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LAIRE/1255: Unterstützerkomitee für inhaftierten Physiker Dr. Adlène Hicheur gegründet (SB)


Algerischstämmiger Teilchenphysiker seit über einem Jahr ohne Anklageerhebung inhaftiert

Forscherkollegen auch des CERN fordern von der Justiz beschleunigtes Verfahren


Der Gefangenenkomplex Guantánamo des US-Verteidigungsministeriums auf Kuba gehört sicherlich zu den weltweit bekanntesten Inhaftierungszentren, in denen Menschen eingesperrt sind, ohne daß über Jahre hinweg Anklage gegen sie erhoben wird. Auch in Europa wurden Bürger auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen. Zu ihnen gehört der 32jährige, algerischstämmige Wissenschaftler Dr. Adlène Hicheur, der am CERN-Teilchenbeschleuniger und als Dozent für theoretische Physik an der ETH Lausanne gearbeitet hat. Der Physiker wurde am 8. Oktober 2009 gemeinsam mit seinem sieben Jahre jüngeren Bruder am Wohnort seiner Eltern im südfranzösischen Vienne bei Lyon verhaftet. Letzterer wurde nach zwei Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. [1]

Die französischen Behörden werfen Adlène vor, er habe Verbindungen zur al-Qaïda aux pays du Maghreb islamique (AQIM - Al-Qaida im Islamischen Maghreb) unterhalten und sei durch seine E-Mails und Beiträge in Internetforen auffällig geworden. Darin hatte der Mann laut der CIA [2] Kontakt mit der AQIM aufgenommen. Er soll zum Ausdruck gebracht haben, daß er Lust auf Anschläge verspüre, und soll der als Terrororganisation eingestuften AQIM potentielle Anschlagziele, beispielsweise ein Gebirgsjäger-Bataillon, vorgeschlagen haben. Das ist bei Annecy stationiert und unterhält Einheiten in Afghanistan. [3]

Die Berichterstattung über den Fall bleibt in weiten Zügen vage. Da offizielle Stellungnahmen rar gesät sind und kaum Informationen freigegeben wurden, dürfte vieles, was bislang über Adlène Hicheur geschrieben wurde, der Spekulation zuzuordnen sein. Nachdem sich die Presse ein paar Tage an der "Sensationsgeschichte" abgearbeitet hat, derzufolge ein mutmaßlicher Al-Qaida-Anhänger und "Schläfer" geplant haben könnte, Sabotage am "Urknall-Experiment" von CERN zu verüben, wurde es still um den "Fall". Anscheinend ging das auch auf die Familie zurück, die befürchtete, daß sich eine aufgepeitschte Berichterstattung negativ auf die Chancen Adlènes auswirken könnte, freizukommen oder zumindest ein schnelles Verfahren zu erhalten.

Nachdem inzwischen mehr als dreizehn Monate verstrichen sind und der Verdächtige noch immer in Untersuchungshaft sitzt, haben vergangene Woche 19 Wissenschaftler das internationale "Adlène Hicheur Unterstützungskomitees" gegründet und einen offenen Brief an die französische Physikalische Gesellschaft gesandt, in dem sie ihre tiefe Sorge über die Behandlung des inzwischen 33jährigen Postdoktoranden zum Ausdruck bringen. Darin schildern sie die ihrer Ansicht nach kafkaeske Situation, in der sich Hicheur inzwischen befindet. [4]

Nach Angaben des Komitees wurden gegen ihn nach mehreren Tagen, in denen er verhört wurde, formal Ermittlungen wegen mutmaßlicher "Verschwörung mit einer terroristischen Organisation" aufgenommen. Seitdem sitzt er in Fresnes bei Paris in Untersuchungshaft. Hicheur hat wiederholt seine Unschuld beteuert und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als vollkommen falsch bezeichnet. Seine Anwältin Dominique Beyreuther-Minkov stellte mehrmals einen Antrag auf Freilassung ihres Mandanten, was jedesmal abgelehnt wurde. Ende September 2010 wurde die U-Haft Hicheurs um vier Monate verlängert. Die 19 Unterzeichner, zu denen auch der Physik-Nobelpreisträger von 1988 Jack Steinberger gehört, erklärten, daß ihrem Kenntnisstand zufolge kein weiteres, über die ursprünglichen Vorwürfe hinausgehendes Belastungsmaterial vorliegt. Die Karriere Hicheurs sei auch dann ruiniert, wenn er unschuldig ist, allein wegen der Willkür und langen Zeit des Verfahrens, so die Unterstützer.

