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STANDPUNKT/330: In 90 Jahren (Uri Avnery)


In 90 Jahren

von Uri Avnery, 2. November 2013



Aus Anlass meines 90. Geburtstages fand eine Diskussionsrunde mit wichtigen Historikern in Tel Avivs Tzawta-Halle über die Frage statt: "Wird Israel weitere 90 Jahre existieren?" Es folgt eine leicht gekürzte Version meiner eigenen Bemerkungen. Ein Video der vollständigen Diskussionsrunde mit Übersetzung ins Englische wird so bald wie möglich veröffentlicht.


WIRD ISRAEL noch weitere 90 Jahre bestehen? Diese Frage an sich ist typisch für Israel. Keiner würde diese Frage in England oder Deutschland oder gar in anderen Staaten, die durch Immigration entstanden sind, wie Australien oder die USA, ernsthaft stellen.

Doch hier sprechen die Leute ständig von "existenziellen Gefahren". Ein palästinensischer Staat ist eine existentielle Gefahr. Die iranische Bombe ist eine existentielle Gefahr. Warum? Sie werden ihre Bombe haben, wir haben unsere Bombe; so wird es ein "Gleichgewicht des Terrors" geben. Na und?

In unserem Nationalcharakter gibt es anscheinend etwas, das Selbstzweifel und Unsicherheit fördert. Vielleicht der Holocaust. Vielleicht ein unbewusstes Gefühl von Schuld? Vielleicht die Folge eines ewigen Krieges oder sogar der Grund für einen?


LASSEN SIE mich direkt von Anfang an erklären: Ja, ich glaube, Israel wird in 90 Jahren noch bestehen. Die Frage ist: welche Art von Israel? Wird es ein Land sein, auf das ihre Ur-Ur-Urenkel und -enkelinnen stolz sein werden? Ein Staat, in dem sie gerne leben werden?

An dem Tag, an dem der Staat gegründet wurde, war ich 24 Jahre alt. Meine Kameraden und ich waren Soldaten in unserer neuen Armee, aber wir dachten nicht, dass dies Ereignis bedeutsam sei. Wir bereiteten uns für die in der Nacht bevorstehende Schlacht vor. Die Reden der Politiker in Tel Aviv interessierten uns nicht besonders. Wir wussten, wenn wir den Krieg gewinnen würden, würde es einen Staat geben. Wenn nicht, dann würde es weder einen Staat noch uns geben.

Ich bin niemand, der sich nach der Vergangenheit sehnt. Ich empfinde keine Sehnsucht nach dem Israel vor (dem Krieg von) 1967, wie sie einige meiner Kollegen hier ausgedrückt haben. Eine Menge lief damals auch falsch. Zum Beispiel wurde eine riesige Menge arabischer Besitz enteignet. Aber lasst uns nicht zurückblicken. Schauen wir auf das Israel von heute und fragen wir uns: Wohin geht's von hier aus?


WENN ISRAEL seinen jetzigen Kurs weitergeht, wird es eine Katastrophe geben.

Das erste Stadium wird Apartheid sein. Sie besteht schon in den besetzten Gebieten, und sie wird sich ins eigentliche Israel ausbreiten. Der Abstieg in den Abgrund wird nicht dramatisch und überstürzt vonstattengehen. Es wird nach und nach geschehen, fast unmerklich.

Danach wird der Druck auf Israel langsam wachsen. Die Demographie wird ihr Werk tun. Irgendwann, bevor die 90 Jahre vorbei sind, wird Israel gezwungen sein, den Palästinensern die Bürgerrechte zu gewähren. Dann wird eine Mehrheit der Bürger arabische Mehrheit sein. Ja, Israel wird ein Staat mit einer arabischen Mehrheit sein.

Manche mögen das begrüßen. Aber es wird das Ende des zionistischen Traumes sein. Der Zionismus wird eine historische Episode sein. Dieser Staat wird wie jedes andere Land sein, in dem diejenigen Juden, die dann noch hier sein werden, in der Minderheit leben.

Da gibt es solche, die sagen: "Es gibt keine Lösung." Wenn es so ist, sollten wir uns alle einen ausländischen Pass anschaffen.

Einige träumen von einer sog. "Ein-Staaten-Lösung". Nun, während des letzten halben Jahrhunderts sind viele Staaten, in denen verschiedene Nationen zusammenlebten, auseinandergebrochen. Eine unvollkommene Liste: die Sowjetunion, Zypern, Jugoslawien, dann Serbien, Tschechoslowakei, Sudan. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass sich zwei Nationen freiwillig zu einem einzigen Staat vereinigt hätten. Kein einziges.


ICH HABE keine Angst vor irgendeiner militärischen Bedrohung. Es gibt keine wirkliche Gefahr. Nicht in unserer Zeit. Kein Land, das Atomwaffen besitzt, kann durch Gewalt zerstört werden. Wir sind in der Lage, uns selbst zu verteidigen.

