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STANDPUNKT/900: Chance vertan - Das Versagen der Politik beim Klimaschutz (spw)


spw - Ausgabe 5/2019 - Heft 234
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Chance vertan!
Statt einer sozial-ökologischen Transformation bestimmt ein Überbietungswettbewerb die Klimadebatte in Deutschland

von Michael Müller


Das Versagen der Politik beim Klimaschutz

Obwohl in unserem Land heute Hundertausende von Demonstrantinnen und Demonstranten für Energiewende und Klimaschutz, gegen Freihandel und nationalistische Restauration auf die Straße gehen - oder vielleicht gerade deshalb -, fällt der Verlust an politischer Theorie so deutlich auf. Wenn Politik erfordert, wie John Maynard Keynes in seinem berühmten Aufsatz über die Möglichkeiten für unsere Kinder und Enkelkinder von 1930 ausgeführt hat, unter die Oberfläche zu schauen, Zusammenhänge zu verstehen und längerfristige Entwicklungstendenzen zu erkennen, dann findet Politik kaum noch statt. Besonders deutlich wird das in der aktuellen Klimadebatte, in der eine Strategie der sozial-ökologischen Transformation schmerzlich vermisst wird, dafür aber ein Überbietungswettbewerb mit immer neuen Forderungen stattfindet, wobei immer gleich versichert wird, dass alles gerecht ablaufen wird. 30 Jahre wurde das Thema an den Rand gedrängt. Jetzt will sich jeder den grünen Lorbeerkranz aufsetzen, auch die, die noch vor wenigen Monaten ökologische Forderungen so fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Überzeugend ist das nicht.

Angela Merkel will sich in dem ihr zu Unrecht von der Presse verliehenen Titel der Klimakanzlerin sonnen. Dabei war sie Umweltministerin von 1994 bis 1998, als das Thema erstmals auf ein Abstellgleis geschoben wurde, denn man hatte die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Systemen doch gewonnen. Warum also etwas ändern? Das hat sich 2006 noch einmal kurz geändert, als sich Sigmar Gabriel als Vorreiter der ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft zu profilieren suchte und sich zusammen mit der Kanzlerin vor den schmelzenden Eisbergen Grönlands für die Medien ablichten ließ. Doch der deutsche Klimaschutz war im Kern nichts anderes als die ungewollte Dividende aus dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und ihrer maroden Infrastruktur. Dadurch gingen in den neuen Bundesländern die CO2-Emissionen um mehr als 50 Prozent zurück.

Dennoch ist sich die Bundeskanzlerin nicht zu blöde, die Schülerinnen und Schüler von Fridays for Future zu loben, die doch nichts anderes tun, als in erster Linie ihre mangelhafte, ja fehlende Politik anzuklagen. CSU-Chef Markus Söder tut das, was er am liebsten macht, er verkleidet sich. Diesmal als grünes Männlein, das alles verspricht, was es bisher nicht gehalten hat. Außer natürlich, dass Bayern voran geht - wie schon in der Vergangenheit bei der Atomenergie, der Blockade erneuerbarer Energien, der industrialisierten Landwirtschaft. Die Union ist nichts anderes als die Siegelbewahrerin der niedergehenden Epoche, die mit dem Glauben an Wirtschaftswachstum und neue Technologien die Begrenztheit und Störanfälligkeit der Erde ignoriert. Und natürlich soll es keine Verlierer geben, Klimaschutz light mit markigen Worten.

Die FDP will den gescheiterten Neoliberalismus auf die Umweltpolitik übertragen, in der Energiepolitik legt sie sich mit ihrer Inkompetenz besonders kräftig ins Ruder. Die Linkspartei sucht noch immer ihre Rolle in der Umweltpolitik. Grünen Chef Robert Habeck moderiert und kritisiert alles im bekannten Soft-Stil, also ohne konkret zu werden. Im übrigem gehöre der Klimaschutz doch zur DNA seiner Partei. Wer weiß schon, dass der Vertreter der Grünen in den Anfangsjahren des Klimaschutzes Wilhelm Knabe hieß, der weder in der zuständigen Klima-Enquete des Bundestages noch allgemein sonderlich aufgefallen ist. Die AfD schließlich ist der politische Zwilling der Klimaleugner, gleich und gleich verbindet sich. Und das ist es nicht wert, weiter erwähnt zu werden

Und die SPD?

Im Fußball würde man die SPD chancentot nennen, wie die Angriffsspieler heißen, die selbst in aussichtsreicher Situation das Tor nicht treffen. Zweifellos hat die SPD politische Fehler gemacht, vor allem praktisch, weniger programmatisch, aber selbst in der rot-grünen Koalition von 1998 bis 2005, als die SPD ihre eigenen Programme mal hätte ernst nehmen sollen, herrschte eine (falsche) "Arbeitsteilung" vor. Dem Koalitionspartner wurden die ökologischen Fragen überlassen, obwohl - nicht zuletzt angestoßen durch Erhard Eppler, Volker Hauff, Udo Simonis, Klaus Michael Meyer-Abich und anderer - in der SPD-Bundestagsfraktion mit Monika Griefahn, Liesel Hartenstein, Ulrike Mehr, Michael Müller, Hermann Scheer und Ernst Ulrich von Weizsäcker weitaus mehr ausgewiesene Vertreterinnen und Vertreter der Umweltbewegung vertreten waren als in allen anderen Bundestagsfraktionen.

In der SPD hatte es schon früh wichtige programmatische Impulse für eine ökologische Reformpolitik gegeben. 1961 entwickelte Willy Brandt die Vision vom blauen Himmel über der Ruhr. 1970 legte die sozialliberale Bundesregierung das Sofortprogramm für den Umweltschutz und 1971 das Umweltprogramm der Bundesregierung vor. Damals wurden die bis heute geltenden Prinzipien der Umweltpolitik eingeführt: Verursacherprinzip, Vorsorgeprinzip und Integrationsprinzip. Dass die SPD bis heute hinter den eigenen programmatischen Zielen zurückgeblieben ist, muss als eine Ursache für die Krise der SPD gesehen werden. Mit dem "Sondervermögen Arbeit und Umwelt" von 1984, dem Berliner Grundsatzprogramm von 1989, das eine starke ökologische Orientierung hatte, dem Umweltprogramm der SPD-Bundestagsfraktion von 1993, in dem erstmals ein Öko-Deal gefordert wurde, und dem der Europäischen Sozialdemokraten "Gute Arbeit, gute Umwelt" von 1995, dem 100.000 Dächer-Solarprogramm und 2006 dem Programm zur ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft war die SPD deutlich weiter als andere Parteien, auch wenn das in der praktischen Politik keine große Rolle spielte.

Die Umweltpolitiker der SPD wurden respektiert, aber nicht akzeptiert. Auf den Parteitagen blieben sie nach so einem einseitigen Aufleuchten wie von 1986, als es um den Ausstieg aus der Atomenergie ging und sie gebraucht wurden, in der Rolle der Außenseiter.

Doch nun brennt es. Schülerinnen und Schüler, die sich Angst um ihre Zukunft machen, brechen mit ihren Freitagsdemonstrationen die politische Erstarrung auf. Die Parteien reagieren wie aufgescheuchtes Wild. Ein Klimakabinett soll für Ruhe sorgen und die aufmüpfigen Protestierer beruhigen. Was aber fehlt, ist eine Strategie, die eine Antwort auf das komplexe Thema des anthropogenen Klimawandels gibt, die auch der gesellschaftspolitischen und kulturellen Dimension des Themas gerecht wird. Auf beiden Seiten übrigens. Doch während das Fehlen einer gesellschaftstheoretischen Durchdringung des Themas auf der Seite der Schülerinnen und Schüler verständlich ist, so wenig ist das auf der Seite der Politik entschuldbar.

Der anthropogene Klimawandel - eine Menschheitsherausforderung

Der vom Menschen verursachte Klimawandel entscheidet über Lebensqualität und Frieden künftiger Generationen und führt in vielen Erdregionen bereits zu humanitären Katastrophen: Wetterextreme nehmen zu, Wüsten und Dürren breiten sich aus, Starkregen, Sturmfluten und Überschwemmungen häufen sich. Während die Natur für Klimaänderungen tausende Jahre brauchte, bewirkt der Mensch seit der industriellen Revolution den Klimawandel mit einem immer schnelleren Tempo. Der Mensch gefährdet sich selbst.

1992 begann die internationale Klimadiplomatie auf dem Erdgipfel von Rio mit dem Klimarahmenvertrag. Seit 1995 finden jährlich Klimakonferenzen der UNO statt. An ihnen lässt sich ablesen, dass es in den letzten Jahren immer stärker in Richtung Anpassung an den Klimawandel ging. Während der Pariser Klimakonferenz im Dezember 2015 wurde eine globale Erwärmung um 1 Grad Celsius gegenüber der natürlichen Entwicklung gemessen. Im gegenwärtigen Trend wird um das Jahr 2040 die erste kritische Grenze, eine Erwärmung um 1,5 Grad Celsius, erreicht. Rund zwei Jahrzehnte später droht bereits die 2-Grad-Celsius-Marke. Der scheinbar geringe Unterschied von 0,5 Grad Celsius bedeutet, dass rund 400 Millionen Menschen ihre Ernährungsgrundlagen verlieren würden, über 100 Millionen den Zugang zu Süßwasser, und die Korallenriffe, das zweitgrößte Öko-System der Welt, wären unwiederbringlich abgestorben.

