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STANDPUNKT/624: Eingeständnis eines Größenwahnsinnigen (Uri Avnery)


Eingeständnis eines Größenwahnsinnigen

von Uri Avnery, 14. Januar 2017


DER ARABISCHE TAXIFAHRER, der mich nach Ramallah brachte, hatte keine Probleme mit den israelischen Grenzposten. Er mied sie nur.

Das ersparte uns eine Menge Probleme.

Ich war von Mahmood Abbas, dem Präsidenten der Palästinensischen Nationalbehörde (als auch der PLO und der Fatah-Bewegung), eingeladen worden, an den gemeinsamen palästinensisch-israelischen Beratungen vor der internationalen Konferenz in Paris teilzunehmen.

Während sich Benjamin Netanjahu weigert, Seite an Seite mit Mahmood Abbas an der Veranstaltung in Paris teilzunehmen, sollte das Treffen in Ramallah zeigen, dass ein großer Teil der israelischen Gesellschaft die Initiative Frankreichs unterstützt.


SO EINFACH wie es klingt, war das Ramallah-Treffen keineswegs.

Vor dem Tod Yasser Arafats 2004 waren solche Treffen fast Routine. Seit unserem bahnbrechenden ersten Treffen 1982 in Beirut, hat Arafat während der israelischen Blockade viele Israelis getroffen.

Arafat besaß fast uneingeschränkte moralische Autorität, und selbst seine haus-gemachten Rivalen akzeptierten sein Urteil. Nach unserem ersten Treffen entschied er, dass die israelisch-palästinensischen Treffen der Sache des palästinensisch-israelischen Friedens dienen, und seitdem ermutigte er zu vielen solchen Begegnungen.

Nach seiner Ermordung gewann der entgegengesetzte Trend die Oberhand. Palästinensische Extremisten fanden, dass solche Treffen mit Israelis, egal, wer sie sein mochten, der "Normalität" dienten - und die war ein schrecklicher, schrecklicher Buhmann.

Abbas hat diesem Unsinn jetzt ein Ende bereitet. Genau wie ich, glaubt er, dass ein palästinensischer Staat und Unabhängigkeit nur durch einen gemeinsamen Kampf der Friedenskräfte auf beiden Seiten mit der Hilfe internationaler Kräfte zustande kommt.

In diesem Geist lud er uns nach Ramallah ein, da es Palästinensern nicht erlaubt ist, israelisches Gebiet zu betreten.

Er bat mich, neben ihm auf der Bühne Platz zu nehmen und so begann das Treffen.


MAHMOOD ABBAS - oder "Abu Maazen", wie er gewöhnlich genannt wird - war so freundlich, zu erwähnen, dass er und ich seit 34 Jahren Freunde sind. Damals in Tunis trafen wir uns zum ersten Mal, kurz nachdem die PLO Beirut verlassen und dorthin umgezogen war.

Wenn meine Freunde und ich nach Tunis kamen, befolgten wir jahrelang dasselbe Ritual: zuerst traf ich Abu Maazen, der für die Kontakte mit Israelis zuständig war, um Pläne für gemeinsame Aktionen zu schmieden. Dann gingen wir gemeinsam in Arafats Büro. Arafat, der eine fast unheimliche Fähigkeit hatte, schnelle Entscheidungen zu treffen, entschied gewöhnlich innerhalb von Minuten mit "ja" oder "nein".

Es konnte fast keine unterschiedlicheren Charaktere als Abu Amar (Arafat) und Abu Maazen geben. Arafat war ein warmherziger Mann. Er umarmte und küsste seine Besucher im alt-arabischen Stil - ein Kuss auf jede Backe für gewöhnliche Besucher, drei Küsse für bevorzugte Gäste. Nach fünf Minuten hatte man das Gefühl, man würde ihn schon immer kennen.

Mahmood Abbas ist eine viel distanziertere Person. Er umarmt und küsst auch, aber es geht nicht so natürlich zu wie bei Arafat. Er ist verschlossener. Er sieht mehr wie ein Hochschulrektor aus.

Ich habe großen Respekt vor Mahmood Abbas. Er braucht enormen Mut, um seine Aufgabe als Führer eines Volkes unter brutaler Militärherrschaft zu erfüllen: Er ist gezwungen, mit der Besatzung in einigen Dingen zusammen zu arbeiten, und gleichzeitig muss er sich bemühen, bei anderen Dingen Widerstand zu leisten. Er macht das gut. Das Ziel seines Volkes ist durchzuhalten und zu überleben.

Als ich ihm für seinen Mut ein Kompliment machte, lachte er und sagte, es wäre viel mutiger von mir gewesen, Beirut, während der Belagerung von 1982 zu betreten. Danke.

Der israelischen Regierung ist es sogar vor Netanyahu gelungen, die Palästinenser im Land zu spalten. Durch das einfache Mittel der Weigerung, ihr feierlich gegebenes Versprechen von Oslo einzuhalten, vier "sichere Übergänge" zwischen der Westbank und Gaza zu schaffen. Dadurch wurde die Spaltung so gut wie unvermeidlich.

