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STANDPUNKT/718: Der Mann, der sprang (Uri Avnery)


Der Mann, der sprang

von Uri Avnery, 30. Dezember 2017


KEINER BESCHREIBT den Ausbruch des palästinensisch-israelischen Konfliktes besser als der Historiker Isaak Deutscher.

Ein Mann lebt in einem Haus, das zu brennen anfängt. Um sein Leben zu retten, springt er aus dem Fenster. Er landet auf einem Passanten unten auf der Straße und verletzt ihn schwer. Zwischen den beiden bricht eine erbitterte Feindschaft aus. Wer ist schuld?

Natürlich kann keine Parabel die Realität genau wiedergeben. Der Mann, der aus dem brennenden Haus sprang, landete nicht zufällig auf gerade diesem Passanten. Der Passant wurde zum lebenslangen Invaliden. Aber im Ganzen gesehen ist diese Parabel besser als jede andere, die ich kenne.

Deutscher lieferte keine Antwort auf die Frage, wie der Konflikt gelöst werden kann. Sind die beiden dazu verdammt, sich einander auf ewig zu bekämpfen? Gibt es eine Lösung?


DER GESUNDE Menschenverstand würde sagen: Natürlich gibt es eine. Die verletzte Person kann nicht in ihren früheren Zustand zurückversetzt werden. Der Mann, der die Verletzung verursachte, kann nicht in sein früheres Haus, das durch Feuer zerstört wurde, zurückkehren. Aber ...

Aber der Mann kann - und muss - sich bei seinem Opfer entschuldigen. Das ist das Mindeste. Er kann - und muss - ihm eine Entschädigung zahlen. Das ist es, was die Gerechtigkeit fordert. Erst dann können sie Freunde werden. Vielleicht sogar Partner.

Stattdessen verletzt der Mann das Opfer immer weiter. Er überfällt das Haus des Opfers und wirft es hinaus. Die Söhne des Opfers versuchen, den Mann zu vertreiben. Und so geht es weiter.

Deutscher selbst, der vor den Nazis aus Polen nach England floh, erlebte die Fortsetzung der Geschichte nicht mehr. Er starb wenige Tage nach dem Sechs-Tage-Krieg.

Statt sich unendlich zu streiten, wer Recht und wer Unrecht hat, wie wunderbar wir und wie abscheulich die andern sind, sollten wir eher über die Zukunft nachdenken.

Was wünschen wir uns? In was für einer Art Staat wollen wir leben? Wie beenden wir die Besatzung und was kommt danach?

Israel ist in "Links" und "Rechts" gespalten. Ich mag diese Begriffe nicht - sie sind offensichtlich unzutreffend. Sie wurden in der französischen Nationalversammlung vor mehr als zweihundert Jahren durch die, vom Redner aus gesehen, zufällige Sitzordnung der Parteien im Sitzungssaal geschaffen. Benutzen wir sie der Einfachheit halber trotzdem.

Die wirkliche Teilung besteht aus denen, die das Volk dem Land vorziehen und jenen, die das Land dem Volk vorziehen. Was ist heiliger?

In den frühen Tagen des Staates machte ein Witz die Runde: Gott rief Ben-Gurion und sagte ihm: Du hast großartige Dinge für mein Volk getan, wünsche dir etwas und ich werde dir den Wunsch erfüllen.

Ben Gurion antwortete: "Ich wünsche mir, dass Israel ein jüdischer Staat wird, dass er alles Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan umfasst und dass es ein gerechter Staat ist."

"Das ist sogar für mich zu viel", sagte Gott. "Aber ich werde dir von den drei Wünschen zwei erfüllen."

Seit damals haben wir die Wahl zwischen einem jüdischen und gerechten Staat Israel in einem Teil des Landes, einem jüdischen Staat im ganzen Land, der nicht gerecht ist, und einem großen und gerechten Staat, der nicht jüdisch ist.

Ben Gurion dürfte in seinem Grab weinen.


WELCHES SIND also die Lösungen, die von den zwei größeren Parteien in der israelischen Politik vorgeschlagen werden?