In den letzten 600.000 Jahren schwankte die Erdtemperatur zwischen 10 Grad Celsius und rd. 16,5 Grad, in den Spitzen gerade mal ein Unterschied von 6 Grad Celsius. Bei einem prognostizierten Plus bis zu 4 Grad Celsius bis Ende unseres Jahrhunderts packt der Mensch auf eine Warmzeit eine zweite Warmzeit drauf. Im "Treibhaus" Erde sind die wichtigsten Treibhausgase Kohlendioxid (CO2) Methan (CH4), Distickstoffoxid (N2O) und Ozon (O3) und Chlorverbindungen. Je höher ihr Anteil ist, desto mehr werden "die Atmosphärenfenster geschlossen".

Obwohl der Klimawandel eine globale Herausforderung ist, die letztlich alle Menschen trifft, sind die Weltregionen unterschiedlich von der Erwärmung betroffen. Der Klimawandel ist auf tragisch ungerechte Weise zeitlich und sozial verteilt. Denn

  • in weiten Teilen Afrikas droht eine deutliche Senkung (mehr als 20 Prozent) der heutigen Ernteerträge. 18 Prozent der afrikanischen Bevölkerung leiden bereits an Hunger und Unterernährung, obwohl Afrika nur für knapp 5 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist;
  • in Lateinamerika werden viele Menschen ihre Trinkwasserversorgung verlieren. In den letzten zwei Jahrzehnten sind die Eisschichten in den Kordilleren um rund 20 Prozent zurückgegangen;
  • in Asien sind über 600 Millionen Menschen in niedrig gelegenen Küstenzonen oder Mündungsdeltas großer Flüsse existenziell bedroht, von denen 40 Prozent ihre Heimat verlieren werden.
  • eine Erwärmung der ozeanischen Deckschichten, durch die mehr Energie in die Troposphäre aufsteigt, die sich in Wirbelstürmen entlädt, trifft vor allem pazifische Inselstaaten und große Küstenregionen;
  • in den Alpen verschwinden Zweidrittel heute schneesicherer Gebiete durch die Erwärmung mit weitreichenden Folgen auf das Regime großer Flüsse und die Grundwasserbildung. Ebenso betroffen sind in unseren Breiten vorgelagerte Nordseeinseln, Küstenregionen und waldreiche Regionen mit trockenen Böden.
Vorreiterrolle beim Klimaschutz

Die Klima-Kommission war Ende der 1980er Jahre einstimmig der Auffassung, dass es für den Klimaschutz nicht um einen Austausch der Energieträger geht, sondern um den systematischen Umbau der Energieversorgung, anknüpfend an die Konzepte der Energiewende von 1980 und 1982. Im Zentrum der Empfehlungen stand eine "Effizienzrevolution", die nicht nur umwelt-, sondern auch beschäftigungspolitisch die größten Effekte versprach.

Bis heute ist der Umbau in Richtung Vermeiden des Energie- und Stoffeinsatzes ein Stiefkind geblieben, obwohl es ein Einsparvolumen von über 40 Prozent durch ein nicht genutztes, aber wirtschaftliches Einsparpotenzial gibt. Die Grundidee war eine sich nach sozialen und ökologischen Zielen begrenzende, aber nicht entwicklungslose Wirtschaft und Gesellschaft. Dafür muss die Sozialpflichtigkeit des Eigentums um eine Naturpflichtigkeit ergänzt werden. Wir nannten das Ökonomie des Vermeidens. Klimaschutz wird nur möglich, wenn die Zunahme der Energie- und Ressourcenproduktivität deutlich höher liegt als das wirtschaftliche Wachstum.

Eine Energiesteuer wurde damals als notwendiges, aber nicht zentrales Element des Umbaus gesehen. Eine CO2-Steuer wurde abgelehnt, weil sie - vor allem in der internationalen Debatte, die beim Klimaschutz dazugehört - aus kurzsichtigen Interessen die Atomenergie und ein Geoengineering, die angeblich CO2-neutral wären, legitimiert hätte. CO2-neutral ist auch heute das Leitwort bei CDU/CSU. Was sie damit meint, bleibt unklar. Dabei sind unter CO2-Gesichtspunkten systematische Effizienzsteigerungen und moderne GuD-Kraftwerke[1] in der energetischen Bilanz vom Abbau über Wandlung bis zum Verbrauch sogar klimaschonender als die Atomenergie, zumal Atomkraftwerke einen sehr niedrigen Effizienzgrad haben. Aber wer weiß das? Die AfD auf keinen Fall.

