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STANDPUNKT/395: Anständiger Respekt (Uri Avnery)


Anständiger Respekt

von Uri Avnery, 18. Oktober 2014



WENN DAS britische Parlament eine Resolution zu Gunsten der israelischen Besatzung der Westbank angenommen hätte, dann hätte die Reaktion unserer Medien etwa so ausgesehen:

In einer Atmosphäre großer Begeisterung nahm das britische Parlament mit großer Mehrheit (274 dafür und nur 12 dagegen) einen pro-israelischen Entschluss an. Mehr als die Hälfte der Sitze waren besetzt, mehr als gewöhnlich. Die Gegner Israels verbargen sich und wagten nicht, dagegen zu stimmen."

Leider stimmte das britische Parlament in dieser Woche über eine pro-palästinensische Resolution ab und unsere Medien reagierten fast einstimmig so:

"Die Halle war halb leer. Es gab keine Begeisterung. Eine bedeutungslose Übung. Nur 274 Mitglieder stimmten für die Resolution, die zu nichts verpflichtet. Viele Mitglieder blieben fern."

Doch alle unsere Medien berichteten ausführlich über die Vorgänge, viele damit zusammenhängende Artikel erschienen in den Zeitungen. Eine ziemliche Leistung für solch einen zu vernachlässigenden, unbedeutenden, unscheinbaren, folgenlosen, trivialen, unwichtigen Akt.

Einen Tag zuvor hatten 363 jüdisch-israelische Bürger das britische Parlament dazu aufgerufen, die Resolution anzunehmen, die von der britischen Regierung verlangt, den Staat Palästina anzuerkennen. Zu den Unterzeichneten gehören ein Nobelpreisträger, mehrere Träger des höchsten israelischen zivilen Preises, zwei frühere Kabinettminister und vier frühere Knesset-Mitglieder (mich eingeschlossen), Diplomaten und ein General.

Die offizielle Propagandamaschine agierte nicht. Man wusste, dass die Resolution sowieso irgendwie angenommen würde, so versuchte man das Ereignis so weit wie möglich herunterzuspielen. Der israelische Botschafter in London war nicht erreichbar.


WAR ES ein zu vernachlässigendes Ereignis? Im streng verfahrensorientierten Sinn war es das. In weiterem Sinne war es weit entfernt davon. Für die israelische Führung ist es der Bote sehr schlechter Nachrichten.

Ein paar Tage zuvor kam eine ähnliche Nachricht aus Schweden. Der neu gewählte linke Ministerpräsident verkündete, dass seine Regierung die Anerkennung des Staates Palästina in naher Zukunft in Betracht ziehen würde.

Schweden, wie auch England wurden immer als "pro-israelische" Länder angesehen, die in der UN zuverlässig gegen "Anti-Israel"-Resolutionen stimmten. Wenn so bedeutende westliche Nationen ihre Haltung gegenüber der Politik Israels überdenken, was bedeutet das?

Ein weiterer unerwarteter Schlag kam von Süden. Der ägyptische Diktator Muhammad Abd-al-Fatah al-Sisi nahm der israelischen Führung die Illusion, dass die "gemäßigten" arabischen Staaten die Reihen von Israels Verbündeten gegen die Palästinenser auffüllen würden. In einer scharfen Rede gemahnte er seinen neugefundenen Seelenfreund Benjamin Netanjahu daran, dass die arabischen Staaten erst dann mit Israel zusammenarbeiten würden, wenn Israel Frieden mit dem palästinensischen Staat geschlossen hätte.

Damit brachte er den frisch aufgeblasenen Ballon zum Platzen, den Netanjahu hatte steigen lassen - nämlich die Vorstellung, dass pro-amerikanische arabische Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, die Emirate, Kuwait und Katar sich offen als Verbündete Israels bekennen würden.

In Süd-Amerika hat sich die öffentliche Meinung schon merklich gegen Israel verschoben. Die Anerkennung Palästinas gewinnt in offiziellen Kreisen ebenfalls an Boden. Selbst in den USA scheint die bedingungslose Unterstützung für die israelische Regierung zu schwanken.

Um Himmels willen, was geht hier vor?


WAS HIER vor sich geht, ist eine tiefe, die Haltung der öffentlichen Meinung Israel gegenüber in ihren Grundfesten erschütternde Veränderung.

Seit Jahren ist Israel in den Medien der Welt hauptsächlich als ein Land erschienen, das palästinensisches Land besetzt. Pressefotos von Israelis zeigen fast nur schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten, die sich gegen protestierende Palästinenser, oft Kinder, stellen. Nur einige dieser Bilder hinterließen einen unmittelbar dramatischen Eindruck, aber die schrittweise anwachsende Wirkung hätte nicht unterschätzt werden sollen.