Eher fürchte ich interne Gefahren: die Implosion unser intellektuellen Standards, die Vermehrung des parasitischen orthodoxen Establishment und besonders Auswanderung. Die ganze Welt wird immer beweglicher. Familien trennen sich. Zionismus ist eine Straße, die in beiden Richtungen befahren werden kann. Wenn du in Los Angeles ein so guter Jude sein kannst wie in Haifa, warum dann bleiben?

Die Verbindung zwischen Israel und den Juden in aller Welt wird langsam schwächer werden. Das ist natürlich. Wir sind eine neue Nation, verwurzelt in diesem Land. Dies ist unser reales Ziel. Unsere Verbindung mit der Diaspora wird - sagen wir - wie zwischen Australien und England sein.


ICH MÖCHTE eine grundsätzliche Frage stellen: wird der Nationalismus selbst überleben?

Wird er von neuen kollektiven Organisationen und Ideologien ersetzt werden?

Ich denke, der Nationalismus wird weiter bestehen. Im letzten Jahrhundert gelang es keiner Macht, ihn zu überwinden. Die internationalistische Sowjet-Union ist zusammengebrochen und hinterließ nichts als einen ungezügelten, rassistischen Nationalismus. Kommunismus hat nur Erfolg, wenn er - wie in Vietnam und China - auf der Welle des Nationalismus daherkam. Religion hatte Erfolg, wenn sie sich vom Nationalismus mitnehmen ließ wie im Iran.

Worin liegt die Macht des Nationalismus? Anscheindend braucht der Mensch ein Gefühl der Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, zu einer Tradition, zu Geschichtserinnerungen (realen oder erfundenen), zu einem Heimatland, zu einer Sprache.


ICH SOLLTE die Frage anders stellen: Wird der Nationalstaat überleben?

Objektiv gesehen ist der Nationalstaat ein Anachronismus. Er ist in den letzten drei Jahrhunderten entstanden, weil die wirtschaftliche Notwendigkeit eines Staates einen großen lokalen Markt und seine militärische Notwendigkeit eine angemessenen Armee und so weiter verlangte, also einen Staat von einer Größe wie, sagen wir einmal, Frankreich. Aber jetzt sind fast alle diese Funktionen von regionalen Blöcken wie der EU übernommen worden.

Dies ist der Grund für ein seltsames Phänomen: während Nationalstaaten sich zu größeren Unionen vereinigen, brechen sie selbst in kleinere Staaten auseinander. Schotten, Korsen, Flamen, Katalanen, Basken, Tschechen, die französischen Kanadier und viele, viele mehr, die Unabhängigkeit suchen.

Warum? Ein Schotte denkt, ein unabhängiges Schottland könne sich der EU anschließen und all die Vergünstigungen einstecken, ohne unter dem englischen Snobismus leiden zu müssen. Lokaler Nationalismus übertrumpft größeren Nationalismus.


WO WERDEN wir also in 90 Jahren sein zu Beginn des 22. Jahrhunderts?

Im Jahr meiner Geburt 1923 rief ein österreichischer Edelmann mit Namen Graf Nikolaus Coudenhove-Kalergi zu einer pan-europäischen Bewegung auf, um die Vereinten Staaten von Europa zu schaffen. In jener Zeit, ein paar Jahre nach dem Ersten und wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg klang dies wie eine verrückte Utopie. Jetzt haben wir die europäische Union.

In diesem Augenblick sehen "die Vereinigten Staaten der Welt" wie eine verrückte Utopie aus. Aber wir werden um eine gewisse Art von Weltregierung nicht herumkommen. Die globale Wirtschaft benötigt dies, um zu funktionieren. Globale Kommunikationsmittel machen es möglich. Globale Spionage besteht bereits. Nur eine leistungsfähige globale Behörde kann unseren leidenden Planeten retten und den Kriegen und Bürgerkriegen, weltweiten Epidemien und weltweitem Hunger ein Ende setzen.

Kann eine Weltregierung demokratisch sein? Ich hoffe es. Die weltweiten Kommunikationsmittel machen es möglich. Eure Nachkommen werden ein Weltparlament wählen.

Wird der Nationalstaat weiter in dieser "tapferen neuen Welt" existieren? Ja, er wird.

So wie Nationalstaaten im heutigen Europa existieren: jeder mit seiner Flagge, seiner Nationalhymne, seinem Fußballteam, seiner lokalen Verwaltung.

Dies ist meine optimistische Vision. Israel, der Nationalstaat des israelischen Volkes, eng verbunden mit dem Nationalstaat des palästinensischen Volkes, wird Mitglied einer regionalen Union sein, die die arabischen Staaten einschließen wird und hoffentlich auch die Türkei und den Iran als stolzes Mitglied der Vereinigten Staaten der Welt.

Ein demokratischer, liberaler und säkularer Staat, in dem eure Nachkommen stolz erklären werden: "Ich bin ein Israeli!"


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 02.11.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2013