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STANDPUNKT/563: Merkels Minsker Märchenstunde (Kai Ehlers)


Merkels Minsker Märchenstunde

von Kai Ehlers, 24. Juni 2016


Parallel zu den NATO-Übungen in Polen, begleitet durch die neue Zielvorgabe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Militärausgaben über das von der NATO geforderte Maß auf das der Vereinigten Staaten heben zu wollen, sollen nach dem Willen der EU, allen voran der deutschen Kanzlerin Merkel, nun auch die Sanktionen, welche die EU im Sommer 2014 gegen Russland beschlossen hat, um ein weiteres halbes Jahr bis Ende Januar 2017 verlängert werden. Dies beschlossen die Botschafter der 28 EU-Staaten bei ihrem letzten Treffen Anfang Juni einstimmig. Ihr Beschluss wurde soeben von Brüssel bestätigt.

Als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Sanktionen wurde von der Botschafterversammlung angegeben, dass es mit der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die im Februar 2014 zwischen Angela Merkel, François Hollande , Wladimir Putin und Petro Poroschenko als "Reaktion auf Russlands Unterstützung der Separatisten" beschlossen wurden, noch 'gewaltig hapere', so der Tenor im Mitteilungsblatt der Regierung, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 22.06.2016, dem ein ausführlicher Bericht zu dem Treffen zu entnehmen war. In dem Bericht heißt es: "Nicht nur wird der damals zugesagte Waffenstillstand immer wieder gebrochen. Noch längst wurden zudem offenbar nicht alle schweren Waffen aus der Pufferzone abgezogen. Und nach wie vor stehen die in Minsk vereinbarten Kommunalwahlen in der Ostukraine aus." Weitere Begründungen werden nicht gegeben.

Stimmt. An der Grenze zwischen den Donbas-Republiken und der Kiewer Ukraine wird nach wie vor geschossen. Nicht mitgeteilt wird jedoch, wer schießt, obwohl die Frage eindeutig zu beantworten wäre: beide Seiten schießen. Die Klage darüber konnte man in den letzten Monaten in wachsendem Maße den Berichten der OSZE entnehmen und sogar aus dem Munde des deutschen Außenministers Frank-Walther Steinmeiers hören (siehe dazu diverse Berichte in russland.ru, jetzt russland.news), wenn er seine Eindrücke über die Erfolge der Demokratisierung in der Ukraine immer unzufriedener kommentierte.

Dass die Kommunalwahlen der Ostukraine ausgeblieben seien, stimmt allerdings nur noch halb. Tatsache ist, es fanden Wahlen in der Ostukraine statt, allerdings nicht nach den in Minsk vereinbarten, sondern nach eigenen örtlichen Bedingungen, weil die in den Minsker Beschlüssen vereinbarten Voraussetzungen von Kiew trotz diverser Gesprächsangebote aus dem Ostteil des Landes nicht hergestellt wurden. Eine Erinnerung an diese Vereinbarungen und ein Bestehen auf ihrer Einlösung sucht man in den Begründungen für die aktuelle Sanktionsverlängerung jedoch vergebens. Dabei könnte alles so einfach sein, wenn diese Vereinbarungen des Minsker Protokolls, die den Kern des Konfliktes zwischen Kiew und den Ostgebieten betreffen, genannt, anerkannt und erfüllt würden. Sie lauten: Die Kiewer Regierung führt eine Verfassungsänderung durch, als deren wesentliches Ergebnis sie den Gebieten Donezk und Lugansk eine begrenzte Autonomie zugesteht, auf deren Grundlage dann Wahlen für die gesamte Ukraine durchgeführt werden können. (Siehe die Fakten zu den Vereinbarungen unter [1])

Tatsache ist, dass die Verfassungsreform bis heute nicht durchgeführt wurde, dass keine direkten Gespräche zwischen Kiew und den Donbas-Vertretern zur Vorbereitung und Einleitung einer solchen Reform zustande kamen - sei es, weil Poroschenko und seine Umgebung es selbst nicht wollen, sei es, weil sie durch das nationalistisch dominierte Parlament daran gehindert werden. Mit Terroristen verhandeln wir nicht, hieß die bisher dabei von Kiewer Seite insgesamt verfolgte Linie.