Ein wirklich aufmerksamer diplomatischer Dienst hätte seine Regierung schon vor langer Zeit gewarnt. Aber unser Auslandsdienst ist durch und durch demoralisiert. Sein Chef Avigdor Lieberman, ein brutaler, schwergewichtiger Tyrann, den viele seiner Kollegen in aller Welt als Halbfaschisten betrachten, terrorisiert das diplomatische Corps, dessen Angehörige es vorziehen zu schweigen.

Diese Vorgänge erreichten mit dem letzten Gaza-Krieg einen neuen Höhepunkt. Er hat sich nicht grundsätzlich von den beiden anderen Gazakriegen unterschieden, die noch nicht lange zurückliegen, aber aus einem unerklärlichen Grund hinterließ er einen viel tieferen Eindruck.

Seit anderthalb Monaten werden die Leute in aller Welt mit Bildern von Toten, schwer verletzten Kindern, weinenden Müttern, zerstörten Häusern, beschädigten Krankenhäusern und Schulen bombardiert, auch mit Massen obdachloser Flüchtlinge. Dank dem Iron Dome war kein zerstörtes israelisches Gebäude und kaum ein toter israelischer Zivilisten zu sehen.

Kein normaler, anständiger Mensch - ob in Stockholm, Seattle oder Singapur - kann sich einem ständigen Strom solch schrecklicher Fotos, der ihn zunächst unbewusst und dann bewusst beeinflusste, entziehen. Das Bild des "Israeli" änderte sich vor dem geistigen Auge langsam, fast unmerklich. Der tapfere Pionier, der sich gegen die Wilden verteidigt, verwandelte sich in einen hässlichen Tyrannen, der eine hilflose Bevölkerung terrorisiert.


WARUM REALISIEREN die Israelis dies nicht? Weil Wir Immer Recht Haben.

Es ist oft vorher gesagt worden: die Hauptgefahr der Propaganda, jeder Propaganda, ist, dass ihr erstes Opfer der Propagandist selbst ist. Sie überzeugt ihn eher als sein Propaganda-Objekt. Wenn man eine Tatsache verdreht und sie hundertmal wiederholt, glaubt man es schließlich.

Zum Beispiel die Behauptung, dass wir gezwungen wurden, UN-Einrichtungen im Gazastreifen zu bombardieren, weil Hamas sie benutzte, um von dort Raketen auf unsere Städte und Dörfer zu schießen. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Moscheen wurden von unserer Artillerie, Flugzeugen, Drohnen und Kriegsschiffen gezielt bombardiert. 99% der Israelis glauben, dass dies nötig war. Sie waren schockiert, als der UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, der Gaza in dieser Woche besuchte, behauptete, dass dies total unzulässig sei.

Weiß denn der Generalsekretär nicht, dass unsere Armee die moralischste der Welt ist?

Eine andere Behauptung ist, dass diese Gebäude von Hamas dazu benutzt worden seien, um ihre Waffen dort zu verstecken. Eine Person in meinem Alter erinnerte uns in dieser Woche in Haaretz daran, dass wir in unserm Kampf gegen die britische Regierung von Palästina und gegen arabische Angreifer genau dasselbe taten: unsere Waffen wurden in Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Synagogen versteckt. An vielen Orten erinnern nun stolze Gedenktafeln daran.

In den Augen eines durchschnittlichen Israeli war das umfangreiche Töten und die Zerstörung während der kürzlichen Operation vollkommen gerechtfertigt. Er ist nicht in der Lage, die weltweite Empörung zu verstehen. Aus Mangel eines anderen Grundes schreibt er es dem Antisemitismus zu.


NACH EINEM der Libanonkriege - ich vergaß welcher -, erhielt ich eine ungewöhnliche Nachricht: ein Armeegeneral lud mich ein, einen Vortrag vor seinem versammelten Offizier-Corps zu halten: "über die Auswirkung des Krieges in den Medien der Welt". (Er wollte wahrscheinlich den Offizieren mit seiner aufgeklärten Haltung imponieren.)

Ich erklärte den Offizieren, dass das moderne Schlachtfeld sich geändert hat, dass moderne Kriege im grellen Schein der Weltmedien ausgefochten werden, dass die heutigen Soldaten dies beim Planen und Kämpfen berücksichtigen müssten. Sie lauschten respektvoll und stellten entsprechende Fragen, aber ich fragte mich, ob sie die Lektion wirklich verstanden hatten.

