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STANDPUNKT/617: Der Ruf der Nation (Uri Avnery)


Der Ruf der Nation

von Uri Avnery, 10. Dezember 2016


EINE DUNKLE Woge überschwemmt die Demokratien der ganzen westlichen Welt.

Es begann in Großbritannien, einem Land, das wir immer als die Mutter der Demokratie ansahen, die Heimat eines besonders vernünftigen Volkes. Es entschied sich in einer Volksabstimmung dafür, die Europäische Union zu verlassen, einen Markstein menschlichen Fortschritts, der sich aus den Ruinen des schrecklichen Zweiten Weltkriegs erhob.

Warum? Aus keinem besonderen Grund. Aus einer Laune heraus.

Dann kamen die US-Wahlen. Das Unglaubliche geschah. Ein Niemand kam von nirgendwoher und wurde gewählt. Eine Person ohne irgendwelche politische Erfahrung, ein brutaler Kerl, ein Gewohnheitslügner, ein Schauspieler. Jetzt ist er der mächtigste Staatsmann auf dem Planeten, der "Führer der freien Welt".

Und nun geschieht es in ganz Europa. Die Ultra-Rechte gewinnt fast überall Stimmen und droht, an die Macht zu kommen. Moderate Präsidenten und Ministerpräsidenten geben ihr Amt auf oder werden rausgeschmissen. Mit der bemerkenswerten Ausnahme von Deutschland und Österreich, die anscheinend ihre Lektion gelernt haben, gewinnt der Faschismus und Populismus überall an Boden.

Warum, um Gottes Willen?


DIE LÄNDER unterscheiden sich von einander. Jede lokale politische Szene ist einzigartig. So ist es leicht, die lokalen Gründe für die Ergebnisse jeder Wahl und Volksabstimmung zu finden.

Aber wenn dieselbe Sache überall geschieht, in vielen Ländern und fast gleichzeitig, ist man gezwungen, nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen, nach einem Grund, der auf alle diese unterschiedlichen Phänomene zutrifft.

Es ist der Nationalismus.

Wir werden gerade Zeugen einer Rebellion des Nationalismus gegen den Trend in Richtung einer post-nationalistischen, regionalistischen und sich globalisierenden Welt.

Dieser Trend hat praktische Gründe. In den meisten Gebieten menschlicher Bestrebungen werden immer größere Einheiten erforderlich.

Industrien und Finanzinstitutionen erfordern große Einheiten. Je größer die Einheit, umso rationeller die Wirtschaft. Ein Land mit einem Markt von zehn Millionen Kunden kann nicht mit einem Markt von einer Milliarde Kunden konkurrieren. Vor Jahrhunderten hat dieser Trend kleine Provinzen wie Bayern oder Katalonien gezwungen, sich Nationalstaaten wie Deutschland oder Spanien anzuschließen.

Heutzutage bestimmen anonyme transnationale Unternehmen, die nirgendwo und überall ihren Sitz haben, das Wirtschaftsleben von Milliarden und das übersteigt das Begriffsvermögen gewöhnlicher Menschen bei Weitem.

Gleichzeitig hat die Informations-Revolution immer größere Wissens-Gemeinschaften geschaffen. Vor fünfhundert Jahren war es selten, dass ein Bauer in Europa sich weiter als bis zum nächsten Dorf bewegte. Das Reisen war teuer, nur Aristokraten hatten Pferde, eine Wagenfahrt zur nächsten Großstadt kam für die meisten Leute nicht in Frage. Aus demselben Grund war es unmöglich, Waren über große Entfernungen zu transportieren. Die Leute aßen, was in ihrer Nähe wuchs. Nachrichten reisten langsam, wenn überhaupt.

Heutzutage hört man, egal, wo man lebt, innerhalb von Minuten von den Ergebnissen der Wahl in Österreich und einem Staatsstreich im Sudan. Die Welt ist zu einem Dorf geworden.