Jetzt, während offiziell der moderate Abbas als Freund und die extremistische Hamas in Gaza wie ein Feind behandelt wird, benimmt sich unsere Regierung genau umgekehrt: Hamas wird geduldet, Abbas wird wie ein Feind behandelt. Das scheint pervers, ist in Wirklichkeit aber logisch. Abbas kann die öffentliche Meinung in aller Welt zugunsten eines palästinensischen Staates beeinflussen, Hamas kann dies nicht.


NACH DEM Treffen in Ramallah unterbreitete ich Abbas in einer privaten Sitzung einen Plan mit der Bitte um Begutachtung.

Er gründet sich auf die Einschätzung, dass Netanjahu niemals ernsthaften Friedensverhandlungen zustimmen wird, da die unvermeidlich zu einer Zwei-Staaten-Lösung führen würden.

Ich schlage deshalb vor, eine "Volks-Friedens-Konferenz" einzuberufen, die sich - sagen wir - einmal im Monat im Land trifft. Bei jeder Sitzung, wird sich die Konferenz mit einem Thema des zukünftigen Friedensabkommens befassen, wie z.B. mit dem endgültigen Verlauf der Grenzen, dem Charakter der Grenzen (offen?), Jerusalem, Gaza, Wasserressourcen, Sicherheits-Vereinbarung, Flüchtlinge und so weiter.

Gleich viele Experten und Aktivisten beider Seiten beratschlagen gemeinsam, legen alles auf den Tisch und diskutieren es aus.

Wenn eine Einigung erreicht werden kann - wunderbar! - wenn nicht, werden die Vorschläge beider Seiten klar definiert und das Problem auf das nächste Treffen verschoben.

Am Ende, sagen wir nach einem halben Jahr, wird das Volks- Friedensabkommen veröffentlicht, auch wenn es Nichtübereinstimmungen enthält, damit es den Friedensbewegungen beider Seiten als Leitlinie dienen kann. Die Gespräche über die Punkte, in denen die Experten beider Seiten nicht übereinstimmen, werden so lange fortgesetzt, bis eine Einigung gefunden worden ist.

Abbas hörte aufmerksam zu, wie es seine Art ist, und am Ende versprach ich ihm, ein schriftliches Memorandum zu schicken. Ich tat dies, nachdem ich mich mit einigen meiner Kollegen, wie Adam Keller, dem Sprecher von Gush Shalom, beraten habe.

Mahmood Abbas bereitet sich jetzt auf die Pariser Konferenz vor, deren offizielles Ziel es ist, die Welt für die Zwei-Staaten-Lösung zu mobilisieren.


MANCHMAL WUNDERE ich mich, dass ich nicht mit Größenwahn infiziert wurde. (Einige meiner Freunde glauben, dass mir dies nicht passieren kann, da ich schon größenwahnsinnig sei.)

Ein paar Wochen nach dem Ende des Krieges von 1948 traf sich eine winzige Gruppe junger Leute im neuen Staat Israel in Haifa, um über einen Weg zu einer Friedenslösung, die jetzt die Zwei-Staaten-Lösung genannt wird, zu debattieren. Einer war Jude (ich), einer Muslim und einer ein Druse. Ich war gerade aus dem Krankenhaus entlassen und trug noch immer meine Militäruniform.

Die Gruppe wurde von allen völlig ignoriert. Keine Interessenten.

Etwa zehn Jahre später, als ich schon Abgeordneter in der Knesset war, (wie durch Zufall auch die anderen beiden) ging ich ins Ausland, um zu sehen, wer überzeugt werden könnte. Ich wanderte in Washington DC herum, traf mich mit Leuten im Weißen Haus, im Außenamt und den UN-Delegationen in New York. Auf dem Weg nach Hause wurde ich im Außenamt in London, Paris und Berlin empfangen.

Es gab keine Interessenten, nirgendwo. Ein palästinensischer Staat? Unsinn. Israel muss sich mit Ägypten, Jordanien und anderen befassen.

Ich hielt in der Knesset Dutzende Reden über diesen Vorschlag. Einige Mächte begannen, die Zwei-Staaten-Lösung aufzugreifen. Die erste war die Sowjetunion, wenn auch ziemlich spät, unter Leonid Brejnew (1969). Andere folgten.

Heute gibt es niemanden, der an etwas anderes, als an die Zwei-Staaten-Lösung glaubt. Selbst Netanjahu gibt vor, daran zu glauben, aber nur wenn die Palästinenser Juden werden oder nach Grönland auswandern.

Ja, ich weiß, dass nicht ich das bewirkt habe. Die Geschichte tat dies. Aber, man möge entschuldigen, dass ich mich ein bisschen stolz fühle. Oder wie ein kleiner Größenwahnsinniger.


DIE ZWEI-STAATEN-LÖSUNG ist weder gut noch schlecht. Sie ist die einzige.

Die einzige Lösung, die es gibt.

Ich weiß, dass es eine Anzahl guter, ja sogar bewundernswerter Leute gibt, die an die so genannte Ein-Staat-Lösung glauben. Ich möchte sie bitten, die Details genau zu bedenken: Wie würde diese Lösung aussehen, wie würde sie in der Praxis funktionieren, die Armee, die Polizei, die Wirtschaft, das Parlament, Apartheid? Ständiger Bürgerkrieg?

Nein. Seit 1948 hat sich alles verändert, aber nichts hat sich geändert.

Tut mir leid, die Zwei-Staaten-Lösung ist noch immer die einzige weltweit.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 14.01.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2017

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