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STANDPUNKT/578: Glücklicher Bibi (Uri Avnery)


Glücklicher Bibi

von Uri Avnery, 27. August 2016


"GIB MIR Generäle, die Glück haben!", rief Napoleon einmal aus.

Das erinnert mich an Goethes Faust, der sich beklagte: "Wie sich Verdienst und Glück verketten,/ Das fällt den Toren niemals ein".

Glück kann ein großer Wohltäter sein. Es kann auch die Ursache von Katastrophen sein. Ich erinnere mich vage an einen dieser üblen griechischen Götter oder Göttinnen, der seine menschlichen Opfer dadurch zugrunde richtete, dass er sie glücklich machte.

Glück geht mit Hybris einher. Und Hybris führt zur Nemesis.


MAN NEHME nur als Beispiel Benjamin Netanjahu. Ein Politiker, der sehr viel Glück hat - wenigstens bis jetzt.

Seine Vorgänger standen einer geeinten Front arabischer Staaten gegenüber, die entschlossen waren, Israel zu zerstören oder wenigstens dem palästinensischen Volk zu helfen, Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen.

1948 drangen alle Armeen der benachbarten arabischen Staaten in Palästina ein und zwar einen Tag nach der Beendigung der britischen Herrschaft und der Gründung des Staates Israel. 1967 versuchten diese Staaten es wieder - mit katastrophalen Ergebnissen (für sie). 1973 griffen zwei von ihnen vom Süden und vom Norden an und wurden erst nach schwerem Kampf zurückgeschlagen.

Es war immer ein allgemein anerkannter Grundsatz, dass alle diese Armeen, sobald sich die Gelegenheit dafür bieten würde, Israel erneut angreifen würden, um uns dazu zu zwingen, uns aus den Gebieten zurückzuziehen, die wir 1967 besetzt haben. Und sie würden die palästinensischen Brüder dabei unterstützen, endlich ihren eigenen Nationalstaat zu errichten.

Und schauen wir uns um. Nicht die kleinste Bedrohung Israels durch Araber ist übrig geblieben. Alle benachbarten Araber sind vollauf damit beschäftigt, einander zu töten.

Syrien, die Heimat des arabischen Nationalismus', war der entschlossensten Feind Israels. Syriens Armee wurde als die wirksamste arabische Kraft angesehen. Was ist davon übriggeblieben?

Neulich fragte mich ein verzweifelter Freund, ich solle erklären, wer gegen wen in Syrien kämpft. Ich erwähnte Präsident Bashar al-Assads Armee, die verschiedenen islamistischen Milizien, die gegen Assad und gegen einander kämpfen, das islamische Kalifat (Daesh) das gegen all diese und gegen die kurdischen Kräfte kämpft, während der Iran und die Hisbollah Assad gegen die USA unterstützen, aber den USA gegen Daesh helfen, während die Türkei Daesh unterstützt, aber auch den USA hilft, die mit Russland gegen Daesh kooperieren, das gegen die syrischen Kurden kämpft, die von den USA unterstützt werden. Nach fünf Minuten gab mein Freund auf. "Das ist zu kompliziert für mich", sagte er.

Die ganze Zeit schauen die israelischen Generäle und Politiker zu, versuchen ihre Schadenfreude zu verbergen und tun so, als wären sie über die schrecklichen Bilder von Gräueltaten und Schrecknissen entsetzt, die aus Aleppo kommen, das einmal ein Zentrum der arabischen Kultur und des Handels war (und einer hochgeachteten alten jüdischen Gemeinschaft.)

Netanjahu hat absolut nichts getan, um diese Situation zu schaffen. Aber er ist einer der Hauptnutznießer. Von Syrien wird weit in die Zukunft hinein keine Bedrohung Israels mehr ausgehen, während wir uns die syrischen Golanhöhen einverleiben, die wir 1967 erobert und danach annektiert haben.


SAUDI-ARABIEN betrachtet sich als das Herz der islamischen Welt, seit es die beiden dem Islam heiligsten Orte Mekka und Medina kontrolliert. Die Saudis finanzieren fanatische sunnitisch-islamische Zellen in aller Welt, ihre Imame gehören zu den extremsten all derer, die zur Beseitigung der ungläubigen Abscheulichkeit Israel aufrufen.

Aber jetzt ist Saudi-Arabien vollauf mit dem Kampf gegen seinen Hauptkonkurrenten in der islamischen Region beschäftigt - den Iran.