Fast jeder hat einen Internet-Anschluss. Er oder sie können sich mit fast jedem auf dem Globus unterhalten, während Wissenschaftler an vielen Orten tief in das Universum vordringen.

In dieser neuen Welt ist der Nationionalstaat eine leere Schale geworden, eine Flagge, eine Nationalhymne, ein Fußballteam, eine Briefmarke, die immer weniger gebraucht wird.


DOCH DAS Ende der Nützlichkeit des Nationalstaates hat dem Nationalismus kein Ende bereitet. Weit entfernt davon.

Das menschliche Gemüt verändert sich viel langsamer als materielle Umstände. Es hinkt mindestens drei oder vier Generationen hinterher, es hängt an überholten Ideen und Idealen, während politische, wirtschaftliche und militärische Realitäten davonrasen.

Moderner Nationalismus kam erst vor zwei oder drei Jahrhunderten auf. Er ist eine vergleichsweise neue Erfindung. Einige glauben, dass er von der Französischen Revolution geschaffen wurde. Ein angesehener Historiker behauptet, dass er von spanischen Siedlern in Südamerika geschaffen wurde, die den spanischen Imperialismus los sein wollten und für sich selbst unabhängige Nationen gründen wollten.

Wie dem auch sei, der Nationalismus wurde schnell die herrschende Kraft in der Welt. Am Ende des Ersten Weltkrieges brachen die alten Reiche zusammen und schufen ein Dutzend Nationalstaaten. Der Zweite Weltkrieg vollendete das Werk.

Der Nationalstaat stand auf zwei Beinen: dem materiellen und dem spirituellen. Der materielle musste größere Märkte schaffen und sie gegen andere große Märkte verteidigen. Der geistige Aspekt ist das Bedürfnis, zu einer Menschengruppe zu gehören.

Tatsächlich ist dieses Bedürfnis so alt wie die menschliche Rasse. Menschen mussten zusammenstehen, um sich selbst gegen andere zu verteidigen, sie mussten beim Jagen und Pflanzen zusammen arbeiten. Sie lebten in großen Familien, dann in Stämmen, in Königreichen und Republiken. Soziale Gruppierungen bildeten sich und änderten sich während der Jahrhunderte bis die modernen Nationen alle anderen Gruppierungen ablösten.

Für die meisten ist die Notwendigkeit, zu einer Nation zu gehören, eine tiefe psychische Angelegenheit. Die Menschen schaffen eine nationale Kultur, oft sprechen sie eine nationale Sprache. Menschen sterben für ihre Nation.

Große moderne Bewegungen versuchen den Nationalismus zu Gunsten anderer Ideologien zu überwinden. Der Kommunismus war ein prominentes Beispiel. Das Proletariat hat kein Vaterland. Doch in der Stunde der größten Gefahr, unter dem Ansturm des super-nationalistischen Faschismus' gab die Sowjetunion die "Internationale" auf und übernahm eine Nationalhymne, und Stalin proklamierte den Großen Patriotischen Krieg. Später brach die internationalistische Sowjetunion auseinander und Russland kehrte zum reinen von Vladimir Putin personifizierten Nationalismus zurück.

Ich glaube, dass das, wovon wir jetzt Zeugen werden, eine weltweite Reaktion gegen den Über-Nationalismus und den Globalismus ist. Die Menschen wollen keine Bürger der Welt sein, auch keine Europäer oder Nordamerikaner. Ein paar mögen vorausmarschieren, aber die gewöhnlichen Leute hängen an ihrer Nation. Sie wollen Franzosen, Polen oder Ungarn sein.

Dies ist ein Bedürfnis, das von unten kommt. Die "Eliten", die Gebildeten und die Reichen, mögen nach vorne schauen und sich den neuen Realitäten anschließen, aber die "unteren Schichten" an allen Orten hängen an ihren nationalen Werten. Es ist das Einzige, was sie haben, um daran zu hängen. Das Proletariat hat ein Vaterland. Mehr als alle anderen.

