Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


STANDPUNKT/0729: Die Unmöglichkeit von Frieden in der patriarchalen Weltordnung (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 142, 4/17

Die Unmöglichkeit von Frieden in der patriarchalen Weltordnung
Geschlechter befreiende Friedensordnungen am Beispiel Afghanistan und Nordsyrien

von Mechthild Exo und Yvonne Heine


Nichtwestliches Wissen wird in vielfacher Weise delegitimiert und unsichtbar gemacht - besonders das Wissen von Frauen, das dazu beiträgt, Alternativen zur bestehenden patriarchalen und in vielfacher Weise kolonialisierenden und diskriminierenden Gesellschaftsordnung zu entwickeln. In diesem Beitrag zeigen wir, was eine Dekolonialisierung der Wissensformen für Friedenspolitik bedeutet. Nachdem wir zunächst die destruktiven Folgen solch kolonial-patriarchaler Ausschlüsse anhand des internationalen, interventionistischen, sogenannten Peacebuilding in Afghanistan verdeutlichen, weisen wir anschließend auf die friedenspolitischen Chancen hin, die mit der neuen, von Frauen entwickelten antipatriarchalen (Frauen-)Wissenschaft Jineolojî(1) verbunden sind, welche aus der Kurdischen Bewegung kommt und in der Demokratischen Föderation Nordsyrien/Rojava Anwendung in der Praxis findet.


Militärische Frauenbefreiung in Afghanistan?

Die militärische Intervention in Afghanistan wurde im Oktober 2001 im Namen von Frauenbefreiung, Menschenrechten und Demokratieexport unter Führung der USA begonnen. Als wenige Wochen später nach der Vertreibung der Taliban-Regierung die Ausgestaltung der Übergangsphase in Bonn verhandelt wurde, waren Räume für demokratische und Frauenrechte stärkende Entwicklungsmöglichkeiten bereits verschlossen. Das Wissen über die desaströsen Folgen der in Bonn getroffenen Entscheidungen für Frauen- und Menschenrechte wie für Stabilität und Sicherheit war auch zu diesem Zeitpunkt vorhanden, doch es wurde übergangen.

Die feministische Frauenorganisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) hatte noch vor Beginn der militärischen Handlungen öffentlich und wiederholt vor einer Kooperation mit den Nordallianz-Milizen(2) gewarnt: Diesen dürften weder Waffen noch Geld und politische Anerkennung gewährt werden. Dennoch wurde die Nordallianz 2001 aus der Bedeutungslosigkeit herausgeholt und zu einem "demokratischen" Machtakteur aufgebaut, obgleich diese in der afghanischen Bevölkerung aufgrund ihrer rücksichtslosen Gewalt verhasst war.

RAWA, die damals bereits über eine mehr als 20-jährige Erfahrung, umfangreiche Strukturen und internationale Netzwerke verfügte, hatte bereits viel über die schweren Menschenrechtsverbrechen, die ethnischen Spaltungen und Massaker wie auch die frauenfeindliche und antidemokratische Ideologie dieser Organisationen veröffentlicht.


Ausschluss der Frauen und ihres Wissens

In Kabul planten Frauen im November 2001 eine Demonstration, um die Beteiligung von Frauenrechtsvertreterinnen an den Bonner Verhandlungen zur Bildung der Übergangsregierung zu fordern. Doch die UN-Vertreter, die die Verhandlungen vorbereiteten und bekundeten, sie wollten "alle Stimmen hören", sprachen ausschließlich vor reinen Männerversammlungen. Sie waren nicht daran interessiert, die Resolution zu erhalten, die die Frauendemonstration ihnen hatte überreichen wollen. Alle Schlüsselpositionen und die Mehrzahl der Ministerien der Übergangsregierung wurden der Nordallianz übertragen. Sie erhielten fortan, neben der politischen und militärischen Macht, den direkten Zugriff auf einen Großteil des in das Land fließenden Geldes sowie auf die Ressourcen des Landes.