Der brutale Krieg im Jemen ist ein Teil davon. Es benötigt alle Verbündeten, die es bekommen kann. Und wer ist da? Wer hätte das gedacht - das vermaledeite, ungläubige Israel.

Die saudischen Prinzen - es gibt buchstäblich Tausende - flirten jetzt fast offen mit dem "jüdischen Staat". Und wohin Saudi-Arabien geht, dorthin folgen ihm alle anderen arabischen Golfstaaten: Kuwait, Bahrain, Qatar, Dubai und so weiter. Alle schwimmen im Geld. Alle kooperieren jetzt im Geheimen mit Israel.

Die saudischen Imane haben schon verkündet, die Juden seien eine kleinere Gefahr für den Islam als die Schiiten, die häretischen Herrscher des Iran. So ist es ganz annehmbar, mit Israel gegen den Iran zu kooperieren.

Was gut und fromm für Saudi-Arabien ist, ist für Ägypten, dem größten arabischen Staat mit den meisten Einwohnern, sogar noch besser. Wir haben mehrmals Kriege gegen Ägypten geführt; ich war Soldat im ersten und erinnere mich, einmal allein ein großes Feld überquert zu haben, das vollständig mit den Leichen von Ägyptern bedeckt war.

Vor fast 30 Jahren unterzeichnete Israel einen Friedensvertrag mit Ägypten, aber die Beziehungen sind kühl, fast frostig geblieben. Das ägyptische Volk hat ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber seinen armen Verwandten, den Palästinensern. Sie mögen nicht, was Israel ihnen antut.

Aber zwischen den beiden Regierungen ist jetzt das Eis geschmolzen. Es stimmt, dass der ägyptische Judoka in Rio sich weigerte, dem israelischen Sieger die Hand zu schütteln und der ägyptische Außenminister sagte nach seinem Besuch in Israel einige dubiose Worte. Aber hinter den Kulissen sind die Beziehungen zwischen den Regierungen eng und werden bei der gemeinsamen Bemühung enger, die Hamas im Gazastreifen, die vom Iran und allen anderen Palästinensern unterstützt wird, zu unterdrücken.

Netanjahu hat absolut nichts getan, um all dies zu erreichen. Aber all das geschah während seiner nicht enden wollenden Amtszeit. Glück, reines Glück.


AN DER Wirtschaftsfront war das Glück Netanjahu ebenso hold. Die israelischen Produkte und Dienste verbreiten sich in Asien, und machen die leichten Verluste in Europa wieder gut. Der wirtschaftliche Einfluss von BDS ist kaum zu spüren.

(Die extensive Kampagne der BDS würde viel erfolgreicher sein, wenn sie sich auf den Boykott der Waren aus den Siedlungen konzentriert hätte. Die israelische Friedensgruppe Gush Shalom, zu der ich gehöre, hat diesen Boykott vor fast 20 Jahren begonnen und zwar mit dem erklärten Ziel, zwischen den Bürgern des eigentlichen Israel und den Siedlungen zu unterscheiden und die Siedler zu isolieren. BDS hat die entgegengesetzte Wirkung: Sie stärkt Netanjahu und die Rechte.)

Israels Wirtschaftserfolge haben eine große Wirkung auf die Stimmung des Landes. Die meisten Leute, die Netanjahus Politik kritisieren, leben ein komfortables Leben. Komfortabel lebende Leute machen keine Revolutionen. Sie drücken ihren Zorn in privaten Gesprächen bei Freunden oder in den sozialen Medien aus. Ein paar schreiben Artikel in Haaretz. Gott sei Dank für Haaretz.

Sie steigen nicht auf die Barrikaden.

Gegenwärtig gibt es keine wirksame Opposition gegen Netanjahu. Die Führer der Arbeiterpartei, die Erben von Ben-Gurion und Rabin, sind völlig bankrott, ein Ersatz nicht in Sichtweite. Meretz ist eine niedliche kleine Insel, zufrieden in Ruhe gelassen zu werden. Die arabische Partei ist indiskutabel, sehr zur eigenen Zufriedenheit.

Wir haben viele Dutzend Friedens- und Menschenrechtsorganisationen, die bewundernswerte Arbeit leisten, die Besatzung bekämpfen, den Palästinensern helfen, die Demokratie auf vielerlei Weise verteidigen und sich dabei manchmal selbst in Gefahr bringen. Fast jede Woche erscheint eine neue auf der Bühne, hißt ihre Flagge und wirbt um Anhänger.

Israel kann auf diese jungen Idealisten stolz sein, aber sie haben keine politischen Ambitionen und deshalb haben sie nicht den geringsten Einfluss auf Israels Führung, die die Entscheidungen trifft.

