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STANDPUNKT/666: Die neue Welle (Uri Avnery)


Die neue Welle

von Uri Avnery, 17. Juni 2017


ALS ICH jung war, gab es einen Scherz: "Niemand ist wie du - und das ist gut so!"

Den Scherz kann man nun auf Donald Trump anwenden. Er ist einzigartig. Das ist tatsächlich gut.

Aber ist er wirklich einzigartig? Ist er als weltweites Phänomen oder wenigstens in der westlichen Welt beispiellos?

Als Charakter ist Trump wirklich einmalig. Es ist äußerst schwierig, sich vorzustellen, dass in irgendeinem anderen westlichen Land jemand wie er als oberster Führer gewählt wird. Aber über seine besondere Persönlichkeit hinaus - ist das Phänomen Trump einzigartig?


VOR DEN US-Wahlen passierte etwas in Britannien: die Brexit-Wahl.

Das britische Volk, eines der vernünftigsten auf der Erde, stimmte demokratisch zu, die Europäische Union zu verlassen.

Das war keine vernünftige Entscheidung. Um ehrlich zu sein, es war idiotisch.

Die Europäische Union ist eine der größten Erfindungen der Menschheit. Nach vielen Jahrhunderten interner Kriegsführungen, einschließlich der beiden Weltkriege mit unzähligen Millionen Opfern siegte endlich der gesunde Menschenverstand. Europa wurde eins. Zunächst wirtschaftlich, dann langsam geistig und politisch.

England und später Britannien war in viele dieser Kriege verwickelt. Als große Seemacht und weltweites Imperium profitierte es von ihnen. Seine herkömmliche Politik war es, Konflikte zu stiften und den Schwächeren gegen den Stärkeren zu unterstützen.

Diese Zeiten sind vergangen. Das Empire (einschließlich Palästina) ist nur noch Erinnerung. Britannien ist jetzt eine mittelrangige Macht wie Deutschland und Frankreich. Es kann nicht für sich alleine stehen. Aber es entschied sich dafür.

Warum, um Gottes willen? Keiner weiß das so genau. Wahrscheinlich war es eine vorübergehende Stimmung. Ein Anfall von Groll. Eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten, als Britannien die Wellen beherrschte und Jerusalem in Englands grüne und wohltuende Landschaften baute. (Das wirkliche Jerusalem hat nicht viel Grünes und Freundliches.)

Viele glauben anscheinend, wenn es eine zweite Runde gegeben hätte, hätten sich die Briten anders entschieden. Aber die Briten glauben nicht an zweite Runden.


IRGENDWIE WURDE die Brexit-Wahl als ein scharfer Ruck nach rechts betrachtet. Und gleich danach kam die Abstimmung für Trump.

Trump ist ein Rechter. Ein sehr rechter Rechter. Zwischen ihm und der rechten Wand gibt es nichts, außer vielleicht seinen Vize.

Wenn man beide Abstimmungen, die britische und die amerikanische, zusammennimmt, weisen sie anscheinend auf eine weltweite Welle der Siege der Rechten hin. In vielen Ländern lassen Rechte und ausgesprochene Faschisten siegesgewiss ihre Muskeln spielen. Marine Le Pen spürte den nahen Sieg, und ihre Äquivalenten in vielen Ländern von Holland bis Ungarn hofften dasselbe.

In der Geschichte sind derartige politische Wellen bekannt. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Welle Benito Mussolinis, die auf das altrömische Wort fascis zurückgriff und es zu einem dann international gebrauchten Ausdruck machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine kommunistische Welle, die den halben Globus überschwemmte, von Berlin bis Schanghai.

Und jetzt war also die große rechte Welle im Begriff, die Welt zu überfluten.

Und dann geschah etwas völlig anderes.


NICHTS SCHEINT so stabil zu sein wie das politische System Frankreichs mit seinen alten etablierten Parteien, die von einer Klasse alter erfahrener Partei-Bonzen geführt wird.

Und da - wer hätte das gedacht - erscheint ein Nobody, ein praktisch unbekannter Nicht-Politiker, der mit einer Handbewegung das ganze Schachbrett leer fegt. Sozialisten, Faschisten und jeder dazwischen wird hinweggefegt.

Der neue Mann heißt Emmanuel Macron (Emmanuel ist ein guter hebräischer Name und bedeutet "Gott mit uns"). Er ist für einen Präsidenten sehr jung (39), sehr gut aussehend, sehr unerfahren, abgesehen von einer kurzen Arbeitsperiode als Wirtschaftsminister. Er ist auch ein zuverlässiger Unterstützer der Europäischen Union.

Nur eine Marotte, beschwichtigten die Parteifunktionäre sich selbst. Es wird nicht lange dauern. Aber dann kamen die französischen Parlamentswahlen und die Flut wurde zum Tsunami. Ein bisher selten da gewesenes Ergebnis: schon in der ersten Runde gewann Macrons neue Partei eine erstaunliche Mehrheit, die sicher in der zweiten Runde wachsen wird.



