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LAIRE/1366: Coronavirus - weggeduckt ... (SB)



Von der EU-Kommission ist hinsichtlich der Bekämpfung der Coronaviruspandemie kaum etwas zu hören, geschweige denn, daß sie entschiedene Maßnahmen zum Schutz der Menschen ergreift. So war die Bitte Italiens um Unterstützung mit medizinischer Ausrüstung offenbar unbeantwortet geblieben. Das wirft die Frage auf, wozu man überhaupt einen administrativen Überbau wie die EU braucht, wenn sich die Verantwortlichen offenbar wegducken, sobald es ernsthafte Probleme gibt.

Erst am 13. März hat die EU-Kommission eine gemeinsame Aktion gegen die Sars-CoV-2-Pandemie bekanntgegeben und dazu eine Task Force eingerichtet. Am 13. März waren jedoch im EU-Mitgliedsland Italien bereits über 1000 Menschen an der durch das neuartige Coronavirus ausgelösten Infektionskrankheit Covid-19 gestorben. Die meisten von ihnen sind elendig verreckt, weil die italienischen Krankenhäuser erstens überfüllt und zweitens nicht genügend mit Beatmungsgeräten ausgestattet sind. Und was macht die EU? Wann gedenkt sie, das am schwersten von der Pandemie betroffene Italien zu unterstützen?

An Pressemitteilungen seitens der EU-Institutionen zur Ausbreitung des neuartigen Coronavirus mangelt es nicht, doch welchen Gehalt haben sie? Beispielhaft sei hier Bezug auf die Mitteilung der EU-Kommission vom 16. März 2020 genommen. [1]

Darin schlägt die EU-Kommission Richtlinien für Grenzschutzmaßnahmen zur Sicherung der Gesundheit und des Warenverkehrs sowie essentieller Dienstleistungen vor. Das hört sich vernünftig an. Allerdings werden diese Richtlinien erst vorgeschlagen, NACHDEM eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten ihre Grenzen dicht gemacht haben. Im übrigen handelt es sich um Maßnahmen, die schon vor einigen Wochen hätten durchgeführt werden müssen, ähnlich wie die chinesische Regierung zwecks Eindämmung der Virusverbreitung den Reiseverkehr zwischen den einzelnen Bezirken innerhalb der besonders schwer betroffenen Provinz Hubei untersagt hat.

Dänemark hat seine Grenze gegenüber Deutschland am Samstag geschlossen, Deutschland in umgekehrter Richtung aber erst am Sonntag und Montag. Das sieht nicht nach einem koordinierten Vorgehen aus. Und während es Italien an medizinischer Ausrüstung wie Atemschutzmasken mangelt, verhängen Länder wie Frankreich und Deutschland Ausfuhrverbote eben dafür.

Wenn laut dem Magazin "stern" der EU-Industriekommissar Thierry Breton nach einer Videokonferenz mit den Gesundheitsministern der EU-Mitgliedstaaten erklärt: "Wir müssen auf die Bitte Italiens um Schutzausrüstung und medizinische Apparate wie Beatmungsgeräte reagieren", dann zeigt das die Hilflosigkeit der EU-Administration. "Heute ist die Lage in Italien ernst, aber morgen könnte sie es in einem anderen Land sein", zitiert "stern" den EU-Kommissar. "Deshalb müssen sich an einem bestimmten Punkt alle Mitgliedstaaten auf die Solidarität der anderen verlassen können." [2]

Wo Solidarität eingefordert wird, wird sie offensichtlich nicht praktiziert, müßte man ergänzen. Verlassen können sich die Mitgliedstaaten nur darauf, daß sie im Ernstfall verlassen bleiben. Es bedarf sicherlich keiner besonderen psychologischen Kenntnis, um aus Bretons Appell, daß die aktuelle Situation nicht dazu führen dürfe, daß "unsere gemeinsamen europäischen Werte und Prinzipien in Frage gestellt werden", das genaue Gegenteil dessen herauszulesen, was eingefordert wird: Die Gemeinsamkeit bleibt ein bloßes Versprechen, um die Menschen bei der Stange zu halten.