Die Knesset ist jetzt in einem solch traurigen Zustand, dass ich sie persönlich meide. Als ein früheres Mitglied werde ich zu all den zahlreichen festlichen Sitzungen eingeladen. Ich nehme diese Einladungen nicht an. Nicht einmal, um aus der Nähe diese Dutzende rechter, infantiler Politikern zu sehen, die ihre Zeit (und das Geld der Steuerzahler) für lächerliche Gesetzvorschläge verschwenden, wie zum Beispiel den "Die Flagge zu schützen". Dieser verbietet dem Staatspräsidenten, an jedem öffentlichen Ereignis teilzunehmen, in dem die israelische Fahne nicht deutlich sichtbar ausgestellt wird. Man fragt sich, ob von dieser Knesset überhaupt irgendeine ernsthafte Arbeit getan werden kann.


ALL DIES brachte viele gutgesinnte Israelis dazu, die Hoffnung aufzugeben, dass Israel von innen verändert werden könnte, und ihr Vertrauen auf "ausländischen Druck" zu setzten. Die Hoffnung ist, dass "die Welt" - die USA, die UN, die EU oder jede andere Zusammenstellung von Buchstaben - Israel dazu "zwingen" würde, seinen Kurs zu ändern.

Wie? Durch politische Verurteilungen, wirtschaftliche Sanktionen, wissenschaftliche Boykotts und Ähnliches mehr.

Das ist natürlich eine bequeme Hoffnung. Sie zwingt in Israel niemanden, irgendetwas zu tun.

Vor vielen Jahren war ich eingeladen, in Portugal an einem internationalen Forum über Frieden in Nahost teilzunehmen. Eingeladen war auch der spanische Staatsmann Miguel Moratinos. In meiner Rede beschuldigte ich die EU, uns in unserem Kampf um einen israelisch-palästinensischen Frieden im Stich gelassen zu haben, statt konsequent die israelische Regierung zu zwingen, ihren Kurs zu ändern.

Statt der üblichen Entschuldigung wandte sich Morantinos an mich und sagte etwas wie "Was für eine Frechheit ist das denn, Europa aufzufordern euren Job zu tun. Es liegt an den Israelis, ihre Regierung zu verändern. Geht nicht herum und beklagt euch bei anderen über eure Regierung - geht und tut etwas.

Ich habe zwar ärgerlich geantwortet, aber in meinem Herzen wusste ich, dass er Recht hatte. Warum sollte sich jemand darum kümmern? Warum sollte Barack Obama politisches Kapital ausgeben um Israel vor sich selbst zu retten, wenn wir selbst es nicht tun? Warum sollte Europa Sanktionen über Israel verhängen und des Antisemitismus beschuldigt werden, wenn es keinen in der Knesset gibt, der wirklich eine aktive Opposition organisiert?

Gegenwärtig findet in den USA eine lächerliche Wahlkampagne statt; beide Kandidaten (einige nannten sie "den Verrückten und die Korrupte") wetteifern darin, die israelische Regierung zu umgarnen. Donald Trump hat sogar angedroht, uns bald zu besuchen (Wenn ich ein Amerikaner wäre, würde ich mich schämen. Sind das wirklich die Besten, die eine Nation von 320 Millionen aufbieten kann?)

Aber so ist es. Die Hoffnung auf "amerikanischen Druck" oder auf "ausländischen Druck" zu setzen, ist lächerlich. Kein Ausländer schert sich einen Teufel um Netanjahu, ob er nun Glück hat oder nicht. Sie sagen uns ganz einfach "Ihr habt ihn gewählt, ihr müsst ihn absetzten."

Vladimir Putin, dieser vollendete Zyniker, ist sogar bereit, ihn mit Komplimenten zu überschütten, um seine westlichen Kollegen zu ärgern. Warum auch nicht? Er kommt ganz gut zurecht, mit oder ohne Netanjahu. Nichevo. (Macht nichts! - russ.)


WIR SIND also bei Netanjahu stecken geblieben. Ein anderes altes griechisches Sprichwort sagte: "Wenn die Götter einen Menschen zugrunde richten wollen, lassen sie ihn zuerst irrsinnig werden". Dies könnte die israelische Besatzung erklären.

Es sei denn, eine neue politische Kraft in Israel ersteht, um den Kurs - allem Glück zum Trotz - zu verändern. Ich wünschte, ich wüsste, an welchen griechischen Gott ich mich dafür wenden sollte.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 27.08.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2016

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