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STANDPUNKT/598: Der Beerdigungsrabatz (Uri Avnery)


Der Beerdigungsrabatz

von Uri Avnery, 22. Oktober 2016


SHIMON PERES hätte seine Freude daran gehabt: Ein öffentlicher Kampf um seine Beerdigung.

Die arabischen Mitglieder der Knesset waren nicht anwesend. Na und?

Ich nahm auch nicht daran teil. Wir beide haben uns nie gemocht und meine Teilnahme wäre schiere Heuchelei gewesen. Ich mag keine Heuchelei.

Die Knesset-Mitglieder der Gemeinsamen Liste entschieden, die Zeremonie zu boykottieren. Sie beschuldigten Peres, die meiste Zeit seines Lebens dem Kampf gegen die Araber im Allgemeinen und gegen die Palästinenser im Besonderen gewidmet zu haben.

(Die Gemeinsame Liste setzt sich aus drei arabischen Parteien zusammen, die sich meistens gegenseitig verachten. Sie waren gezwungen, ihre Kräfte im Parlament aufgrund eines Gesetzes zu bündeln, das der extrem-rechte (manche würden sagen, faschistische) Minister Avigdor Lieberman initiiert hatte und das die Prozentklausel für den Eintritt in die Knesset angehoben hat. Deshalb ist es eine Gemeinsame Liste und keine Vereinte Liste.

Die Entscheidung, die Beerdigung zu boykottieren, entfachte einen Sturm von Protesten unter den jüdischen Knessetmitgliedern. Wie können sie es wagen? Den verstorbenen Peres boykottieren, das ist, als ob man Israel boykottiert! Sie sollten von der Knesset ausgeschlossen werden! Alle Mitglieder der Knesset sollen den Saal verlassen, wenn sie reden! (Eigenartigerweise hat jedoch niemand vorgeschlagen, sie ins Gefängnis zu stecken.)

Aber der wirklich interessante Teil dieser Begebenheit war die Debatte, die unter den Arabern ausgelöst wurde. Einige arabische Bürger verurteilten die Entscheidung der Gemeinsamen Liste. Sofort wurden sie von anderen arabischen Bürgern beschuldigt, "Gute Araber" zu sein, eine abwertende Bezeichnung für Araber, die danach gieren, sich bei Mitgliedern der jüdischen Mehrheit beliebt zu machen, ähnlich wie "Onkel Tom" bei den Schwarzen in den USA.

Diese Debatte dauert noch an. Sie berührt die Grundfesten der Existenz der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel, die über 20% der Bevölkerung ausmacht.



ALL DAS versetzt mich in meine frühe Kindheit zurück.

Ich lebte neuneinhalb Jahre in der Demokratischen Deutschen "Weimarer Republik" und ein halbes Jahr in Nazi-Deutschland. Wir waren "deutsche Juden", das heißt: Deutsche in jeglicher Beziehung, Juden nur durch die Religion.

In der Praxis bedeutete das, dass wir Deutsche waren, aber eine andere Art von Deutschen, die dazugehörten, aber doch nicht ganz dazugehörten, die gleichzeitig zu irgendeiner weltweiten Gemeinschaft gehörten, die das "jüdische Volk" genannt wurde.

Ich erinnere mich häufig an ein großes Ereignis in meinem Leben: eine patriotische Gedenkzeremonie im Gymnasium, einige Zeit, nachdem die Nazis an die Macht gelangt waren. Die gesamte Schule war in der Aula versammelt, und am Ende erhoben sich alle, um die Nationalhymne und die Nazihymne zu singen. Da ich ein Schüler der untersten Klasse und jünger als alle anderen Schüler meiner Klasse war, war ich der kleinste Junge in der Schule. Außerdem war ich der einzige Jude.

Ohne nachzudenken, erhob ich mich wie alle anderen. Aber ich hob meinen Arm nicht zum Nazi-Gruß und stimmte auch nicht wie alle anderen in die Hymne ein. Ein kleiner Junge unter Hunderten von größeren.

Als die Veranstaltung beendet war, drohten mir einige größere Jungen schlimme Konsequenzen an, wenn ich das noch einmal täte. Glücklicherweise verließen wir ein paar Tage darauf Deutschland, um nach Palästina auszuwandern.


DIESER KLEINE Vorfall hilft mir vielleicht, auf irgendeine Weise die Gefühle der arabischen Bürger Israels zu verstehen.

