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STANDPUNKT/793: Afghanistan ist für den Westen verloren - wie weiter? (Jürgen Heiducoff)


Afghanistan ist für den Westen verloren!
Wie weiter?

Von Jürgen Heiducoff, Berlin, 17. August 2018
(2005 - 2008 in Afghanistan)


Oft liest man, der Krieg in Afghanistan sei durch keine der Seiten zu gewinnen. Dies erschwere auch eine durchgreifende Verhandlungsbereitschaft und damit eine politische Lösung des Konfliktes. Zu unterschiedlich sind die taktischen Verfahren der asymmetrischen Kriegführung.

Der stärker zum Fanatismus neigenden Einsatz- und Kampfbereitschaft auf Seiten der radikalislamischen Milizen haben die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und auch die Truppen der Stationierungsstreitkräfte wenig entgegen zu stellen. Ihre technologischen und logistischen Vorteile wiegen dies kaum auf. Doch allein damit kann man eben keinen Krieg gewinnen.

Afghanistan ist für unsere westliche Zivilisation verloren. Denn es ist nicht gelungen, die Menschen am Hindukusch zu gewinnen. Nach alledem, was in den letzten 17 Jahren in und um Afghanistan geschah, kann kein Vertrauen wieder gewonnen werden. Die Afghanen fühlen sich belogen, betrogen und im Stich gelassen. Und dies trotz der Milliarden, die investiert wurden. Man muss eben keinen Krieg führen, um die Menschen zu gewinnen.

Obwohl also der Krieg, den die US-Strategen nach dem anfänglich schnellen Sieg über die Taliban so nicht erwartet haben, weder verloren noch gewonnen werden kann, ist Afghanistan bereits seit langem für den Westen verloren.

Die Politik will diese Tatsache nicht eingestehen.

Seit Wochen bestimmen Beiträge über Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge die öffentliche Meinung in unserem Land. Nur wenige Informationen erreichen uns über die tatsächliche aussichtslose Lage im Land am Hindukusch. Von Stabilität kann da keine Rede sein. Es vergeht kaum ein Tag, an dem keine Agenturmeldung über Kämpfe und Anschläge in verschiedenen Regionen des Landes vorliegen. Und diese dürften nur die Spitzen der Eisberge sein. Kommentiert werden sie selten. Und auf Reaktionen und Forderungen gegenüber der Bundesregierung wartet man vergebens. Die den militärischen Hauptquartieren zur Verfügung stehenden Informationen und Meldungen dürften weit detaillierter und aussagekräftiger als die Agenturmeldungen sein. Das heißt, die militärische Führung weiß sehr gut Bescheid über die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die bewaffnete Opposition in Afghanistan. Doch die westlichen Stationierungsstreitkräfte im Land am Hindukusch kümmern sich um den Schutz der eigenen Stellungen und Camps und geben ansonsten geschönte Lageberichte an Politiker und Parlamentarier nach Hause. Diese bilden die Grundlage für die bekannte, nicht nachvollziehbare Durchhaltestrategie.

AFP meldete am 02.08.2018:

"Bei zwei Angriffen in Afghanistan sind mindestens 26 Menschen getötet worden. In der ostafghanischen Provinzhauptstadt Dschalalabad stürmten bewaffnete Angreifer ein Regierungsgebäude, töteten 15 Menschen und verletzten weitere 15, wie ein Sprecher der Provinzregierung von Nangarhar sagte. Bei einem weiteren Anschlag im Westen Afghanistans wurden nach Behördenangaben mindestens elf Menschen getötet und weitere 31 verletzt, als ein Sprengsatz einen Reisebus traf.

Dschalalabad ist in den vergangenen Monaten wiederholt Ziel von Anschlägen geworden, bei denen Dutzende Menschen getötet wurden. Meist war die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) dafür verantwortlich. Zuletzt hatten Bewaffnete ein Ausbildungszentrum für Hebammen in der Provinzhauptstadt angegriffen und dabei mindestens drei Menschen getötet.