Die "Linke" hat jetzt ein klares Programm. Ich bin stolz darauf, daran beteiligt gewesen zu sein. Es sagt mehr oder weniger.

a) Ein Staat Palästina wird neben dem Staat Israel entstehen.

b) Zwischen den beiden Staaten wird Frieden herrschen, der sich auf ein Abkommen gründet, in dem offene Grenzen und enge Beziehungen zueinander vorgesehen sind.

c) Es wird - soweit nötig und nach Absprache - gemeinsame Institutionen geben.

d) Die vereinte Stadt Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten sein, West-Jerusalem die Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas.

e) Es wird ein begrenzter Eins-zu-eins-Austausch von Land vereinbart.

f) Es wird eine begrenzte, symbolische Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel geben, alle anderen Flüchtlinge werden großzügige Entschädigung erhalten und in den Staat Palästina zurückkehren oder dort bleiben, wo sie jetzt sind.

g) Israel wird hauptsächlich ein jüdischer Staat sein mit Hebräisch als erster Amtssprache und es steht, wie es dem Gesetz entspricht, jüdischen Einwanderern offen.

h) Beide Staaten werden sich gemeinsamen regionalen Institutionen anschließen.

Dies ist ein klares Bild der Zukunft. Sowohl begeisterte Zionisten als auch Nicht-Zionisten können es von ganzem Herzen annehmen.


WIE SIEHT das Programm der "Rechten" aus? Wie sehen ihre Ideologen die Zukunft?

Die einfache Tatsache ist die, dass die Rechte keine Vorstellung der Zukunft, kein Programm, ja nicht einmal einen Traum hat. Nur vage Gefühle.

Das kann ihre Stärke sein. Gefühle sind eine starke Kraft im Leben von Nationen.

Die Rechte hätte am liebsten eine endlose Fortsetzung der gegenwärtigen Situation: die militärische Besetzung der Westbank und Ost-Jerusalems und die indirekte Besetzung des Gazastreifens, verstärkt durch die Blockade.

Die kalte Logik sagt, dass dies eine unnatürliche Situation ist, die nicht auf Dauer bleiben kann. Früher oder später muss sie institutionalisiert werden. Doch wie?

Es gibt zwei Möglichkeiten und nur zwei: einen Apartheid-Staat oder einen binationalen Staat. Das ist so offensichtlich, dass selbst der fanatischste Rechte dies nicht leugnen kann. Keiner versucht es.

Es gibt eine vage Hoffnung, dass die Araber in Palästina einfach ihre Sachen packen und weggehen. Das wird nicht geschehen. Die einmaligen Umstände von 1948 werden und können sich nicht wiederholen.

Ein paar gut situierte Palästinenser werden tatsächlich nach London oder Rio de Janeiro gehen, aber die demographische Situation wird sich nur geringfügig verändern. Die Masse des Volkes wird bleiben, wo es ist - und immer größer werden.

Schon jetzt leben zwischen dem Meer und dem Fluss im erträumten Groß-Israel gemäß der letzten Volkszählung (Juli 2016) 6.510.894 Araber und 6.114.546 Juden. Die Geburtenrate der Araber, aber auch die der Juden (außer der der Orthodoxen) wird bestimmt sinken.

Wie würde das Leben in einem israelischen Apartheid-Staat aussehen? Eines ist sicher: es würde keine Massen von Juden anziehen. Die Kluft zwischen jüdischen Israelis und Juden in den USA und anderen Ländern würde langsam und unaufhaltsam breiter werden.

Früher oder später würde die entrechtete Mehrheit sich erheben, die Weltöffentlichkeit würde Israel verurteilen und boykottieren und das Apartheidsystem würde auseinanderbrechen. Was würde bleiben?

Was bleiben würde, ist das, was fast alle Israelis fürchten: der binationale Staat. Eine Person - eine Stimme. Ein Land, das ganz anders ist als Israel. Ein Land, aus dem viele israelische Juden auswandern, entweder langsam oder schnell.

Dies ist keine Propaganda, sondern eine einfache Tatsache. Falls es irgendwo einen Ideologen von rechten Flügel gibt, der dieses Problem lösen kann, soll er sich unbedingt jetzt zu Wort melden, ehe es zu spät ist.


ICH KANN der Versuchung nicht widerstehen, den alten Witz noch einmal zu erzählen:

Eine betrunkene britische Dame stand mit einem Glas Whisky in der Hand auf dem Deck der Titanic und sieht, wie sich der Eisberg nähert. "Ich habe um etwas Eis gebeten", ruft sie aus. "Aber dies ist doch lächerlich!"



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 30.12.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2018

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