Was sind sie? Israelis? Araber? Palästinenser? Israelische Araber (eine Bezeichnung, die sie verabscheuen)? Palästinensische Bürger Israels (wie viele sich nun selbst lieber bezeichnen)? Alles? Nichts von alledem?

Nach dem Krieg von 1948, in dem der Staat Israel gegründet wurde und in dem 750.000 Araber flohen oder vertrieben (und an der Rückkehr gehindert) wurden, betrug die Bevölkerung des neuen Staates 650.000 Menschen, 20% von ihnen waren Araber. Durch ein Wunder (oder die jüdische Einwanderung) blieb dieser Prozentsatz trotz der viel höheren Geburtenrate bei den Arabern bis zum heutigen Tag unverändert.

Nach der Gründung Israels wurden alle arabischen Städte und Dörfer in dem neuen Staat einer "Militärregierung" untergeordnet, einem Regime, dass sich nicht auf ein Gebiet bezog, sondern nur für die arabischen Einwohner galt. Es bedeutete, dass ohne eine schriftliche Genehmigung kein Araber sein Dorf oder seine Stadt verlassen durfte, selbst dann nicht, wenn es sich nur um den Besuch bei einem Vetter im Nachbardorf handelte. Keine Transaktion konnte ohne schriftliche Genehmigung vollzogen werden, weder eine Importlizenz für einen Traktor, noch die Erlaubnis, seine Tochter ins Lehrerseminar zu schicken.

Dieses verabscheuungswürdige Regime dauerte 18 Jahre. Jüdische Israelis des Friedenslagers und die bi-nationale Kommunistische Partei waren aktiv in Versuche involviert, diese zu beenden. Ich nahm an Dutzenden von Demonstrationen teil und gestaltete sogar das Logo der Kampagne (ein einfaches "x").

Solange David Ben-Gurion an der Macht war, assistiert von Shimon Peres, führten unsere Proteste zu nichts. Erst als beide von ihrer eigenen Partei herausgeworfen wurden, wurde die Militärregierung abgeschafft. Der Shin Bet (Innen-Geheimdienst), befürwortete die Abschaffung - indem er argumentierte, dass diese Militärregierung mehr schadete als nützte, so dass der Sicherheitsdienst seinen Job besser ohne sie ausüben könne.

In diesen Jahren stand ich in enger Verbindung mit der arabischen Gemeinschaft und schloss viele Freundschaften in arabischen Städten und Dörfern. Ich hatte Araber unter den Mitarbeitern meines Magazines, was zu der Zeit ungewöhnlich war und als ich eine neue Partei gründete, hatten wir arabische Kandidaten und Wähler.

Leider habe ich diese Verbindungen seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 vernachlässigt, als Israel den Gazastreifen und die Westbank, einschließlich Ostjerusalems einnahm. Ich wurde von dem Kampf zur Gründung eines palästinensischen Staates und für Menschenrechte in den besetzten Gebieten völlig beansprucht.


ALSO, WIE sieht nun die Situation der arabischen Bürger im eigentlichen Israel aus?

Es gibt zwei Darstellungen.

Eine ist, dass sie allen anderen Bürgern des "jüdischen und demokratischen Staates" Israel gleichgestellt sind.

Die andere ist, dass sie eine misshandelte Minderheit sind, unterdrückt und diskriminiert, und sich mühsam durch ein elendes Leben kämpfen.

Welches dieser Bilder entspricht nun der Wahrheit?

Keines von beiden.

Jahre bevor Avigdor Lieberman Verteidigungsminister wurde und noch sagen konnte, was er wollte, Idiotisches oder Andersartiges, machte er einen überraschenden Vorschlag: einen palästinensischen Staat zu gründen und die benachbarten israelischen Gebiete, die von Arabern bewohnt werden, diesem im Austausch gegen die Westbank-Gebiete, die von jüdischen Siedlern bewohnt werden, anzugliedern.

Diesem Vorschlag zufolge würden viele der Araber, die nun Bürger Israels sind, mit all ihren Ländereien, Dörfern und Städten ein Teil des zukünftigen Staates Palästina sein. Wunderbar.

Aber die Reaktion bei den Arabern in Israel war ein wütender Aufschrei. Nicht eine einzige arabische Stimme war zu hören, die für diese Lösung war.

Warum? Das Durchschnittseinkommen der israelischen Bürger, einschließlich der arabischen, ist mehr als zehnmal höher als das der arabischen Einwohner der besetzten Gebiete. Menschen- und Bürgerrechte sind unvergleichbar sicherer.