Wäre den Empfehlungen, die der Bundestag 1990 einstimmig übernommen hat, gefolgt worden, lägen die Treibhausgas-Emissionen im Jahr 2020 um mehr als 60 Prozent niedriger. Unser Land wäre weltweit ein Vorbild, das andere Industriestaaten unter Anreiz- und Legitimationsdruck setzt. Und es hätte sich auch für unser Land ausgezahlt, denn die ökologische Modernisierung der Wirtschaft ist eine Schlüsselfrage für Arbeit und Innovationen.

Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl übernahm die Empfehlungen weitgehend. Die Treibhausgas-Emissionen sollten, so der Kabinettsbeschluss, in den alten Bundesländern um mindestens 25 Prozent und in Ostdeutschland um einen wesentlich höheren Prozentsatz gesenkt werden. Außerdem sollte eine "Restverschmutzungsabgabe" eingeführt werden. Zugleich wurde zur Umsetzung eine "Interministerielle Arbeitsgruppe CO2-Reduktion" eingesetzt. Doch in den 1990er-Jahren drehte sich der Wind.

  • Weltweit formierte sich der Widerstand der fossilen Welt gegen den Klimaschutz. In den USA, die anfänglich eine positive Rolle spielten, gewannen Klimaskeptiker Auftrieb. Die amerikanische Regierung versuchte, dass Kyoto-Protokoll zu verhindern. Dadurch kam es auch zum Emissionshandel, der damals in den USA gegen Stickoxid- (NOx) und Schwefeldioxid- (SO2) Emissionen ein gesetzt wurde, in der EU aber unbekannt war. Mit dem Angebot, den Emissionshandel für den Klimaschutz zu übernehmen, sollte die amerikanische Regierung gelockt werden, dem Abkommen beizutreten. Die USA blockierten weiter, aber die EU-Staaten haben seitdem den Emissionshandel im Strombereich.
  • In Deutschland setzten sich nach dem Erdgipfel von Rio 1992 Verdrängung und Arroganz durch. Der größte Fehler, der bis heute nachwirkt, war, den Aufbau Ost nicht mit dem Umbau West zu verbinden. Warum sollten sich die "Sieger" noch ändern? Das westliche Modell wurde auf den Osten übertragen. Statt zu einer ökologischen Wende zu kommen, wurde die CO2-Reduktion durch den Zusammenbruch der ineffizienten DDR-Wirtschaft, die über 50 Prozent erreichte, als gesamtdeutscher Erfolg ausgegeben. Damals gehörte Angela Merkel dem Kabinett an, von 1994 bis 1998 sogar als für den Klimaschutz zuständige Umweltministerin. Endgültig aufgegeben wurde der Kabinettsbeschluss, der 1991 unter Kohl gefasst, aber nie von der Bundesregierung wirklich verfolgt wurde, 2002 unter Umweltminister Jürgen Trittin.
  • Die deutsche Wirtschaft geriet in den 1990er Jahren in eine konjunkturelle Krise, wurde zum "kranken Mann" in Europa. Der Klimaschutz spielte keine Rolle mehr.
Das Klimapaket: Klimapolitik ohne Linie

Am 20. September 2019 hat das "Klimakabinett" nach 19-stündigen Verhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD ein umfangreiches Paket beschlossen. Ein kleines Feuerwerk unterschiedlichster Einzelmaßnahmen ohne erkennbare Linie. Ganz offenkundig ist die Tragweite der ökologischen Herausforderungen, die sich beim Klimawandel zuspitzen, nicht verstanden. Die großen Ankündigungen, die im Vorfeld von einigen Sozialdemokraten kamen, verpufften. Die tiefe Kluft, die sich dadurch auftat, ist ein Grund für die Enttäuschungen. Dabei bestand die Chance, politische Kompetenz zu zeigen und soziale, ökonomische und ökologische Ziele miteinander zu verbinden. Das ist nämlich die Kernidee der sozial-ökologischen Transformation, die der Klimaschutz braucht.