Der Anschlag im Westen Afghanistans traf einen Bus, der von der Provinzhauptstadt Herat unterwegs nach Kabul war. Die Taliban hätten die Bombe platziert, um Sicherheitskräfte zu treffen, sie habe aber einen Reisebus erwischt, sagte ein Polizeisprecher der Provinz Farah. Die Opfer waren größtenteils Frauen und Kinder."

In der Provinzhauptstadt Gasni im Südosten des Landes herrschte Mitte August etwa eine Woche Chaos. Hunderte Talibankämpfer seien in die Stadt eingedrungen, hätten das Elektrizitäts- und Mobiltelefonnetz funktionsunfähig gemacht und kämpften gegen die örtlich Polizei. Einheiten der afghanischen Nationalarmee seien erst in die Region verlegt worden. 1) 2)

Am 15.08.18 informierte dpa über die Lage im Nordwesten des Landes. Talibankämpfer hätten eine Militärbasis erobert und dabei Dutzende afghanische Soldaten getötet. Rund 140 Militärs seien laut Provinzrat Mohammed Tahir Rachmani in dem Camp im Bezirk Ghormatsch der Provinz Fariab stationiert gewesen. Nur eine kleine Gruppe Soldaten hätte den Angriff überlebt. Sie hätten sich nach drei Tagen schwerer Gefechte ergeben. Das Schicksal der Überlebenden sei ungewiss. Seit zwei Monaten sei die Militärbasis von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, da der ganze Bezirk rund um das Camp vollständig von Taliban kontrolliert werde, so der Provinzrat. 3)

Dies zeigt, dass die radikalislamischen Milizen gleichzeitig in verschiedenen Regionen des Landes dominant sind.

Reuters meldete am 16.08.18:

"Mindestens 25 Tote durch Anschlag in Kabul
Bei einem Anschlag in einem schiitisch geprägten Viertel in der afghanischen Hauptstadt Kabul sind am Mittwoch mindestens 25 Menschen getötet worden. Außerdem seien 35 Menschen verletzt worden, erklärte das Gesundheitsministerium. Die Behörden gingen von einem Selbstmordattentat aus. Zu der Tat bekannte sich zunächst niemand. In der Vergangenheit hatte jedoch der »Islamische Staat« zahlreiche Anschläge auf Schiiten für sich reklamiert. Die Taliban erklärten, sie steckten nicht hinter der Tat."

Es ist in Afghanistan nicht einfach so, dass regierungsfeindliche Kräfte gegen die afghanische Armee, Spezialtruppen, Polizei und ausländische Stationierungsstreitkräfte kämpfen. Die vielschichtige und undurchsichtige Lage wurde jüngst weiter verschärft, indem Kämpfer rivalisierender radikalislamischer Verbände (Taliban und Islamischer Staat) bereits öfter vor allem im Norden Afghanistans heftig aneinander gerieten. Es gab Opfer auf allen Seiten und natürlich unter der Zivilbevölkerung.

All diese Vorfälle zeigen einmal mehr, dass die Kabuler Regierung und ihre Exekutive nicht Herr der Lage im eigenen Land sind. Die Milizen der bewaffneten Opposition erstarken und üben immer wieder Anschläge und militärische Angriffe gegen afghanische und westliche Sicherheitskräfte aus. Daran ändert auch der einmalige Umstand eines Waffenstillstandes für wenige Tage des Eid-Festes Mitte Juni dieses Jahres nichts.

Neu ist, dass die Taliban auch wieder an ihrem politischen Profil arbeiten. Jüngst fanden politische Gespräche in Usbekistan mit dortigen Regierungsvertretern ohne Beteiligung der Kabuler Regierung statt. Da ist die Tendenz zur diplomatischen Anerkennung der Gotteskrieger seitens Usbekistans gegeben. 4)

Im Wesentlichen hat sich in Afghanistan seit der Reduzierung der Zahl der westlichen Kampftruppen an der allgemeinen Lage wenig geändert.

Die Amerikaner, getarnt mit multinationaler Gefolgschaft, sind präsent, Spezialeinheiten sind im Lande unterwegs. Sie bauen ihre Militärbasen weiter aus und zeigen "Show of force" wann und wo sie es für erforderlich halten. Der Einsatz von Bombern, Hubschraubern und Drohnen gehört dazu. Es ist schwierig im Verhalten der USA in Afghanistan eine klare Strategie zu erkennen. Zunächst sind Kampftruppen abgezogen, dann wieder zugeführt worden. Die Intensität der Drohneneinsätze geht auf und ab und vor allem die Luftangriffe wurden in den letzten Monaten verstärkt. Und die treffen immer auch unschuldige Zivilisten.

