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STANDPUNKT/669: Das Vier-Buchstaben-Wort (Uri Avnery)


Das Vier-Buchstaben-Wort

von Uri Avnery, 24. Juni 2017


WENN EIN Brite oder ein Amerikaner über ein "Vierbuchstabenwort" spricht, meint er einen vulgären Ausdruck für Geschlechtsverkehr, ein Wort, das in höflicher Gesellschaft nicht erwähnt wird.

In Israel haben wir auch so ein Wort, ein Wort mit vier Buchstaben. Ein Wort, das nicht ausgesprochen wird.

Es ist das Wort "Schalom" - Friede.

(Im Hebräischen ist "Sch" ein Buchstabe und das "a" wird nicht geschrieben.)

Vor Jahren wurde dieses Wort aus dem Verkehr gezogen (außer als Gruß). Jeder Politiker weiß, dass sein Gebrauch tödlich ist. Jeder Bürger weiß, dass er es nicht benutzen darf.

Es gibt viele Wörter, die es ersetzen. "Politisches Abkommen". "Trennung". "Wir sind hier und sie sind dort." Regionales Arrangement", um nur ein paar zu nennen.

Und jetzt kommt Donald Trump und bringt dieses Wort wieder zurück. Trump in seiner Einfalt weiß nicht, dass es in diesem Land ein Tabu ist.

Er will hier Frieden machen. SCH-A-L-O-M sagt er. Es besteht nicht die geringste Chance, dass er wirklich Frieden machen wird. Aber er hat das Wort wieder in die Sprache zurückgebracht. Jetzt sprechen die Leute wieder über den Frieden.



FRIEDEN? WAS ist Frieden?

Es gibt alle möglichen Arten von Frieden. Angefangen mit einem kleinen Frieden, einem Baby-Frieden bis zu einem großen, sogar mächtigen Frieden.

Bevor wir deshalb eine ernsthafte Debatte über den Frieden eröffnen, müssen wir definieren, was wir meinen. Eine Zwischenzeit zwischen zwei Kriegen? Kriegsunlust? Die Existenz auf beiden Seiten von Mauern und Zäunen? Ein verlängerter Waffenstillstand? Eine Hudna (Im Arabischen ein verlängerter Waffenstillstand mit einem festgelegten End-Zeitpunkt?

So etwas wie der Frieden zwischen Indien und Pakistan? Der Frieden zwischen Deutschland und Frankreich - und wenn es so ist, wie der Frieden vor dem ersten Weltkrieg oder der Frieden, wie er jetzt vorherrscht? Der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten oder der heiße Friede zwischen Vladinir Putin und Donald Trump?

Der Frieden zwischen dem biblischen Isaak und Ismael, deren Mütter einander hassten oder der Frieden zwischen Isaak und Ismael, die zusammen ihren Vater Abraham beerdigten (Gen. 25)

Es gibt viele Arten von Friedenssituationen. Über welche Art von israelisch-palästinensischen Frieden sprechen wir? Der Frieden zwischen dem Pferd und seinem Reiter? Über den Frieden zwischen einem Herrenvolk und einem Sklavenvolk? So etwas wie der Frieden zwischen dem südafrikanischen Apartheidregime und den Bantustans, die es für die Schwarzen geschaffen hat? Oder eine ganz andere Art von Frieden, ein Frieden zwischen Gleichen?

Es ist dieser Frieden, über den ich gerne sprechen würde. Nicht über einen "wirklichen" Frieden. Nicht über einen "vollkommenen" Frieden. Nicht über einen "vollständigen" Frieden.

Über Frieden. Einen einfachen und reinen Frieden. Ohne
Spezifizierungen, bitte.


WANN HAT alles angefangen? Der Konflikt, der jetzt das Leben der beiden Völker beherrscht, wann begann er?

Schwer zu sagen.

Es ist leicht zu sagen: er begann, als der erste jüdische Immigrant diese Küsten erreichte.

Das klingt einfach, stimmt aber nicht.

Es scheint, dass die vor-zionistischen Bilu-Immigranten, die Anfang des 19. Jahrhunderts hierherkamen, keine Feindseligkeit erregten.

