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STANDPUNKT/829: Bebenzone Lateinamerika (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Bebenzone Lateinamerika

Von Günter Buhlke, 18. Januar 2019



Ausgetrocknetes Flußbett des Rio Grande mit steilen Hängen an beiden Seiten - Foto: Scott Ehardt [Public domain], from Wikimedia Commons

Rio Grande del Norte flussabwärts (Mexiko rechts, USA links)
Foto: Scott Ehardt [Public domain], from Wikimedia Commons

Seit 5 Jahrhunderten durchzieht eine Spannungslinie von Kap Horn bis zum Rio Grande del Norte Süd- und Mittelamerika. Sie entspringt nicht natürlichen, physikalischen Kräften. Verantwortlich ist das menschengemachte koloniale Erbe Spaniens, Portugals, Frankreich u.a. mit der gewaltsamen Aneignung der Landesreichtümer und der Unterordnung der Ureinwohner.

In der Neuzeit haben sich im Verlauf der Marktwirtschaft mit ihrer neoliberalen Ausprägung neue Widersprüche aufgebaut. Die Hauptgründe sind die erzwungene Arbeitsteilung zwischen Rohstoffwirtschaft in den Entwicklungsländern und ihre Verarbeitung im Ausland. Die Ablehnung der Selbstbestimmung, eigene Wege für Alternativen zu gehen, ist ein weiterer Grund für Differenzen. Das alles wird am Verhalten der USA und anderer westlicher Industrieländer zu den 28 Staaten des CELAC [1] Verbundes sichtbar, insbesondere gegen Kuba, Chile, Venezuela, Bolivien, Nicaragua. Der Rio Grande del Norte ist nicht nur eine Grenze zwischen Staaten, sondern auch zwischen unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche gesellschaftlichen Ordnungssysteme sinnvoll wären.

Eingebettet sind die Spannungsverhältnisse Lateinamerikas seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die weltweiten Auseinandersetzungen zwischen Ost und West, um eine unipolare Welt und in den Streit der Systeme. Das Auftreten der Befreiungstheologie in den 70er Jahren, mit ihren Themen der sozialen Gerechtigkeit, aber auch die gegenwärtige Einmischung der Evangelikalen aus den USA sind weitere Facetten der Widersprüche.

Die Schwerpunkte der von den lateinamerikanischen Ländern angestrebten Alternativen sind ablesbar, beispielsweise aus ihren Verfassungen mit starken demokratischen Elementen oder aus ihren erkenntnistheoretischen Vorstellungen des "Buen vivir / auskömmliches Leben". Verfassungen und die Theorie enthalten umfangreiche Elemente der bürgerlichen Aufklärung Europas (z.B. J.J. Rousseau: "Das Volk ist alleiniger Souverän mit unteilbaren, unveräußerlichen und unübertragbaren Rechten" oder "Die Früchte der Erde gehören allen, doch die Erde selbst niemandem" oder Voltaire: "Über die Vernunft und ihre Tochter die Wahrheit", die sich beide lange verstecken mussten).

Seit 1847 wurden 28 Militärinterventionen direkt oder indirekt, vom Norden des Kontinents her kommend, unternommen. (Richard Gerhard Antwort an R. Lee Erney, 22.10.2016). Die Nummer 29 befindet sich aktuell gegen Venezuela in der Planungs- und Übungsphase. US-Schiffe operieren im grenznahen Raum zu Venezuela, Militärmanöver im nördlichen Brasilien und Hubschrauberübungen im Januar 2019 in Panama verheißen nichts Gutes. Es besteht begründete Hoffnung, dass es zu keinem Ausbruch kommt.

In den vergangenen 171 Jahren gab es in Lateinamerika, mit zwei Ausnahmen, untereinander keine Kriege, jedoch viele interne Militärdiktaturen und bewaffnete Rebellionen, die für spannungsgeladene Unruhen sorgten. Die Waffen kamen meist aus dem Norden.

Der Hotspot der gegenwärtigen Spannungen liegt in Venezuela. In Nicaragua, Brasilien, Bolivien, Honduras, Kuba bauen sich die Spannungen gefährlich auf.