Das trifft noch mehr auf Länder mit einer ziemlich großen nationalen Minderheit zu. Die "unterste" Schicht der herrschenden Nation ist leidenschaftlich nationalistisch und sogar faschistisch. Der höfliche Terminus dafür ist "Populismus".



FOLGT ISRAEL demselben Trend? Und ob.

In der Tat können Israelis darauf stolz sein, dass es hier sogar vor dem Brexit und Trump geschehen ist.

Israel ist jetzt fest im Griff einer ultrarechten, fremdenfeindlichen, annexionistischen und gegen Frieden gerichteten Regierung, die kaum verkappte Faschisten einschließt. Benjamin Netanjahu scheint, verglichen mit einigen seiner Verbündeten und Anhänger, zuweilen fast moderat zu sein.

Israel wurde vom Zionismus geschaffen, einer revolutionären Bewegung, die viele andere Revolutionen des 20. Jahrhunderts überlebte. Der Zionismus war eine nationalistische Bewegung ohne eine Nation. Ihre Gründer mussten eine Nation erfinden, die vorher nicht existierte. Sie mussten eine zerstreute, ethnisch-religiöse Gemeinschaft, die Tausende von Jahren in einer sich veränderten Welt überlebt hatte, in eine moderne Nation verwandeln. Die Gründer des Zionismus' sahen dies als einzige Antwort auf den Antisemitismus, der der Bastard des modernen europäischen Nationalismus war.

Selbst der Name dieser Nation ist umstritten. Ist sie eine jüdische Nation? Eine hebräische Nation, wie einige von uns sie lieber nennen würden? Eine israelische Nation? Und wo lässt sie die Millionen von Juden, die nicht im Traum daran denken, nach Israel einzuwandern oder die 20% israelische Bürger, die behaupten, zur palästinensischen Nation zu gehören, die (bis jetzt) keinen Staat hat?

Dieser schwankende ideologische Boden hat einen jüdisch-hebräisch-israelischen Nationalismus geschaffen, der stärker und leidenschaftlicher ist als die meisten.


WEDER IN Israel noch anderswo hat eine progressive, den Frieden liebende Bewegung eine Chance auf Erfolg, solange sie als Gegnerin des Nationalismus wahrgenommen wird.

Davon war ich mein Leben lang überzeugt. Ich definierte mich immer als Nationalist. Ich bin überzeugt, dass es keinen grundlegenden Widerspruch zwischen Nationalismus und Internationalismus gibt. In der Tat bedeutet Inter-Nationalismus buchstäblich Zusammenarbeit zwischen den Nationen.

Als israelischer Nationalist glaube ich an die Rechte anderer Völker, die sich an ihre eigenen nationalen Werte halten. Dies bedeutet zunächst, Achtung für das palästinensische Volk und ihr Recht auf einen eigenen nationalen Staat zu haben, Seite an Seite mit Israel.

Die israelische Friedensbewegung muss zunächst ihrem nationalen Charakter Geltung verschaffen. Wir sind die wahren Nationalisten. Wir wollen, dass Israel in Frieden und Sicherheit blüht, während die Pseudo-Nationalisten, die an der Macht sind, uns jetzt in eine Katastrophe führen. Erlauben wir den Faschisten nicht, uns den Nationalismus wegzunehmen.

Einige ziehen vor, sich eher "Patrioten" zu nennen anstelle von Nationalisten. Aber Patria bedeutet Vaterland. Es bedeutet dasselbe.

Als israelische Nationalisten müssen wir für die Solidarität aller Nationen in unserer Region kämpfen und uns dem Marsch in Richtung einer Weltordnung anschließen, in der alle Nationen blühen können.

Ich würde all unseren Schwester-Bewegungen in der ganzen Welt raten, dasselbe zu tun und die dunkle Welle abzuwehren, die uns alle zu verschlingen droht.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 10.12.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2016

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