Dekolonialisierung des Wissens und der Friedensprozesse

Den physischen Ausschluss der Frauen vom Verhandlungstisch zu überwinden ist wichtig, aber nicht ausreichend. Die UN-Sicherheitsratsresolution 1325 und die Nachfolgeresolutionen zur Beteiligung von Frauen an Friedensverhandlungen und dem Aufbau von Friedensordnungen sind wichtige Errungenschaften. Doch sie verfehlen die Intention, wenn sie nur eine Integration in bestehende Staatsaufbaukonzepte erlauben. Selbstbestimmung und Frauenbefreiung können nicht durch Integration in ein Peace- und Statebuilding-Programm erfolgen, das auf eurozentrischen Wissensformen beruht und Ordnungsvorgaben macht, die als universell gültig und alternativlos betrachtet werden. Dies gilt insbesondere, wenn diese Strukturen antidemokratisch und patriarchal ausgefüllt werden, bevor (zudem repressiv eingeschränkte) Räume der Mitgestaltung zugelassen werden. Selbstbestimmung und Frauenbefreiung setzt Wissen voraus, das in demokratischen und linksrevolutionären Bewegungen sowie frauenpolitischen und dekolonialen Kämpfen gesammelt wird. Es wird nach eigenen Kriterien für Gültigkeit und Güte festgehalten und weitergegeben. Dieses Wissen anzuerkennen und damit in Austausch zu treten ist dringend notwendig, um Wissensformen zu dekolonialisieren - insbesondere auch das Wissen, mit dem Friedensprozesse eingehegt werden.


Friedensordnung neu denken

Die Demokratische Föderation Nordsyrien (DFNS), vielen unter dem Namen Rojava bekannt, ist ein Beispiel für den Aufbau einer neuen Ordnung, die die vermeintlich universalen Muster (Staatlichkeit mit Wahlsystem und neoliberaler Marktwirtschaft) zurücklässt und konsequent basisdemokratische, geschlechterbefreite und zunehmend ökologische Lösungen umsetzt. Damit sind zugleich radikal andere Denkweisen, Wissensformen und Methoden verbunden. Nicht nur staatliche und kapitalistische Strukturen werden abgelöst, sondern ganz besonders auch ethnisch diskriminierende und patriarchale Praktiken.

Frauen nehmen eine herausragende Rolle als Akteurinnen ein: Sie verteidigen (unter anderem) bewaffnet den demokratischen Aufbau gegen den Islamischen Staat, aber vor allem durch autonome Organisierung und Bildung. Die Organisierung erfolgt in Frauenkommunen und -räten - beispielsweise in den Stadtteilen, im Dorf, auf Kantonsebene und als junge Frauen oder als ezidische, kurdische, assyrische, arabische Frauen, aber auch im Aufbau von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen zur Streitschlichtung, Pressearbeit, für soziale Gerechtigkeit.

Darüber hinaus etablieren Frauen im Rahmen der Jineolojî ihre eigenen Forschungs- und Bildungsinhalte und -methoden in Frauenakademien, im neuen Schulsystem und seit Oktober 2017 auch in einem zweijährigen Studiengang. Neben der autonomen Organisierung von Frauen gibt es auch einige Mechanismen, die sicherstellen, dass Frauen die durch die Selbstorganisierung gewonnene Stärke auch in die Gesellschaft tragen können. So sind zum Beispiel alle leitenden Positionen immer von einer Frau und einem Mann besetzt.


Erhaltungsversuche der patriarchal-kolonialen Gesellschaftsordnung

Zu den Genfer "Friedens"Verhandlungen für Syrien wurden Vertreter_innen der DFNS, vor allem auf Druck der Türkei, erst gar nicht eingeladen. Die westliche Berichterstattung über den Mittleren Osten baut auf einem Narrativ von Krise, Hoffnungslosigkeit und Zerstörung auf und ignoriert die Fortschritte, die dort gemacht werden. Damit wird das koloniale Bild erzeugt, nur der Westen könne diese rückständige Region befreien.