Ich habe dazu eine Theorie entworfen: Einige Zeit bevor die Bilu ("Geht, Söhne Jakobs [nach Palästina]!") hierherkamen, siedelte eine religiöse deutsche Sekte, die Templer, in diesem Land. Sie hatten keine politischen Ziele, nur eine religiöse Vision. Sie bauten Modell-Dörfer und Stadtteile und die Einheimischen waren dankbar. Als die ersten Juden ankamen, vermuteten die Einheimischen, dass diese etwas Ähnliches wären.

Dann kam die zionistische Bewegung, die durchaus politische Ziele hatte. Sie sprachen nur über eine "nationale Heimstätte", aber der Gründer, Theodor Herzl, hatte zuvor ein Buch geschrieben, das den Titel "Der Judenstaat" trug. Das Ziel blieb eine Weile verborgen, weil das Land zum Osmanischen Reich gehörte.

Nur sehr wenigen Angehörigen der lokalen Bevölkerung war von Anfang an klar, dass dies für sie eine tödliche Gefahr darstellte. Eine große Mehrheit der Muslime sahen die Juden nur als eine minderwertige religiöse Gemeinschaft an, die der Prophet ihnen zu schützen befahl.

Wann also begann der Konflikt? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Ich übernehme die Theorie des fast vergessenen Historikers Aharon Cohen, der auf ein besonderes Ereignis hindeutete. 1908 brach die Revolution der Jungtürken aus. Das islamische Osmanische Reich verwandelte sich in einen nationalistischen Staat. Als Reaktion darauf erhob sich in Palästina und den benachbarten Ländern eine arabische Nationalbewegung, die zur Dezentralisierung des Reiches aufrief, um seinen vielen Völkern Autonomie zu gewähren.

Ein lokaler arabischer Führer machte dem Vertreter der Zionisten in Jerusalem ein verführerisches Angebot: Wenn die Juden die arabische Bewegung unterstützen würden, würden die Araber die Einwanderung der Zionisten unterstützen.

In großer Aufregung eilte der zionistische Vertreter zum Führer der zionistischen Weltbewegung Max Nordau, einem deutschen Juden, und drängte ihn, das Angebot anzunehmen. Aber Nordau behandelte das Angebot mit Verachtung. Schließlich gehörte das Land ja den Türken. Was hätten denn die Araber anzubieten?

Es ist schwierig, sich vorzustellen, wie die Geschichte sich entwickelt hätte, wenn eine solche zionistisch-arabische Zusammenarbeit zustande gekommen wäre. Aber ein europäischer Jude konnte sich nicht einmal solch eine Wendung der Ereignisse vorstellen. Darum arbeiteten die Zionisten mit dem türkischen - und später mit dem britischen - Kolonialregime gegen die arabische Bevölkerung zusammen.

Seit damals intensivierte sich der Konflikt von Generation zu Generation. Jetzt ist der Frieden weiter entfernt denn je.



ABER WAS ist Frieden?

Die Vergangenheit kann nicht getilgt werden. Jeder, der vorschlägt, die Vergangenheit zu ignorieren und "wieder von vorne anzufangen", träumt.

Jedes der beiden Völker lebt in seiner eigenen Vergangenheit. Die Vergangenheit formt jeden Tag und jede Stunde seinen Charakter und sein Verhalten. Aber die Vergangenheit der einen Seite ist völlig anders als die Vergangenheit der anderen.

Dies ist nicht nur ein Krieg zwischen zwei Völkern. Es ist auch ein Krieg zwischen zwei Geschichten. Zwei Geschichten, die einander in fast allem widersprechen, obwohl es sich um dieselben Ereignisse handelt.

Zum Beispiel weiß jeder Zionist, dass bis zum Krieg von 1948 die Juden Land für gutes Geld kauften, mit Geld, das von Juden aus aller Welt gespendet wurde. Jeder Araber weiß, dass die Zionisten Land von abwesenden Landbesitzern gekauft haben, die in Haifa, Beirut oder Monte Carlo lebten, und dass sie dann von der türkischen (und später von der britischen) Polizei gefordert hatten, die Fellachen, die das Land seit vielen Generationen bebaut hatten, zu vertreiben. (Alles Land hatte ursprünglich dem Sultan gehört, aber als das Reich bankrott war, verkaufte der Sultan das Land an arabische Spekulanten.)

Ein anderes Beispiel: jeder Jude ist stolz auf die Kibbuzim, eine einmalige Errungenschaft des menschlichen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit, die häufig von ihren arabischen Nachbarn angegriffen wurden. Für die Araber waren die Kibbuzim nur ein sektiererisches Instrument der Verdrängung und Vertreibung.

Ein anderes Beispiel: Jeder Jude weiß, dass die Araber den 1948er-Krieg begonnen haben, um die jüdische Gemeinschaft auszulöschen. Jeder Araber weiß, dass in diesem Krieg die Juden das halbe palästinensische Volk aus ihrer Heimat vertrieben haben.

Und so weiter: heute glauben die Israelis, dass die palästinensische Behörde, die einen monatliches Gehalt an die Familien der "Mörder" zahlt, den Terrorismus unterstützt. Die Palästinenser glauben, dass die Behörde verpflichtet ist, die Familien zu unterstützen, deren Söhne und Töchter ihr Leben für ihr Volk geopfert haben.

Und so weiter - ohne Ende.

(Übrigens bin ich sehr stolz darauf, die einzige wissenschaftliche Definition für "Terrorist" erfunden zu haben, die beide Seiten akzeptieren können: "Freiheitskämpfer" sind auf meiner Seite, "Terroristen sind auf der anderen Seite.")


ES WIRD niemals Frieden geben, wenn die beiden Völker nicht das historische Narrativ der anderen Seite kennen. Es ist nicht nötig, das Narrativ des Gegners zu akzeptieren. Man kann dies völlig verleugnen. Aber man muss es kennen, um das andere Volk zu verstehen und zu respektieren.

Frieden muss sich nicht unbedingt auf gegenseitige Liebe gründen. Aber er muss auf gegenseitiger Achtung beruhen. Gegenseitige Achtung kann nur dann entstehen, wenn jedes Volk das historische Narrativ der anderen Seite kennt. Wenn es dies versteht, dann wird es auch verstehen, warum das andere Volk so handelt, wie es handelt und dass es dies für eine friedliche Ko-Existenz benötigt.

Das wäre viel leichter, wenn jeder israelischer Jude arabisch gelernt und jeder palästinensische Araber Hebräisch gelernt hätte. Dies hätte natürlich nicht das Problem gelöst, aber es würde eine Lösung sehr erleichtern.

Wenn jedes der beiden Völker versteht, dass die andere Seite kein blutrünstiges Monster ist, sondern aus natürlichen Motiven handelt, wird es viel Positives in der Kultur der anderen Seite entdecken. Persönliche Kontakte würden sich entwickeln, vielleicht sogar Freundschaften.

Dies geschieht schon in Israel, wenn auch in kleinem Maßstab. Zum Beispiel in der akademischen Welt. Und in den Krankenhäusern. Jüdische Patienten sind oft überrascht, dass einer ihrer netten und kompetenten Ärzte ein Araber ist und dass arabische Pfleger häufig freundlicher sind als die jüdischen.

Das kann das Angehen der realen Probleme nicht ersetzen. Unsere beiden Völker sind durch reale gewichtige Kontroversen getrennt. Es gibt ein Problem wegen des Bodens, wegen der Grenzen und wegen der Flüchtlinge. Es gibt Sicherheitsprobleme und unzählige andere Probleme. Ein mehr als hundert Jahre währender Krieg wird nicht ohne schmerzliche Kompromisse enden.

Wenn es eine Grundlage für Verhandlungen zwischen Gleichen gibt, eine Grundlage für gegenseitigen Respekt, werden unlösbare Probleme plötzlich zu lösbaren Problemen.


ABER DIE Vorbedingung für diesen Prozess ist die Rückkehr zum Vier-Buchstaben-Wort in unsere Sprache.

Es ist unmöglich, etwas großes, etwas Historisches zu tun, wenn es nicht den Glauben gibt, dass es möglich ist.

Niemand wird eine elektrische Leitung unter Putz legen, wenn er nicht glaubt, dass er an das Elektrizitätsnetz angeschlossen wird. Er muss glauben, dass die Lichter angehen werden.

Keiner wird mit Friedensverhandlungen beginnen, wenn er davon überzeugt ist, dass Frieden unmöglich ist.

Der Glaube an Frieden an sich schafft noch keinen Frieden. Aber zumindest wird er den Frieden möglich machen.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 24.06.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2017

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