Nach französischem Recht kann eine Person, der terroristische Aktivitäten zur Last gelegt werden, bis zu 24 Monate inhaftiert bleiben, selbst dann, wenn die Ermittlungen nicht notwendigerweise zur Aufnahme eines Verfahrens führen müssen. Mit dieser Rechtsauffassung präemptiven Vorgehens liegt Frankreich voll im Trend vieler westlicher Staaten, die einen demokratischen Anspruch erheben und Personen mitten aus dem Leben reißen und wegsperren. Faktisch wurde hierdurch die Unschuldsvermutung aufgehoben.

Bislang liegt noch kein Termin vor, an dem formal Anklage gegen Hicheur erhoben wird. Die Unterzeichner des offenen Briefs hoffen, die Sache auf diese Weise beschleunigen zu können. Ausgehend von dem, was bislang an Vorwürfen gegen den Physiker bekannt ist, scheint eine Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr unangemessen. Zumindest sind keine Vorwürfe bekannt, die einen Verdacht auf konkrete Anschlagvorbereitungen seitens des Inhaftierten belegten. Die Vorwürfe drehen sich um Beiträge auf Foren und um Emails, in denen Hicheur angeblich seine Absicht, Anschläge verüben zu wollen, zum Ausdruck gebracht hat.

Hierzu muß gefragt werden, wie die vermeintlichen Absichtsäußerungen zu bewerten sind. Sind sie so zu bewerten, daß sie ohne Eingreifen der Sicherheitsbehörden zu einem konkreten Anschlagsversuch geführt hätten? Oder besitzen die Beweise die Qualität von Zornesäußerungen, wie sie in Internetforen nicht selten anzutreffen sind, aber wohl kaum Rückschlüsse auf eine konkrete Tatabsicht zulassen?

Auf Internetforen wird manchmal ein rauher Ton gepflegt. Täglich findet ein virtueller Massenmord unter den Disputanten statt, und nicht selten werden dabei Politiker "zum Mond geschossen", um eine der harmloseren Ausdrücke für mutmaßliche Mordabsichten zu verwenden. Und wie oft wünscht irgend jemand, der auf den Blogs und Foren schreibt, eine Bombe auf Washington, das Weiße Haus oder den Elysée-Palast?

Sollte den französischen Behörden ein handfester Vorwurf gegen Hicheur vorliegen, wäre es geboten, diesen auch vorzubringen. Ansonsten setzen sie sich dem Verdacht aus, die Ermittlungen absichtlich hinauszögern zu wollen und somit das Rechtswesen für politische Zwecke zu mißbrauchen. Worin dann der Unterschied zu anderen repressiven Regimen bestehen soll, gegen die der Westen regelmäßig den Vorwurf der Unterdrückung der politischen Opposition erhebt, entzieht sich der Vorstellung.

Unverständlich nach heutigem Stand der Erkenntnisse sind die Vorwürfe gegen den Doktor der Physik, wenn man bedenkt, daß er von seinen Fachkollegen als äußerst kompetent bezeichnet wird. Zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht konnte Adlène Hicheur kein Einfaltspinsel gewesen sein. Wäre nicht von ihm, falls er die Absicht gehabt hätte, Anschläge zu verüben, zumindest zu erwarten gewesen, daß er konspirativ vorgeht? Die Wahrscheinlichkeit, daß er ausgerechnet in Internetforen Anschlagspläne verbreitet, muß als gering betrachtet werden. Selbst wenn er verfängliche Aussagen im Netz hinterlassen hat, scheint die Möglichkeit nicht a priori ausgeschlossen zu sein, daß er selbst gar nicht davon ausgegangen war, daß seine Aussagen für bare Münze genommen werden. Falls es Hicheur mit den Anschlagsabsichten ernst war, was er allerdings bestreitet, stünde es einer Demokratie gut zu Gesicht, wenn wenigstens Anklage erhoben würde, denn dann könnte sich der Beschuldigte verteidigen.


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Anmerkungen:

[1] "Physicists protest colleague's terrorism detention. Letter urges end to lengthy imprisonment of French scientist", Nature online, 8. November 2010, doi:10.1038/news.2010.592
http://www.nature.com/news/2010/101108/full/news.2010.592.html?WT.ec_id=NEWS-20101109

[2] "Monsieur Hicheurs dunkles Geheimnis", Tagesanzeiger, 13. Oktober 2009
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Monsieur-Hicheurs-dunkles-Geheimnis/story/22316638

[3] "CERN-Mitarbeiter unter Terror-Verdacht: Französische Physiker bilden Solidaritäts-Komitee", RIA Novosti, 9. November 2010
http://www.de.rian.ru/society/20101109/257610731.html

[4] http://soutien.hicheur.pagesperso-orange.fr/index_EN.html

11. November 2010