Der Beruf des Soldaten ist ein Beruf wie jeder andere. Jeder, der einen Beruf ausübt, ganz gleich, ob Rechtsanwalt oder Straßenkehrer, übernimmt eine Reihe von Haltungen, die zu seinem Beruf gehören.

Ein General denkt in realen Begriffen: wie viele Soldaten braucht man, wie viele Geschütze. Was ist nötig, um den Widerstand der Feinde zu brechen? Wie reduziert man seine Verluste?

Er denkt nicht über Fotos in der New York Times nach.

Bei der Gaza-Kampagne wurden weder Kinder willkürlich getötet, noch Häuser willkürlich zerstört. Alles hatte einen militärischen Grund. Menschen mussten getötet werden, um das Risiko für das Leben unserer Soldaten zu reduzieren (Es ist besser, 100 Palästinenser zu töten als einen israelischen Soldaten). Die Leute mussten terrorisiert werden, damit sie sich gegen die Hamas wenden. Stadtviertel mussten zerstört werden, damit unsere Soldaten voran kommen, und der Bevölkerung musste eine Lektion erteilt werden, damit sie noch Jahre danach daran denkt und den nächsten Krieg hinausschiebt.

All dies macht für einen General militärischen Sinn. Er kämpft einen Krieg, zum Teufel noch mal, und sollte nicht mit nicht-militärischen Betrachtungen belästigt werden. Wie beispielsweise der Wirkung auf die öffentliche Meinung in der Welt. Und überhaupt, nach dem Holocaust.



WAS DER General denkt, denkt Israel.

Israel ist keine militärische Diktatur. General a-Sisi mag Netanjahus bester Freund sein, aber Netanjahu ist kein General. Israel macht gerne Geschäfte, besonders Waffengeschäfte, mit Militärdiktatoren in aller Welt, aber innerhalb Israels gehorcht das Militär der gewählten Zivilregierung.

Stimmt, aber ...

Aber der Staat Israel wurde inmitten eines hart erkämpften Krieges, dessen Ausgang damals keineswegs sicher war, geboren. Die Armee war damals und ist auch jetzt der Mittelpunkt von Israels Nationalleben. Man könnte sagen, dass die Armee das einzig wahre vereinigende Element der israelischen Gesellschaft ist. In ihr treffen sich Männer und Frauen, Ashkenasi und Orientale, Religiöse und Säkulare (außer den Orthodoxen), Reiche und Arme, Alteingesessene und Neueinwanderer und werden vom selben Geist indoktriniert.

Die meisten jüdischen Israelis sind früher Soldaten gewesen: Die meisten Offiziere, die die Armee mit etwa 45 verlassen, verteilen sich auf die Verwaltungs-, die wirtschaftliche, politische und akademische Elite. Das Ergebnis ist, dass die militärische Gesinnung in Israel vorherrscht.

Da das so ist, können Israelis den Wandel der öffentlichen Meinung in der Welt kaum fassen. Was wollen sie von uns, diese Schweden, Briten und Japaner? Glauben sie denn, dass es uns Spaß macht, Kinder zu töten und Häuser zu zerstören? (Golda Meir erklärte einmal: "Wir können den Arabern vergeben, wenn sie unsere Kinder töten, aber wir werden ihnen nie vergeben, dass sie uns zwingen, ihre Kinder zu töten".)


DIE GRÜNDER Israels waren sich der öffentlichen Meinung der Welt sehr bewusst. David Ben Gurion erklärte zwar einmal, dass "es unwichtig sei, was die Gojim sagen, wichtig sei, was die Juden tun!" Aber im wirklichen Leben war sich Ben-Gurion der Notwendigkeit sehr wohl bewusst, die öffentliche Meinung der Welt für sich zu gewinnen. Das war auch seinem Gegner klar, dem rechtsgerichteten zionistischen Führer Vladimir Jabotinsky. Dieser sagte einmal zu Menachem Begin, dass er, wenn er am Gewissen der Welt verzweifele, "in die Weichsel springen" solle.

Die öffentliche Meinung der Welt ist wichtig, ja noch mehr - sie ist entscheidend. Die Resolution des britischen Parlaments mag nicht bindend sein, aber sie drückt die öffentliche Meinung aus, die früher oder später über das Handeln der Regierung hinsichtlich Waffenverkauf, über Resolutionen des Sicherheitsrates, über Entscheidungen der europäischen Union und über alles mögliche andere entscheiden wird. Wie Thomas Jefferson sagte: "Wenn das Volk die Führung hat, dann werden schließlich die Führer folgen."

Derselbe Jefferson empfahl "einen anständigen Respekt vor der Meinung der Menschheit."



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 18.10.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2014