In einer Videobotschaft vom 15. März erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unter anderem, daß die Industrieproduktion für medizinische Ausrüstung gesteigert, deren Export beschränkt und sich innerhalb der EU gegenseitig geholfen werden sollte. [3]

Auch hier gilt, daß jemand, der die Gemeinsamkeit beschwört, sicherlich nicht davon ausgeht, daß sie schon existiert. Im übrigen waren die europäischen Werte schon immer eine Schimäre, jetzt trifft es die kerneuropäischen EU-Mitgliedstaaten selbst. Zuvor hat es "nur" beispielsweise Tausende von Menschen getroffen, die im Mittelmeer ertrunken sind, weil sie der Not in ihren Heimatländern entfliehen wollten, sowie die Millionen Menschen in Libyen, das unter aktiver militärischer Mithilfe europäischer Staaten von einem hinsichtlich seiner Sozial- und Gesundheitsleistungen für ganz Afrika vorbildlichen Staat in ein von fremdnützigen Interessen beherrschtes, chaotisches Bürgerkriegsland geschossen wurde.

Von den europäischen Werten getroffen war auch die Bevölkerung des Vielvölkerstaats Jugoslawien: Erst hat die Bundesrepublik Deutschland die Spaltaxt eingeschlagen, dann ist das Land in mehrere Teile, die keinen Zusammenhalt mehr besaßen und fortan gegeneinander handelten, zerfallen. Monate vor der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens hatte der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher von deren "Selbstbestimmungsrecht" gesprochen. Nach der Abtrennung und dem Ausscheren der beiden Teilrepubliken aus Jugoslawien preschte Deutschland mit der Anerkennung dieser selbsternannten Staaten vor. Das hat den Bürgerkrieg angeheizt. [4]

Die "europäischen Werte" ließ Deutschland während der Schuldenkrise auch Griechenland spüren. Das traf unter anderem die medizinische Versorgung der Bevölkerung. So berichtete die "Süddeutsche Zeitung" am 23. März 2013:

"Während die öffentlichen Gesundheitsausgaben im Jahr 2009 noch 14 Milliarden betrugen, lagen sie im Jahr 2012 nur noch bei geschätzten 9,5 Milliarden. In diesem Jahr sollen sie auf Druck der Troika noch einmal gesenkt werden. In Brüssel und Berlin wird das als Erfolg gefeiert. In Griechenland stürzt es die Bevölkerung in immer tiefere Not. Kaum ein Krankenhaus kann die europäischen Mindeststandards einhalten." [5]

Eine EU, die erst dann ein milliardenschweres Rettungspaket verabschiedet und Richtlinien für längst auf nationaler Ebene ergriffene Maßnahmen verabschiedet, erweist sich als weitgehend nutzlos. ABER: Die EU entstand nicht aus dem Limbus, sondern wurde von nationalstaatlichen Interessen, genau gesagt, von den vorherrschenden Interessen innerhalb der Nationalstaaten geschaffen.

Die Europäische Union ist als Wirtschaftsgemeinschaft gebildet worden, um erstens Vorteile gegenüber Nicht-Mitgliedern zu erringen, zweitens ein Kerneuropa zu schaffen (Ex-Außenminister Josef Fischer sprach von einem "Gravitationszentrum"), dem sich die Peripheriestaaten zwecks Verwertung ihrer Arbeitsleistung zur Verfügung zu stellen haben, und drittens um die Arbeiterinnen und Arbeiter zunächst EU-weit, letztlich sogar global gegeneinander auszuspielen - zum Vorteil der mehrwertabschöpfenden Konzerne.

Die Pandemie mit dem neuartigen Coronavirus bringt nun sehr deutlich ans Licht, daß nationale Vorteilserwägungen nach wie vor im Zentrum der Union stehen. Darum hört man jetzt vergleichsweise wenig von der EU. Vordergründig will kein Mitgliedstaat Kompetenzen abtreten, hintergründig könnte man von einem fortgesetzten Wirtschaftskrieg innerhalb der Union sprechen. Nicht ausgeschlossen, daß diese Phase dem Anschein nach endet. Vielleicht werden in den nächsten Tagen die Solidarität der EU und die "gemeinsamen Werte" abgefeiert. Übersetzt man "Wert" mit "Interesse" könnte man den Verdacht hegen, daß sich die EU-Staaten darauf besinnen, daß sie ja Vorteile von ihrem Zusammenschluß erfahren. Sprichwörtlich auf der Strecke blieben dann unverändert die Menschen an den Außengrenzen der "Werteunion".


Fußnoten:

[1] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_20_468

[2] https://www.stern.de/news/eu-fordert-von-mitgliedstaaten-in-corona-krise-dringend-hilfe-fuer-italien-9180194.html

[3] https://audiovisual.ec.europa.eu/en/video/I-186565

[4] https://www.deutschlandfunk.de/vor-25-jahren-unabhaengigkeit-von-slowenien-und-kroatien.724.de.html?dram:article_id=358344

[5] https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheitsversorgung-in-griechenland-schluss-aus-kein-amen-1.1635719

16. März 2020


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