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STANDPUNKT/467: BDS - der neue Feind (Uri Avnery)


BDS - der neue Feind

von Uri Avnery, 13.6.2015


BENJAMIN NETANJAHU hat sich den Kopf zerbrochen. Seine ganze Karriere gründet sich auf Panikmache. Da Juden seit Jahrtausenden in Angst leben, kann man sich leicht darauf berufen. Sie sind Süchtige.

Seit Jahren hat Netanjahu seine Karriere auf die Angst vor der iranischen Bombe gebaut. Die Iraner sind verrückte Leute. Wenn sie erst mal die Bombe haben, werden sie sie auf Israel werfen, selbst wenn Israels Atombombe bei einem Zweitschlag den Iran mit seiner jahrtausendealten Kultur mit Sicherheit vernichten wird.

Aber Netanjahu sah mit wachsender Sorge, dass die iranische Bedrohung ihre Schärfe verlor. Die USA haben anscheinend ein Abkommen mit dem Iran erreicht, das den Bau einer Bombe verhindert. Sogar Sheldon der Große konnte das Abkommen nicht verhindern. Was nun?

Er schaute sich um. Da tauchten drei Buchstaben auf: BDS. Sie bedeuten Boykott, Divestment und Sanktionen, eine weltweite Kampagne, um Israel wegen seiner 48 Jahre langen Unterwerfung des palästinensischen Volkes zu boykottieren.

Ah, hier haben wir eine wirkliche Bedrohung, schlimmer als die Bombe. Ein zweiter Holocaust droht. Das tapfere kleine Israel steht der ganzen üblen antisemitischen Welt gegenüber.

Sicher, bis jetzt hat Israel keinen wirklichen Schaden erlitten. BDS ist eher eine symbolische Geste als eine reale wirtschaftliche Waffe. Aber wen kümmert das schon. Die Legionen von Antisemiten sind auf dem Vormarsch.

Wer wird uns retten? Bibi, der Große, natürlich.


EHRLICHES BEKENNTNIS: Meine Freunde und ich initiierten den ersten Boykott, der gegen die Produkte der Siedlungen gerichtet war.

Unsere Friedensbewegung Gush Shalom überlegte, wie man die Ausbreitung der Siedlungen stoppen könne - von denen jede eine Landmine auf dem Weg zum Frieden ist. Der Hauptgrund für den Siedlungsbau ist, die Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern - die einzige Friedenslösung, die es gibt.

Unsere Ermittler machten eine große Runde zu den Siedlungen und registrierten die Unternehmen, die von den Werbemaßnahmen der Regierung in eine Falle gelockt wurden, um Einkaufsmöglichkeiten jenseits der grünen Linie zu eröffnen. Wir veröffentlichten die Liste und ermutigten die Kunden, deren Produkte nicht zu kaufen.

Ein Boykott ist ein demokratisches Mittel, zu protestieren. Er ist gewaltlos. Jeder kann ihn für sich ausüben, ohne sich irgendeiner Gruppe anzuschließen oder sich öffentlich dazu zu bekennen.

Unser Hauptziel war es, die israelische Öffentlichkeit dazu zu bringen, deutlich zwischen dem eigentlichen Israel und den Siedlungen in den besetzten Gebieten zu unterscheiden.

Im März 1997 hielten wir eine Pressekonferenz ab, um die Kampagne anzukündigen. Es war ein einmaliges Ereignis. Ich hatte schon Pressekonferenzen abgehalten, die voller Journalisten waren - z.B. nach meinem ersten Treffen mit Yassir Arafat im belagerten West-Beirut. Ich hatte Pressekonferenzen mit wenigen Besuchern abgehalten. Aber diese hier war wirklich besonders: kein einziger israelischer Journalist zeigte sich.

Dennoch verbreitete sich die Idee. Ich weiß nicht, wie viele tausend Israelis die Produkte der Siedlungen im Augenblick boykottieren.

Allerdings waren wir empört über die Haltung der Behörden der Europäischen Union, die die Siedlungen zwar anprangerten, in der Praxis aber ihre Produkte genauso wie tatsächlich aus Israel stammende Waren mit Zollerleichterungen subventionierten. Meine Kollegen und ich gingen nach Brüssel, um zu protestieren, aber die höflichen Bürokraten sagten uns, dass Deutschland und andere Länder jeden Schritt in Richtung Siedlungsboykott behinderten.

Schließlich bewegten sich die Europäer, doch sehr langsam. Sie verlangen jetzt, dass die Produkte der Siedlungen klar gekennzeichnet werden.


DIE BDS-Bewegung hat eine ganz andere Agenda. Sie will den Staat Israel als solchen boykottieren.

Ich habe dies immer als einen großen strategischen Fehler betrachtet. Statt die Siedlungen zu isolieren und sie von den regulären Israelis zu trennen, treibt ein allgemeiner Boykott alle Israelis in die Arme der Siedler. Er weckt wieder uralte Ängste. Wenn die Juden einer gemeinsamen Gefahr gegenüberstehen, halten sie zusammen.

Netanjahu könnte sich nichts Besseres wünschen. Er reitet jetzt auf der Welle jüdischer Reaktionen. Jeden Tag gibt es Schlagzeilen über einen anderen Erfolg der Boykottbewegung und jeder Erfolg ist ein Pluspunkt für Netanjahu.