Mit einer ernsthaften Reduzierung der US-Präsenz am Hindukusch ist gegenwärtig nicht zu rechnen. Zu wichtig erscheint die Nutzung der militärischen Infrastruktur unmittelbar östlich von einem zu befürchtenden künftigen Kriegsschauplatz Iran.

Um von dieser Aussichtslosigkeit abzulenken zeigte die FAZ online am 06.08.18 ein Video mit dem Titel "Jahrelang verboten. Afghanen lassen Drachen wieder steigen". 5)

Ist es das, was die Afghanen jetzt brauchen? Zudem ist Drachensteigen keine afghanische Besonderheit, sondern Tradition in ganz Zentral-, Ost- und Südostasien.

Soldaten der Bundeswehr folgen seit fast 17 Jahren mit ihrem größten Auslandseinsatz den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie führen diesen mit einem Ausbildungs- und Beratungsauftrag im Norden des Landes weiter. Während der Berater- und Ausbildungseinsätze der Bundeswehr werden stets auch ungewollt Soldaten und Polizisten für die andere Seite produziert. In Ländern wie Afghanistan gibt es keine absolute Loyalität von Kämpfern für eine der politischen Seiten. Junge und wehrfähige Männer verdienen mit ihren militärischen Fähigkeiten den Lebensunterhalt für ihre Familien. Dabei kommt dem Überleben der Familie erste Priorität zu. Zweitrangig ist die Treue zu einer politischen oder staatlichen Seite. Es gilt das Prinzip: Wessen Geld ich nehme, dessen Lied ich singe.

Blicken wir zurück ins Jahr 2001: Im Vorfeld der Entsendung der ersten Bundeswehr-Soldaten nach Kabul wurden viele Argumente herangezogen, um das Afghanistan-Engagement der Bundesrepublik Deutschland zu begründen. Einer davon dürfte der glaubwürdigste und nachhaltigste sein: die uneingeschränkte Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Viele andere Begründungen waren wenig plausibel und nicht haltbar. Doch ist es sinnvoll, noch immer einer US-Regierung blind zu gehorchen, deren Politik immer undurchschaubarer wird? Während Missionen der Nichtregierungsorganisationen auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe vielerorts am Hindukusch anfangs unmittelbare Wirkung zeigten und dem guten Ruf und Ansehen der "Internationalen" diente, kann man dies von den wesentlich teureren militärischen Einsätzen nicht behaupten. Durch die gemeinsame Führung und den koordinierten Einsatz militärischer Verbände einschließlich der Bomben und Raketen der Kampfflugzeuge und Hubschrauber wurden Tod und Leiden der zivilen Opfer der Schuld aller stationierten ausländischen Streitkräfte zugeschrieben. Wir haben den Vertrauensbonus, den Deutschland lange unter den Afghanen besaß, längst verspielt. Bereits 2007 warnte ich als militärpolitischer Berater des deutschen Botschafters in Afghanistan in einem Brief an den damaligen Außenminister Steinmeier: "Es ist unerträglich, dass unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile der Zivilbevölkerung und damit erhoffte Keime einer Zivilgesellschaft bekämpfen. Die Paschtunen müssen dies als Terror empfinden! Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter den Menschen ... Wir sind dabei, durch die unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen ... der Afghanen zu verlieren. Es gibt keine Entschuldigung für das durch unsere westlichen Militärs erzeugte Leid unter den unbeteiligten und unschuldigen Menschen ..." 6) (Auszug aus dem "Brandbrief aus Kabul", MONITOR Nr. 563 am 31. Mai 2007 Brandbrief aus Kabul - Schwere Vorwürfe gegen westliche Militärs in Afghanistan Bericht: Markus Zeidler, Georg Restle).

