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LAIRE/1096: "Report Mainz" entdeckt das Thema Flüchtlingsabwehr (SB)


Europäische Union sichert ihren Wohlstandsraum mit aller Gewalt

EU-Grenzschutzbehörde hat fast 6.000 Flüchtlinge nach Afrika abgedrängt


Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex hat im vergangenen Jahr Tausende Bootsflüchtlinge zur Umkehr nach Afrika gezwungen. Nicht selten befanden sich die Flüchtlinge in großer Not, trieben in hoffnungslos überfüllten Booten im Meer, hatten kein Wasser oder gar Leichen an Bord. Was Flüchtlingshilfsorganisationen seit langem berichten und dokumentieren [1], hat nun auch Eingang ins Abendprogramm des Ersten Deutschen Fernsehens gefunden. "Report Mainz" (5.10.2009, ARD, 21.45 Uhr) veröffentlichte bereits einen Vorabbericht zu dem Beitrag über die Flüchtlingsabwehr. [2] Demnach wurden im Rahmen des Frontex-Manövers "HERA 2008" 5969 Menschen auf See abgefangen und nach Afrika zurückgeschickt. Das deckt sich annähernd mit Zahlen, wie sie Amnesty International vor einem halben Jahr veröffentlichte. [1]

In Deutschland ist das Innenministerium für die Beteiligung an der Grenzschutzbehörde verantwortlich. Dessen Chef, Wolfgang Schäuble, der von "Report Mainz" zu den Vorwürfen befragt wurde, übte sich in Neusprech, indem er die leicht zu widerlegende Behauptung, daß eine Zurückweisung auf hoher See unter keinen Umständen stattgefunden hat, vermied. Schäuble wörtlich: "Wer in Not ist und Flüchtling ist, hat einen Anspruch auf Aufnahme, und wer auf hoher See ist, wird nicht zurückgeschickt, sondern es gelten die Regeln der Genfer Konvention." Zurückweisungen auf See seien "gegen alle Regeln". [2]

Bekanntlich klafft zwischen den Regeln der Genfer Konventionen auf der einen Seite und der Realität auf der anderen eine breite Lücke. Zu den expliziten Aufgaben von Frontex gehört die Flüchtlingsabwehr, wie auf der hauseigenen Website der in Warschau ansässigen Behörde nachzulesen ist. [3] Selbstverständlich wird man dort nicht erfahren, daß Mitarbeiter der Behörde die Regeln verletzen. Ein entscheidender Trick besteht darin, daß die Flüchtlinge pauschal als "illegal" bezeichnet werden - und schon klappt's mit den Regeln. Frontex schreibt:

"Die Hauptaufgabe der Joint Operation HERA 2008 besteht darin, illegale Migrationsströme von westafrikanischen Ländern in Richtung der Kanarischen Inseln zu unterbinden."
(Übersetzung: Schattenblick)

Der Vizefraktionschef der Konservativen (EVP) im Europäischen Parlament, der CSU-Politiker Manfred Weber, räumte ein: "Wir haben leider Gottes Meldungen auf dem Tisch liegen, wo kollektiv zurückgeführt wird, ohne Einzelfallprüfung, und das ist definitiv mit europäischem Recht nicht zu vereinbaren." [2] Zwar steht bereits diese Aussage im Widerspruch zu Schäubles Behauptung, daß, wer auf hoher See ist, nicht zurückgeschickt wird, aber selbst Webers Eingeständnis, wonach "Meldungen auf dem Tisch liegen", verharmlost das systematische Abdrängen von Flüchtlingsbooten durch die europäischen Grenzschützer. So berichtete Amnesty International unter Berufung auf Frontex-Angaben, daß bei der Operation "HERA II" von August bis Dezember 2006 insgesamt 3887 "illegale" Einwanderer abgefangen und umgelenkt wurden. Im Jahr 2008 wurden bei einer weiteren "Operation HERA" 5.909 Flüchtlinge abgedrängt. Amnesty schrieb:

"Frontex führt dazu aus, dass die abgedrängten Personen entweder überzeugt worden seien, umzukehren, oder sie seien zum nächsten Hafen (Senegal oder Mauretanien) zurückeskortiert worden." [1]

Sie wurden überzeugt? Ja, die Androhung, das Schiff zu versenken, kann recht überzeugend sein. Oder aber die Frontex-Mitarbeiter entern das Flüchtlingsboot, rauben Trinkwasser, Lebensmittel und Treibstoff und "überzeugen" die Flüchtlinge auf diese Weise, daß es für sie besser wäre, umzukehren. Das behauptet einer, der es wissen muß und vermutlich einige Nachteile davon hat, wenn er sich quasi selbst bezichtigt. Der Haupteinsatzleiter der italienischen Militärpolizei in Rom, Saverio Manozzi, sagte in einem SWR- Radiobeitrag im Juni 2008:

"Wir wurden bei offiziellen Treffen mit Einsatzplänen und schriftlichen Befehlen konfrontiert, nach denen die Abwehr der illegalen Einwanderer darin besteht, an Bord der Schiffe zu gehen und die Lebensmittel und den Treibstoff von Bord zu entnehmen, so dass die Immigranten dann entweder unter diesen Bedingungen weiterfahren können oder aber lieber umkehren." [1]

Wer sich jedoch an die Genfer Konventionen hält und deswegen die illegale Flüchtlingsabwehr der EU zumindest partiell zunichtemacht, muß damit rechnen, diffamiert und abgestraft zu werden. Das erlebten und erleben zur Zeit Stefan Schmidt, ehemaliger Kapitän der "Cap Anamur", der Flüchtlingshelfer Elias Bierdel und auch der erste Offizier der "Cap Anamur", Vladimir Daschkewitsch. Über sie wird am Mittwoch, den 7. Oktober 2009, ein italienisches Gericht ein Urteil fällen. Im Juni 2004 retteten sie im Mittelmeer 37 Flüchtlinge aus Seenot und hatten, nachdem sie rund zwei Wochen lang mit den Flüchtlingen im Mittelmeer fuhren und sie nirgends an Land bringen durften, letztendlich "illegal" einen sizilianischen Hafen angelaufen. Die Staatsanwaltschaft fordert vier Jahre Haft und eine Strafe von jeweils 400.000 Euro.

Wie auch immer das morgige Urteil ausfallen wird, der zähe Prozeß und die Bezichtigung insbesondere Bierdels, dem hierzulande vorgeworfen wurde, er habe die Rettung inszeniert - ganz so, als seien die geretteten Menschen gar nicht in Lebensgefahr gewesen und als müsse nicht so gut wie jede Hilfsorganisation um Medienaufmerksamkeit ringen -, haben ihre Wirkung längst erfüllt. Bootsflüchtlinge aus Afrika berichten von teils wochenlangen Irrfahren übers Mittelmeer, bei denen sie von vorbeifahrenden Schiffen aus gesehen wurden, aber daß diese nicht angehalten und sie nicht aufgenommen haben. [4]

Nachdem die Iren vor wenigen Tagen genötigt wurden, zum zweiten Mal über den Vertrag von Lissabon abzustimmen, und diesmal die Ja-Sager in der Überzahl waren, steht der weiteren Integration der Europäischen Union nicht mehr viel im Wege. Lobbyisten versprechen sich eine größere Handlungsfähigkeit, wenn erst der Lissabon-Vertrag von allen Mitgliedländern ratifiziert ist. Das bedeutet, daß die Flüchtlingsabwehr noch wirksamer wird als bisher und die Rechtsverletzungen behoben werden, indem das Recht so zurechtgebogen wird, wie man es haben will.

Wie sagte es Schäuble noch? "Wer in Not ist und Flüchtling ist, hat einen Anspruch auf Aufnahme." Der deutsche Innenminister versäumte es zu erwähnen, daß "Not" und "Flüchtling" eine Frage der Definition sind und daß die Behörden die Definitionshoheit besitzen, nicht jedoch die Flüchtlinge, deren Not schon damit beginnt, daß sie aufgrund eines globalen Wirtschaftssystems, bei dem ganze Staaten in Schuldknechtschaft gehalten werden, in Armut geworfen sind und einen täglichen Kampf ums Überleben ausfechten müssen.


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Anmerkungen:

[1] Schattenblick -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> AMNESTY INTERNATIONAL
EUROPA/261: Frontex-Einsätze im Mittelmeer (ai journal)
amnesty journal 04/05/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

[2] "Verstoß gegen Flüchtlingskonvention? Schwere Vorwürfe gegen EU-Grenzschutzagentur", 6. Oktober 2009
http://www.tagesschau.de/ausland/bootsfluechtlinge100.html

[3] HERA 2008 and NAUTILUS 2008 Statistics, 17. Februar 2009
http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art40.html

[4] Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> MEINUNGEN
LAIRE/1084: Massenverdursten in Europa (SB)
Eritreische Flüchtlinge verdursten bei Irrfahrt durchs Mittelmeer, 22. August 2009.

6. Oktober 2009