Als Außenstehender ist es schwer zu beurteilen, wie die Verhandlungen gelaufen sind, wo die Blockaden waren und wer die Blockierer. Dazu gehört auch die Antwort auf die Frage, warum im Vorfeld die Bepreisung von CO2 so einseitig mit dem neoliberalen Vorsitzenden des "Sachverständigenrates" Prof. Christoph Schmidt, der mit der Ablehnung des Mindestlohns aufgefallen ist, als Kronzeuge hochgezogen wurde. Oder: Ist die SPD überhaupt mit einem strategischen Konzept in die Verhandlungen gegangen? Hätte sie die unzureichenden Verhandlungen abbrechen können, um von außen den Druck zu erhöhen? Warum verteidigt sie anschließend ein Konzept, das sie gleichzeitig als ergänzungs- und korrekturbedürftig hinstellt? Herausgekommen ist nichts Ganzes und nicht einmal Halbes, so wie bei den Grünen, die glauben, mit einem CO2-Preis von 40 Euro pro Tonne das Problem lösen zu können.

Auch die Chance, die gedeckelte Energiewende und ihre Schwachstellen zu beseitigen, wurde nicht genutzt. Die 1000-Meter-Abstandsregelung ist die Blockade gegen die Windenergie und die notwendige Infrastruktur kommt immer noch erst langsam voran. Warum wurden auch nicht die Voraussetzungen für mehr Bürgerenergie und Energiegenossenschaften gestärkt? Und natürlich gehört ein umfassendes Programm der Effizienzförderung dazu, insbesondere durch eine ökologische Infrastruktur, die unser Land dringend braucht. Ganz zu schweigen von der Ehrlichkeit, zu mehr Effizienz zu kommen. Was zu einer sozial-ökologischen Transformation gehört, ist eine "Welt, die weder Mangel noch Überfluss kennt." Dafür aber muss die SPD die Verteilungsfrage stellen.

Als Beobachter wundert es nicht, dass das neue Klimaschutzprogramm hinter dem zurückbleibt, was notwendig ist. Im Gegensatz zu 1990 gab es bei den Verhandlungen kein strategisches Konzept, sondern in einer abschleifenden Konsenssuche die Aneinanderreihung unterschiedlichster Forderungen. Das überzeugt nicht, aber es ist die Konsequenz aus einer Herangehensweise an das Thema wie bei Tarifverhandlungen. Eine klimapolitische Strategie sieht anders aus.

Was fehlte, ist die Gestaltungsstrategie für eine sozial-ökologische Transformation. Ihr Kern, an der sie gemessen werden muss, ist die "Entbettung" (Karl Polanyi) der Ökonomie aus sozialen und ökologischen Bindungen der Gesellschaft. Es muss darum gehen, diese Dominanz über die Natur zu beenden und die Ökologie in die Reproduktionsmechanismen der Ökonomie zu integrieren. Klimaschutz ist nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit den Verwertungszwängen kapitalistischer Wirtschaftssysteme.

Fazit: Chance vertan. Dabei war diesmal der öffentliche Druck, der zur Unterstützung einer sozialdemokratischen Transformationspolitik hätte genutzt werden können, größer denn je. Weil er nicht genutzt wurde, ist die Enttäuschung groß. Die Aussage, dass die Politik anders funktioniert als der Protest, ist ebenso richtig wie falsch. Natürlich ist der politische Alltag ein Aushandlungsprozess. Falsch ist sie deshalb, weil mehr Klimaschutz diesmal möglich gewesen wäre, denn es gab einen starken gesellschaftlichen Druck und ökonomische Zusammenhänge waren diesmal erkannt worden, zum Beispiel durch die Debatte über den Ausstieg aus der Braunkohle. Das ist in erster Linie die Aufgabe der Politik, die dem Anspruch nicht gerecht wurde.

So bleibt der Eindruck des politischen Versagens. Die Demonstrantinnen und Demonstranten werden die Bewegung weiter radikalisieren, warum auch nicht, solange die Klimapolitik weit hinter dem zurückbleibt, was notwendig ist. Und die AfD, der reaktionäre Gegenpol in der öffentlichen Stimmungsmache, wird noch mehr versuchen, ihr rechtsextremes Gedankengut zu mobilisieren, um die Unzufriedenheit über Dieselverbote und Windmühlen zu nutzen.

Die Sozialdemokratie gerät damit von zwei Seiten unter Druck. Es wird noch schwieriger, zu einer Klimaschutzpolitik im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation zu kommen, die ihren Namen verdient. 30 Jahre wurden vertan.


Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.


Anmerkung:
[1] Gas-und-Dampf-Kraftwerk

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2019, Heft 234, Seite 5-9
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2019

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