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STANDPUNKT/629: Respektiert die Grüne Linie! (Uri Avnery)


Respektiert die Grüne Linie!

von Uri Avnery 4. Februar 2017


DIE PRÄGNANTESTE Analyse des israelisch-palästinensischen Konfliktes, die ich je gelesen habe, wurde vom jüdisch-polnisch-britischen Historiker Isaak Deutscher geschrieben. Sie besteht aus einem einzigen Bild.

Eine Person lebt in der oberen Etage eines Gebäudes, in dem ein Feuer ausbricht. Um sein Leben zu retten, springt der Mann aus dem Fenster und landet auf einem Passanten auf der Straße unten. Das Opfer ist schwer verwundet und zwischen beiden Personen beginnt ein unerbittlicher Streit.

Natürlich ist keine Metapher vollkommen perfekt. Die Zionisten haben Palästina nicht zufällig gewählt, die Wahl beruhte auf unserer Religion. Der Gründer der Bewegung, Theodor Herzl, zog anfangs Argentinien vor.

Und doch trifft das Bild im Grunde zu, jedenfalls tat es das bis 1967. Von da an begannen die Siedler weiter über die Grüne Grenze zu springen - obwohl es nirgendwo brannte.


AN DER grünen Linie ist nichts Heiliges. Sie unterscheidet sich in nichts von anderen Grenzen in der Welt, welche Farbe die auch haben mögen.

Die meisten Grenzen wurden aufgrund der Geographie und zufälliger Kriegsgeschehnisse gezogen. Zwei Völker kämpfen um das Gebiet, das zwischen ihnen liegt; an einem gewissen Punkt findet der Kampf ein Ende, und eine Grenze ist entstanden.

Die Grenzen Israels - aus irgendeinem Grund als "Grüne Linie" bekannt - wurden auch durch den Zufall des Krieges geschaffen. Ein Teil dieser Linie ist das Ergebnis eines Handels zwischen der neuen israelischen Regierung und dem König von Jordanien, Abdallah I. Der gab uns das sog. Dreieck als Backschisch, als Gegenleistung für Israels Zustimmung zu seiner Annexion des größten Teils von Palästina.

Was ist so heilig an dieser Grenze? Nichts, außer dass sie da ist. Und das gilt für viele Grenzen in aller Welt.

Eine Grenze wird durch Geographie oder Zufall errichtet und durch ein Abkommen bestätigt.

Es stimmt, die UN zogen in ihrer Resolution von 1948 die Grenzen zwischen dem jüdischen und den arabischen Staaten; aber nachdem die arabische Seite einen Krieg anfing, um diese Entscheidung zu vereiteln, vergrößerte Israel sein Gebiet.

Der Krieg von 1948 endete ohne einen Friedensvertrag. Aber die Waffenstillstandslinie, die nach dem Ende des Krieges errichtet wurde, wurde von der ganzen Welt als die Grenzen Israels akzeptiert. Dies hat sich während der 68 Jahre, die seitdem vergangen sind, nicht geändert.

Die Situation gilt de facto und de jure. Israels Gesetz gilt nur innerhalb der Grünen Linie; alles andere ist erobertes Gebiet unter militärischem Gesetz. Zwei kleine Gebiete - Ost-Jerusalem und die Golanhöhen - wurden von Israel einseitig deklariert, aber niemand in der übrigen Welt erkennt diesen Status an.


ICH WIEDERHOLE diese wohlbekannten Tatsachen, weil die Siedler in den besetzten Gebieten vor kurzem angefangen haben, ihre Kritiker in Israel zu verspotten, indem sie ein neues Argument brachten, "Hey, was ist denn der große Unterschied zwischen uns?"