Von all dem - den ursprünglichen Vereinbarungen, wie deren Missachtung durch Kiew - ist, wie gesagt, in den Begründungen für die Verlängerung der Sanktionen nicht mehr die Rede. Zwar werden von deutscher Seite, Steinmeier, großzügig "schrittweise Lockerungen" der Sanktionen angeboten, allerdings nur, wenn "substanzielle Fortschritte" bei der Umsetzung der Verträge erkennbar würden - substanziell von russischer Seite, versteht sich, wobei im Nebel bleibt, worum es hierbei gehen soll, da Russland eh schon seine Unterstützung auf die Aufrechterhaltung der rudimentären Infrastrukturen der Gebiete reduziert hat, die OSZE-Kontrollen mitträgt, den beschlossenen Fahrplan, wie oben benannt, immer wieder zusammen mit den Donbas-Vertretern einklagt.

Dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wäre, wie er öffentlich erklärte, als "Signal aus Moskau" sogar schon mit einem "Wahlgesetz für die Ostukraine" Genüge getan. Aber selbst dafür, höhnt die "Frankfurter", habe es in Minsk nicht gereicht.

Ähnliche Töne wie die Steinmeiers und Gabriels sind auch von den Franzosen und Italienern, waren in St. Petersburg vor einer Woche auch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu hören. Ungarn und Griechen schwanken. Gänzlich unnachgiebig sind die Balten und die Polen. Kurz, es gibt durchaus widersprüchliche Positionen innerhalb der EU zu der Frage und es fragt sich, wie lange die nach außen demonstrierte Einigkeit aufrechterhalten werden kann. Nach dem Austritt Englands aus der EU stellt sich diese Frage noch einmal aktueller. In der Beschlussfassung zu den Sanktionen stellten jedoch weder Steinmeier, noch die Franzosen, noch die Italiener, noch sonst irgendjemand die Einstimmigkeit in Frage. Die Beendigung der Minsker Märchenstunde lag dann bei der deutschen Kanzlerin, die "klarstellt(e)", wie die "Frankfurter Allgemeine" es kernig formulierte, dass sie eine Lockerung der Sanktionen für "verfrüht" halte. Die Zeitung weiß zu diesem Vorgang im Übrigen noch die folgende nette Anekdote zu berichten:

"Ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen war in der vergangenen Woche mit zwei ranghohen Diplomaten des Auswärtigen Amtes nach Minsk gereist. Nach der Reise konnte Merkel sowohl Skeptikern in der EU als auch ihrem Koalitionspartner ausrichten: Seht her, wir haben es versucht. Aber es reicht noch nicht. Steinmeier und Gabriel mussten dies akzeptieren." So einfach ist das.

Was immer Kanzlerin Merkels Emissäre dort in "Minsk" und bei wem gefunden haben mögen - die tatsächlichen Vereinbarungen vom Februar 2015 fanden sie dort offenbar nicht. Angesichts eines solchen kollektiven Misserfolges bei der Suche nach Originalquellen oder auch einfach bedauerlichen Gedächtnisverlustes scheint es sinnvoll noch einmal an daran zu erinnern, was in den ursprünglichen Vereinbarungen zu finden wäre, was auch nicht mit neuen Reisen nach Minsk gesucht werden müsste, wenn man es denn finden wollte:

Dies kann jetzt und hier an Hand eines Textes von mir geschehen, der sich vor nahezu einem Jahr, am 1. Mai 2015, schon einmal die Aufgabe stellte, daran zu erinnern, was in Minsk tatsächlich beschlossen und schon seinerzeit beiseitegeschoben worden ist [1].


Kai Ehlers ist Osteuropa-Experte, Autor und Journalist.
www.kai-ehlers.de


Anmerkung:
[1] www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Meinung
STANDPUNKT/455: Wie alles sein könnte - Ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen (Kai Ehlers)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/meinung/pmsp0455.html

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Quelle:
© 2016 by Kai Ehlers
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2016

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