein korruptes Regime auch ihre Entwicklung gehemmt hatte. Die städtische Bourgeoisie rebellierte nicht gegen das kapitalistische Regime, sondern gegen die Reste der mafiösen Militärbürokratie, deren Verwaltung Ägyptens die Entwicklung einer freien Marktwirtschaft im Lande verhindert hatte.

Gleichzeitig brachen in mehreren Orten und Städten Arbeiteraufstände, die pure gewerkschaftliche Forderungen hatten, aus. Einige Initiativen kombinierten das Wirtschaftliche mit dem Politischen, wie jene der Postangestellten, deren Aufruf vom "Komitee der Postangestellten zum Schutz der Revolution" unterzeichnet wurde.

Die Gefahr liegt in den Aufrufen der bürgerlichen Kräfte zur Einheit. Gemeint ist eine Einheit unter dem Banner der Bourgeoisie. Diese ist durch eine mögliche Radikalisierung des Aufstandes und seiner Umwandlung von bloßen konstitutionellen Forderungen in eine soziale Revolution gegen die kapitalistische Ausbeutung und die Lohnarbeit verängstigt.

Daher wird jeder Arbeiterstreik als eine sektiererische Aktion dargestellt, welche die Kräfte spaltet und zur falschen Zeit stattfindet. Einige stellen Arbeiterproteste sogar als eine Gegenbewegung, die vom alten Regime gesteuert werde, dar. Diese Stimmen klingen synchron mit den Warnungen des regierenden Militärrates vor allen Formen von Protesten und Demonstrationen.

Eine Radikalisierung der ägyptischen Intifada hängt von der Beteiligung und der Selbstorganisierung der Arbeiterkräfte gegen die Macht des Kapitals, des Staates und des Militärs ab. Das ist der einzige Garant für die Entwicklung des Aufstandes und seine Umwandlung in eine soziale Revolution.

Heute steht die ägyptische Intifada vor drei Hauptszenarien:

a. Der Aufstand beschränkt seine Forderungen auf die Verbesserung der Bedingungen des politischen Konfliktes und einige konstitutionelle Reformen, welche die Hauptelemente des sozialen und politischen Systems nicht in Frage stellen. Dies würde eine neue, weniger hässliche Auflage des Mubarak-Regimes bedeuten.

b. Die Entwicklung der Sozialproteste der Arbeiter von wirtschaftlichen Protesten in eine Bewegung, die das Wirtschaftliche mit dem Politischen verbindet. Diese Entwicklung der Arbeiter "von einer Klasse an sich in eine Klasse für sich" würde den Aufstand in eine echte soziale Revolution verwandeln.

c. Das dritte und schlimmste Szenario ist die Entwicklung einer neuen faschistoiden Macht, welche die Rufe zu "Einheit" für die Beseitigung jeder Pluralität ausnützt. Diese Gefahr kommt nicht nur von religiöser Seite, sondern auch von Populisten, welche die sozialen und antiimperialistischen Volksforderungen teilweise erfüllen und dafür jede demokratische Entwicklung unterbinden.

Diese und andere Szenarien stehen der ägyptischen Intifada bevor, die ein Aufstand des Zornes ist, der das Stadium der Revolution noch nicht erreicht hat.



URL des Beitrags: www.antiimperialista.org/de/node/6849


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Quelle:
Antiimperialistische Koordination
Kontakt: Wilhelm Langthaler
Telefon: +43-(0)650-4134677
E-Mail: aik@antiimperialista.org
Internet: www.antiimperialista.org/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2011