Auch ihr sitzt auf arabischem Land, sagen sie uns. Stimmt, vor 1948 siedelten die Zionisten auf Land, dass sie für viel Geld gekauft hatten, aber nur ein kleiner Teil davon wurde den Fellachen abgekauft, die es bebauten. Das Meiste davon wurde von reichen abwesenden Landbesitzern erworben, die es billig vom türkischen Sultan gekauft hatten, als das Osmanische Reich in großen finanziellen Nöten steckte. Die Ackerbauern wurden von der türkischen und später von der britischen Polizei vertrieben.

Weite Flächen Land wurden während des Kampfes von 1948 "befreit", als Massen von arabischen Dorf- und Stadtbewohnern vor dem anrückendem israelischen Militär flohen, wie es Zivilisten in jedem Krieg tun. Falls sie das nicht taten, genügten ein paar Maschinengewehrsalven, um sie zu vertreiben.

Die Bewohner, die in Jaffa geblieben waren, nachdem die Stadt erobert war, wurden einfach auf Lastwagen gepackt und nach Gaza geschickt. Die Bewohner von Lod (Lydda) wurden zu Fuß vertrieben. Am Ende waren über 750.000 Araber vertrieben, mehr als die Hälfte des palästinensischen Volkes in jener Zeit. Die jüdische Bevölkerung in Palästina betrug damals etwa 650.000.

Eine innere Stimme nötigt mich an dieser Stelle, einen kanadisch-jüdischen Offizier mit Namen Ben Dunkelmann zu erwähnen, der damals 36 Jahre alt war und in der neuen israelischen Armee eine Brigade führte. Er hatte im Zweiten Weltkrieg mit Auszeichnung in der Kanadischen Armee gedient. Ihm wurde befohlen, Nazareth anzugreifen, die Heimatstadt Jesu, aber es gelang ihm, die lokalen Führer dazu zu bringen, sich kampflos zu ergeben. Die Bedingung war, dass der lokalen Bevölkerung kein Leid angetan wird.

Nachdem seine Soldaten die Stadt besetzt hatten, erhielt Dunkelmann eine mündliche Order, die Bevölkerung zu vertreiben. Schockiert weigerte sich Dunkelmann, sein Ehrenwort als Offizier und Gentleman zu brechen, verlangte, dass ihm der Befehl schriftlich gegeben wird. Solch eine schriftliche Order kam nie an. (Solche Befehle wurden niemals schriftlich gegeben, doch Dunkelmann wurde abgelöst.)

Wenn ich heute nach Nazareth, einer blühenden Stadt, komme, erinnere ich mich an diesen tapferen Mann. Nach dem Krieg kehrte er in seine Heimat nach Kanada zurück. Ich denke, dass er niemals nach Israel zurückkehrte. Er starb vor 20 Jahren.


EHRLICHE ENTHÜLLUNG: Ich nahm an all diesem teil. Als einfacher Soldat und später als Zugführer. Ich war ein Teil der Ereignisse. Aber unmittelbar nach dem Krieg schrieb ich ein Buch, das die Wahrheit enthüllte. ("Die Kehrseite der Medaille") und ein paar Jahre später veröffentlichte ich einen detaillierten Plan für die Rückkehr eines Teils der Flüchtlinge und die Bezahlung von Wiedergutmachungsgelder an all die anderen. Das ist natürlich nie geschehen.

Das meiste Land und die meisten Häuser der Flüchtlinge wurden mit neuen jüdischen Immigranten gefüllt.

Jetzt sagen die Siedler, nicht ganz zu unrecht: "Wer seid ihr, dass ihr uns verachtet? Ihr habt dasselbe getan, was wir taten! Nur habt ihr das vor 1967 getan, und wir tun es jetzt. Was ist der Unterschied?"

Das ist der Unterschied. Wir leben in einem Staat, der von den meisten Staaten der Welt innerhalb errichteter Grenzen anerkannt wurde. Ihr lebt in Gebieten, die die Welt als besetzte palästinensische Gebiete ansieht. Der Staat Texas wurde von den USA in einem Krieg gegen Mexiko erbeutet. Wenn Präsident Trump jetzt Mexiko überfallen würde und ein Stück Land annektieren würde (warum auch nicht?), wäre dessen Status ein ganz anderer als der von Texas.