Geschichtlich gab es in Mexiko die größten Spannungsentladungen. 1847/1848 verlor Mexiko nach einem Krieg etwa die Hälfte seines Territoriums an die USA. Der Anlass kam aus den USA: Die mexikanische Regierung hob die Sklaverei auf und die texanischen Sklavenhalter, Texas gehörte zu dieser Zeit zu Mexiko, verweigerten das Verbotsgesetz und sie trieben ihre Regierung zum Krieg (Romeo Rey, "Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart", Verlag C.H. Beck). 1911, zeitgleich mit der russischen Revolution, gab es bewaffnete Aufstände der landlosen mexikanischen Bauern unter der Losung "Tierra y Libertad" (Land und Freiheit). Die mexikanische Politik kollidierte danach mehrfach mit der offiziellen Politik der USA: Trotz Aufforderung des Nordens wurden die diplomatischen Beziehungen zu Kuba nie abgebrochen, Die UNO-Vollversammlung verabschiedete 1974 zwei Resolutionen für eine "Neue Weltwirtschaftsordnung", die von Mexiko maßgeblich eingebracht wurden. Mexiko war Initiator des Vertrages von Tlatelolco, der eine erste kontinentale atomwaffenfreie Zone der Welt schuf. Eine Großtat, die mehr als einen Nobelpreis verdient hätte. Die USA und die Länder der EU lehnten den Beitritt zum Vertrag ab. Mit der Präsidentschaft von Donald Trump wird ein neuer großer Spannungsaufbau erwartet. Sein erstes Dekret forderte bekanntlich den Bau einer Mauer zu Mexiko! Ein Affront gegen Mexiko, zumal seine erste Forderung die Bezahlung durch Mexiko vorsah.

Der Präsident Venezuelas blieb im Moment der Gefahr für das Land im Rahmen der demokratischen Verfassung, die mit einer Zustimmung von mehr als 80 Prozent vom Volk bestätigt wurde. Er rief eine verfassungsgebende Versammlung gemäß den ART. 348 und 349 ein. Das waren keine Akte einer Diktatur. Sein erneuter Antritt als Präsident, beginnend ab dem 10.1.2019, wird durch das Wahlergebnis von 67,8 Prozent und vom Verfassungsartikel 231 legitimiert. Die Argumente der venezolanischen Opposition sind Ideologie beladen und lassen Sachlichkeit vermissen.

Die Bevölkerung Kubas leidet seit 60 Jahren unter den Spannungen, die von umfangreichen Sanktionen, Boykotten, medialen Verleumdungen und Attacken vieler Formen seitens der nördlichen Nachbarn und Ländern der EU begleitet werden. Chile, Nicaragua, Guatemala, San Salvador, Haiti haben bittere Zeiten erlebt. Dem Volksstamm der Mapuche werden bis zur Gegenwart Grundrechte verweigert.

Latein- und Mittelamerikaner setzten als Entwicklungsländer seit vielen Jahren Hoffnungen auf den Gründungsgeist und die Kraft der UNO mit ihren Organen.

Wie die Widersprüche in den Vorstellungen Lateinamerikas zwischen Nord und Süd aufgelöst werden, ob auf Verhandlungswegen und mit Vernunft oder über Konfrontationspolitiken, die militärische Optionen einschließen, ist zur Herausforderung für die Politik im 21. Jahrhundert geworden. Varianten, die militärische Schritte einschließen sollten der Vergangenheit angehören.

Es kommt darauf an, Kompromisse zwischen den Wünschen und den Möglichkeiten zu finden. Die Politik steht in der Verantwortung, dass das tägliche Leben für die Bevölkerung ausgewogen funktioniert.

Soziale Miseren, Unsicherheiten, Ursachen für Fluchtbewegungen sowie der Zustand der Umwelt harren auf Lösungen, in unserer einen Welt! Eine gleichberechtigte Partnerschafft zwischen Nord und Süd könnte viel bewegen.


Über den Autor

Günter Buhlke, geb. 1934. Verh. Studium an der Humboldtuniversität und der Hochschule für Ökonomie Berlin. Dipl. Volkswirtschaftler. Internationale Arbeit als Handelsrat in Mexiko und Venezuela. Koordinator für die Wirtschaftsbeziehungen der DDR zu Lateinamerika. Wirtschaftserfahrungen als langjähriger Leiter des Schweizerischen Instituts für Betriebswirtschaft in Berlin, Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft und Referent im Haushaltsausschuss der Volkskammer und des Bundestages. Gegenwärtig ehrenamtliche Tätigkeiten.


Anmerkung:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaft_der_Lateinamerikanischen_und_Karibischen_Staaten


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2019

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