In Israel gibt es arabische Chefärzte in Krankenhäusern und medizinischen Abteilungen. Arabische Krankenpfleger werden in einzigartiger Weise gelobt. Es gibt ein hoch angesehenes arabisches Mitglied des Obersten Gerichtshof, das jüdische Minister ins Gefängnis schickt. Es gibt arabische Professoren in den Universitäten.

Demnach erfreuen sich also die arabischen Bürger vollkommener Gleichheit?

Weit gefehlt. Sie werden auf unzählige Arten diskriminiert. Arabische Gemeinden erhalten bedeutend niedrigere Regierungssubventionen als ihre jüdischen Nachbarn. Arabische Schulen leiden allgemein unter einem niedrigeren Standard (einige stehen jedoch weit oben in der Liste). Beduinendörfer werden zerstört und zwangsweise umgesiedelt. Keine jüdische Partei hätte jemals im Traum daran gedacht, die Gemeinsame Liste in eine Regierungskoalition einzuschließen.

Der Durchschnittslebensstandard der arabischen Bürger ist niedriger als der der jüdischen Bürger, obwohl er noch bedeutend höher ist als der in den besetzten Gebieten und den meisten arabischen Ländern.

Aber noch wichtiger: Man lässt arabische Bürger jede Minute ihres Lebens spüren, dass dies ein "Jüdischer Staat" ist, dass der Staat ihnen nicht gehört, dass sie bestenfalls nur geduldet werden. Sie werden gezwungen, eine Nationalhymne zu singen, die nichts mit ihnen zu tun hat ("Solange eine jüdische Seele ...") - Das erinnert mich an mein eigenes Erlebnis, als ich als Junge singen musste. Die Fahne und alle anderen Symbole des Staates sind ausschließlich jüdisch.

Dennoch gaben mehrere arabische Freunde mir gegenüber privat zu, dass sie, wenn sie ihre Verwandten in der Westbank besuchten, diesen gegenüber ein Gefühl der Überlegenheit hätten. Aber wenn sie an den Strand von Tel Aviv gingen, was sie selten täten, wagten sie nicht, Arabisch zu sprechen.

Insgesamt ein sehr gemischtes Bild, weit entfernt von den einfachen Slogans beider Seiten.


KEINE NATIONALE Minderheit in der Welt ist vollkommen glücklich. Das scheint dem Wesen des Menschen zu widersprechen.

In den ersten Jahren des Staates war die arabische Minderheit unterwürfig. Die meisten ihrer Mitglieder in der Knesset waren Kollaborateure der zionistischen Parteien. Ein Mitglied, Abd-al-Aziz Zoabi, beschwerte sich: "Mein Land befindet sich im Krieg mit meinem Volk!"

Fast alle jüdischen Israelis, darunter fast alle Parteien, verleugneten damals die bloße Existenz eines palästinensischen Volkes. "So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht", erklärte bekanntermaßen Golda Meir. Ich selbst habe tausende Stunden meines Lebens damit verbracht, israelische Zuhörer davon zu überzeugen, dass es ein palästinensisches Volk gibt und dass es ohne dieses Volk keinen Frieden geben wird.

Diese Tage sind längst Vergangenheit. Die palästinensischen Bürger von Israel sind nun eine starke, stolze Gemeinde. Eine andere Zoabi, Hanin Zoabi, bringt mit ihren provokativen Possen Juden zur Weißglut.

Aber, wenn wir seit vielen Jahren hofften, dass diese arabische Gemeinschaft zu einer "Brücke" zwischen Israel und der arabischen Welt werden würde, so ging diese Hoffnung bereits lange verloren. ("Eine Brücke ist etwas, auf dem die Menschen herumtrampeln", sagte mir einmal ein arabischer Freund.) Was noch schlimmer ist, die Kluft zwischen den arabischen und den jüdischen Bürgern in Israel wird ständig größer und immer tiefer.

In meinen Augen ist das eine Tragödie. Wenn all die Vorurteile verschwänden und Frieden zwischen Israel und Palästina entstünde, könnten Juden und Araber im eigentlichen Israel leicht zu einer israelischen Gemeinschaft verschmelzen.

Eins ist ziemlich sicher: Es wird keinen Wandel zum Besseren in Israel geben, keine Änderung in Regierung und Politik, ohne dass die arabischen Bürger und ihre Repräsentanten ein integrierter Teil einer neuen Friedensbewegung werden, ohne die es keine Hoffnung gibt.

Na ja, ich bin Optimist.

(Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 22.10.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2016

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