ALLE MUSSTEN umdenken.

Macron bedeutet offenbar das genaue Gegenteil der neuen Rechten Welle. Nicht nur was die europäische Einheit betraf, sondern was auch fast alles andere betraf. Ein Mann des Zentrums; er ist eher links als rechts. Eine bescheidene Person, verglichen mit dem amerikanischen Trump. Ein Fortschrittlicher, verglichen mit der britischen May.

Ach ja, Theresa May.

Was ist in sie gefahren? Nach der Brexit-Wahl mit einer bequemen Mehrheit an die Macht gekommen, wurde sie unruhig. Scheinbar wollte sie beweisen, dass sie selbst eine noch größere Mehrheit erlangen könnte. So etwas geschieht bei Politikern. Also rief sie Neuwahlen aus.

Selbst ich Ärmster mit meiner begrenzten Erfahrung hätte ihr sagen können, dass dies ein Fehler war. Aus einem Grund: die Leute mögen keine unzeitigen Wahlen. Es ist wie ein Fluch der Götter. Man ruft sie aus und verliert sie.

May verlor ihre Mehrheit. Kein eindeutiger Koalitionspartner war in Sicht. Also ist sie gezwungen, die widerlichsten Rechten zu umwerben: die nordirischen Protestanten, mit denen verglichen Trump fortschrittlich ist: keine Rechte für Lesben, keine Abtreibungen, nichts. Arme May.

Wer war der große Sieger? Die Unwahrscheinlichste der unwahrscheinlichen Personen: Jeremy Corbyn (Noch einer mit einem guten hebräischen Vornamen. Jeremias war ein großer biblischer Prophet).

Corbyn ist ein so unwahrscheinlicher Beinah-Gewinner wie man ihn sich kaum vorstellen kann. Ultra-Links, ultra-alles. Viele Mitglieder seiner eigenen Partei verachten ihn. Aber er gewann fast alle Wahlen. Auf jeden Fall machte er es für Theresa May unmöglich, in wirksamer Weise zu regieren.

Corbyns Errungenschaft erinnert wieder daran, dass etwas sehr Ähnliches in der Demokratischen Partei bei den US-Wahlen geschah. Während sich in der Partei der Kandidatin Hillary Clinton Antipathie breit machte, erregte ein sehr unwahrscheinlicher anderer Kandidat Wellen der Bewunderung und Begeisterung: Bernie Sanders.

Er war kein besonders aussichtsreicher Kandidat: 78 Jahre alt, 10 Jahre lang Senator. Aber trotzdem wurde er wie ein Neuling gefeiert, als wäre er halb so alt. Wenn er der Kandidat seiner Partei gewesen wäre, ist kaum daran zu zweifeln, dass er heute Präsident wäre. (Sogar die arme Hillary bekam die Mehrheit der Stimmen der Bevölkerung.)


HABEN ALL diese Siege und Beinah-Siege etwas gemeinsam? Erheben sie sich zu einer "Welle"?

Auf den ersten Blick nein. Weder gewann die Linke (das verhinderten Trump und Brexit) noch die Rechte (das verhinderten Macron, Corbyn und Sanders).

Gibt es also nichts Gemeinsames?

Oh ja, das gibt es. Es ist die Rebellion gegen das Establishment.

All diese Leute, die gewannen oder beinahe gewannen, hatten dies gemeinsam: sie zerschlugen die etablierten Parteien. Trump gewann gegen die Republikaner, Sanders gegen die Demokraten, Corbyn gegen Labour, Macron gegen alle. Der Brexit richtete sich in erster Linie gegen das britische Establishment.

Ist das also die neue Welle? Schluss mit dem Establishment, ganz gleich, wo es ist.



UND IN Israel?

Wir sind noch nicht da. Wir sind immer die letzten. Die letzte National-Bewegung in Europa. Der letzte Staat. Die letzte Kolonialmacht. Aber schließlich kommen wir doch immer an.

Halb Israel, fast die ganze Linke und das Zentrum sind klinisch tot. Die Labor-Partei, die 40 Jahre lang fast ganz allein die Macht hielt, ist eine traurige Ruine. Der rechte Flügel - in vier konkurrierende Parteien gespalten - versucht in allen Lebensbereichen uns eine nahezu faschistische Agenda aufzuzwingen. Ich hoffe nur, dass irgendetwas geschehen wird, ehe sie endgültig erfolgreich geworden ist.

Wir brauchen einen prinzipientreuen Führer wie Corbyn oder Sanders. Eine junge und idealistische Person wie Macron. Jemanden, der all die bestehenden Besatzungs-Ära-Parteien zerschlägt und ganz von vorn anfängt.

Um Macrons Wahlspruch zu benutzen: Vorwärts, Israel!



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 17.06.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2017

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