Es hat sich leider im Land am Hindukusch kaum etwas zum Positiven entwickelt. Die Bundesregierung hat es inzwischen aufgegeben, ihre jährlichen Lageberichte als "Fortschrittsberichte" zu bezeichnen.

Wirtschaftlich und sozial geriet das Land trotz der westlichen Millionen, die investiert wurden, an den Rand eines Abgrundes. Die Sicherheitslage hat sich dramatisch verschärft. Anschläge werden selbst in den Zentren der Städte verübt. Die regierungsfeindlichen Kräfte gewinnen an Einfluss überall im Lande. Die Zahl der Flüchtlinge steigt stetig. Die Zerstörung der Infrastruktur des Landes am Hindukusch ist neben den rivalisierenden Milizen im Bürgerkrieg auch den ausländischen Invasoren zuzuschreiben.

Von einem Wiederaufbau des Landes ist bisher wenig zu spüren. Auch die Arbeiten an den Projekten der Hilfsorganisationen werden gegenwärtig durch die Verschlechterung der Sicherheitslage weiter beeinträchtigt. Natürlich hat z.B. USAID in den letzten Jahren landesweit Projekte auf dem Gebiet des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie der Landwirtschaft und der Verbesserung der Infrastruktur umgesetzt. Aber dafür wurde nur ein Bruchteil der Mittel aufgewandt, die durch die USA und andere NATO-Staaten für eigene Camps, Militärbasen und Flugplätze wie Bagram, für einige strategisch wichtige Straßen und für die Hochsicherheitsanlagen der eigenen Botschaften in Kabul verbraucht wurden.

Während unter sowjetischer Besatzung unter anderem in Kabul auch soziale Aufbauarbeit geleistet wurde, wovon noch heute die Mikrorayons genannten Wohngebiete zeugen, beschränkt sich der dringend notwendige Wohnungsbau in der Gegenwart auf mit gewaschenem Geld errichtete überdimensionierte Villen.

Wie weiter?

Es ist dem deutschen Steuerzahler nicht mehr zuzumuten, die Folgen und Kosten der unrealistischen Afghanistanpolitik der Bundesregierung zu tragen.

Der Einsatz des gegenwärtig größten Bundeswehrkontingentes im Ausland hätte längst beendet sein müssen. Er ist nicht effizient, weil er nicht zur Veränderung der militärischen Lage beitragen kann. Blinder Gehorsam der Bundesregierung gegenüber einer nicht kooperationsbereiten US-Regierung und andauernde Unterstützung der Marionettenregierung in Kabul machen wenig Sinn. Es ist Zeit über einen Ausstieg aus der Politik der Einmischung in die Angelegenheiten anderer Kulturen im Fahrwasser der USA nachzudenken.

Die konsequente Forderung an die Bundesregierung kann nur lauten:

Bundeswehr raus aus Afghanistan!


Jürgen Heiducoff lebte und arbeitete bis vor etwa 10 Jahren mit kurzen Unterbrechungen fast drei Jahre in Afghanistan. Diese Erfahrung lässt ihn seither nicht mehr los. Natürlich ist auch er durch die Eindrücke und Erlebnisse geprägt worden und sicher schneller als normal gealtert. Dennoch lehnt er es ab, als "Afghanistan Veteran" bezeichnet zu werden. Da gibt es andere Leute, die diese Bezeichnung verdienten wie z.B. Karla Schefter oder die "Brüder", die Heiducoff in Kabul kennen und schätzen lernte.


Anmerkungen:

1) http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-130-tote-nach-taliban-angriff-auf-ghasni-15736062.html

2) https://www.neues-deutschland.de/artikel/1097126.viele-tote-bei-gefechten-in-afghanistan.html?sstr=afghanistan

3) https://www.neues-deutschland.de/artikel/1097358.taliban-toeten-dutzende-soldaten-in-afghanistan.html?sstr=afghanistan

4) http://www.spiegel.de/politik/ausland/taliban-diskutieren-in-usbekistan-ueber-frieden-in-afghanistan-a-1222766.html

5) http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/bunte-himmelsflieger-in-afghanistan-15724708.html

6) http://www.wdr.de/tv/monitor/beitrag.phtml?bid=885&sid=164

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Quelle:
© 2018 by Jürgen Heiducoff
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2018

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