Benjamin Netanjahu - einige nennen ihn jetzt Trumpjahu - ist für die Erweiterung der Siedlungen. Unter dem Druck unseres Obersten Gerichtshofes inszenierte er die Entfernung der winzig kleinen Siedlung Amona, die dann unter viel Herzeleid und Tränen geräumt wurde, aber unmittelbar darauf versprach er viele Tausend neue "Wohneinheiten" in den besetzten Gebieten.


ENTGEGENGESETZTE POLITISCHE Extreme berühren einander oft. So ist es jetzt auch hier.

Die Siedler, die den Unterschied zwischen sich und uns wegwischen wollen, tun dies nicht nur, um sich zu rechtfertigen. Ihr Hauptziel ist, die Grüne Linie zu entfernen und alle besetzten Gebiete zu einem Teil Großisraels zu machen, das dann vom Mittelmeer bis zum Jordan reichen würde.

Eine Menge Israelhasser wollen dieselben Grenzen, aber als Grenzen eines arabischen Staates.

In der Tat hätte ich gern den Vorsitz einer Friedenskonferenz von Israelhassern und Palästinahassern. Ich würde vorschlagen, zuerst über die Punkte zu entscheiden, in denen alle übereinstimmen - nämlich die Schaffung eines Staates vom Meer bis zum Fluss. Bis zum Ende der Konferenz würde ich die Entscheidung aufschieben, ob er nun Israel oder Palästina heißen soll.

Eine weltweite Organisation, die BDS genannt wird, schlägt jetzt vor, Israel zu boykottieren, um dieses Ende zu erreichen. Ich habe ein Problem damit.


GUSH SHALOM, die israelische Friedensorganisation, der ich angehöre, ist sehr stolz darauf, die erste gewesen zu sein, die die Produkte der Siedlungen schon vor vielen Jahren boykottierte.

Wir haben nicht etwa Israel boykottiert. Und nicht nur, weil es ziemlich peinlich wäre, sich selbst zu boykottieren. Das Hauptziel unseres Boykottes ist, die Israelis zu lehren, zwischen sich, den Bewohnern Israels, und den Bewohnern der Siedlungen zu unterscheiden. Wir veröffentlichten und verteilten viele Tausend Kopien der Liste von Unternehmen, die jenseits der Grünen Linie liegen und von Produkten, die dort hergestellt werden. Viele Leute halten den Boykott.

Der BDS-Boykott für ganz Israel würde das genaue Gegenteil erreichen: Wenn man keinen Unterschied zwischen Israel innerhalb der Grünen Linie und den Siedlern außerhalb macht, treibt man die gewöhnlichen Israelis in die Arme der Siedler. Die Siedler sind natürlich sehr glücklich, die Unterstützung von BDS zu bekommen, die Grüne Linie auszuradieren.


ICH HABE keinen emotionalen Streit mit den BDS-Leuten. Es stimmt, dass einige von ihnen alte Antisemiten in einem neuen Gewand sind, aber ich vermute, dass die meisten BDS-Unterstützer aus aufrichtigem Mitgefühl mit den Leiden der Palästinenser handeln. Ich respektiere das.

Doch würde ich die wohlmeinenden Idealisten, die BDS unterstützen, darum bitten, noch einmal über die überragende Bedeutung der Grünen Line nachzudenken - sie ist die einzige Grenze, die Frieden zwischen Israel und Palästina möglich macht, mit ein paar kleinen gegenseitig anerkannten Grenzbereinigungen.


ISRAEL IST da. Es kann nicht weggewünscht werden. Dasselbe gilt für Palästina.

Wenn alle darin übereinstimmen, können wir uns auch darauf einigen, den Boykott der Siedlungen fortzusetzen - und zwar ausschließlich der Siedlungen.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.02.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2017

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