Es ist auch ein Pluspunkt für seinen Gegner, Omar al-Barghouti, den palästinensischen Organisator von BDS. In Palästina gibt es viele Barghoutis. Sie sind eine große Familie, die in mehreren Dörfern nördlich von Jerusalem bekannt ist.

Der berühmteste ist Marwan al-Barghouti, der zu mehrmals lebenslänglich verurteilt worden ist, weil er die Fatah-Jugendbewegung leitete. Er wurde nicht dafür beschuldigt, an "terroristischen" Akten teilgenommen zu haben, sondern für seiner Rolle als organisatorisch Verantwortlicher. Tatsächlich waren wir Partner beim Organisieren mehrerer gewaltfreier Protestdemos gegen die Besatzung.

Als er vor Gericht angeklagt wurde, protestierten wir im Gerichtsgebäude. Einer meiner Kollegen verlor bei dem sich ergebenden Kampf mit den gewalttätigen Gerichtswärtern einen Zehennagel. Marwan ist noch immer im Gefängnis und viele Palästinenser betrachten ihn als künftigen Erben von Mahmoud Abbas.

Ein anderer Barghouti ist Mustafa, der sehr liebenswürdige Führer einer linken Partei, der als Kandidat für das Präsidentenamt der Palästinensischen Behörde gegen Abbas antrat. Wir trafen einander während verschiedener Demonstrationen gegen die Mauer, als wir der Armee gegenüberstanden.

Omar Barghouti, der Führer der BDS-Bewegung, war Student der Universität von Tel Aviv. Er verlangt die freie Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, Gleichheit für die palästinensischen Bürger Israels und natürlich ein Ende der Besatzung.

Doch BDS ist keine durchorganisierte weltweite Organisation. Sie ist eher eine Handelsmarke. Gruppen von Studenten, Künstlern und andere machen spontan mit und schließen sich dem Kampf für die palästinensische Befreiung an. Hier und da versuchen ein paar wirkliche Antisemiten sich ihnen anzuschließen. Aber für Netanjahu sind sie alle Antisemiten.


WIE WIR von Anfang an gefürchtet haben, vereint der Boykott Israels - der deutlich vom Boykott der Siedlungen unterschieden werden muss - die allgemeine jüdische Bevölkerung unter der Führung Netanjahus mit den Siedlern.

Das Vaterland ist in Gefahr. "Nationale Einheit!" ist die Order des Tages. "Der Oppositionsführer" Yitzhak Herzog überschlägt sich, wie fast alle anderen Parteien, um Netanjahu zu unterstützen.

Israels Oberster Gerichtshof, nur noch ein ängstlicher Schatten seines Vorgängers, hat schon verfügt, dass der Aufruf zum Boykott Israels ein Verbrechen sei - und unter das Gesetz fallen auch Aufrufe zum Boykott der Siedlungen.

Fast täglich geraten Nachrichten über den Boykott in die Schlagzeilen. Der Chef von "Orange", dem französischen Medien-Riesen, nahm zuerst am Boykott teil, dann machte er schnell eine Kehrtwende und kommt nun zu einer Bußwallfahrt nach Israel. Studentenorganisationen und Berufsgruppen in Amerika und Europa übernehmen den Boykott. Jetzt fordert die EU energisch, dass die Produkte aus den Siedlungen gekennzeichnet werden.

Netanjahu ist glücklich. Er ruft das Weltjudentum auf, den Kampf gegen diese antisemitische Schandtat aufzunehmen. Der Besitzer von Netanjahu, der Multi-Milliardär und Kasinomogul Sheldon Adelson, hat einen Kriegsrat reicher Juden nach Las Vegas einberufen. Sein Gegenspieler Pro-Labor Multi-Milliardär Haim Saban hat sich ihm angeschlossen. Selbst die Verfasser der "Weisen von Zion" hätten das nicht für möglich gehalten.


ALS KOMISCHE Auflockerung konkurriert ein weiterer Kasino-Besitzer um die Schlagzeilen. Er ist ein sehr viel kleinerer Unternehmer, gar nicht mit Adelson zu vergleichen.

Es ist der neue Knesset-Abgeordnete Oren Chasan, die Nummer 30 auf der Wahlliste des Likud, der letzte, der es in die Knesset geschafft hat. In einer Fernseh-Enthüllungsgeschichte wird behauptet, er sei Kasino-Besitzer in Bulgarien gewesen und habe seine Kunden mit Prostituierten versorgt und selbst harte Drogen genommen. Er ist schon zum stellvertretenden Knesset-Vorsitzenden gewählt worden. Der Vorsitzende hat ihn zeitweilig vom Vorsitz der Plenumssitzungen der Knesset suspendiert.

Die beiden Kasinobesitzer, der große und der kleine, beherrschen die Nachrichten. Das ist ziemlich bizarr in einem Land, in dem Kasinos verboten sind und wo heimliche Kasinobesucher regelmäßig verhaftet werden.

Nun, das Leben ist wie ein Roulettespiel. Und das Leben in Israel ist es sogar noch mehr.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 13.06.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2015

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