Die Fortschritte der vor Ort lebenden und sich organisierenden Gesellschaften werden ausgeblendet: Wer kennt hierzulande den von Frauen geschriebenen Gesellschaftsvertrag von 2003, der eine wichtige Grundlage für den Gesellschaftsvertrag der DFNS darstellt?(3) Wer kennt die Frauengesetze, die dort verabschiedet wurden und neben dem Verbot von Mehrfachehe und Zwangsheirat auch Regelungen für Scheidung, gleichberechtigte Verteilung des Erbes und die gleichberechtigte Mitbestimmung von Frauen in allen sie betreffenden gesellschaftlichen Bereichen vorsehen? Wer kennt die Umsetzungen dieser Forderungen in die Praxis - Frauenkooperativen zur Sicherung einer eigenständigen Existenz und zum Aufbau einer subsidiären Wirtschaft, Frauensicherheitskräfte auf allen Ebenen, ein Rechtssystem, das maßgeblich von Frauen gestaltet wird, antipatriarchale Bildung als Grundlage des gesamten Bildungssystems.


Ausblick

In der DFNS findet eine tiefgreifende und von Frauen selbst gestaltete Transformation von einer feudalen zu einer geschlechterbefreiten Gesellschaft statt. Wären die westlichen Staaten tatsächlich daran interessiert, Demokratie und Frauenbefreiung zu fördern, müssten diese Prozesse Aufmerksamkeit, Anerkennung und Förderung erhalten. Das hieße, Frauen nicht nur im bestehenden patriarchalen System einen kleinen Platz der Mitbestimmung einzuräumen, sondern das gesamte patriarchale System in Frage zu stellen und neue Formen des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu finden.

Da wir nicht davon ausgehen können, dass das patriarchale System sich selbst überkommt, ist es von besonderer Bedeutung, die feministische Solidarität zu verstärken und Anerkennung und Raum zu schaffen für den Aufbau geschlechterbefreiter Friedensordnungen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Menschen und Organisationen vor Ort darin unterstützt werden, ihre Ideen, ihre Vorstellungen, ihre Vorschläge zu artikulieren und sich diejenigen gesellschaftlichen und demokratischen Kräfte und Organisationen zu suchen, die sie für das Vorankommen ihrer Ideen als unterstützend betrachten.

Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Waffen und Posten fernab des Geschehens auf irgendwelchen Konferenzen in Europa zwischen patriarchalen, islamistischen und kolonialistischen Parteien verschachert werden und die demokratischen, lokalen Prozesse konterkarieren.


Zu den Autorinnen:
Mechthild Exo setzt als Friedens- und Konfliktforscherin ihren Schwerpunkt auf die Dekolonialisierung von Wissen und antipatriarchale Perspektiven.
Yvonne Heine hat sich ein Jahr lang vor Ort an der Frauenrevolution in Rojava beteiligt und ist Mitglied des Jineolojî-Komitees in Europa.


Anmerkungen:
(1) Kurdisch für Wissenschaft der Frau. Siehe dazu auch:
http://jineoloji.org.
(2) Militärisches Zweckbündnis aus Organisationen mit islamistischer Ideologie, aber Gegenspieler der Taliban
(3) PJA (Partei der Freien Frau): The Social Contract Declaration (2003). Mezopotamien Verlag: Neuss.

Literaturtipp:
Exo, Mechthild (2017): Das übergangene Wissen. Eine dekoloniale Kritik des liberalen Peacebuilding durch basispolitische Organisationen in Afghanistan. Transcript: Bielefeld.

Webtipp:

http://kurdistan-report.de

*

Quelle:
frauen*solidarität Nr. 142, 4/2017, S. 10-12
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
Informations- und Bildungsarbeit,
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauen*solidarität erscheint viermal im Jahr.
Preis pro Heft: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang