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DILJA/1111: Venezuela - Gegner der Bolivarischen Revolution hoffen auf neues Elend (SB)


Wenn doch bloß die sozialen Fortschritte nicht wären ...

Nach dem gewonnenen Referendum zur unbegrenzten Wiederwählbarkeit aller Amtsträger hofft Venezuelas Rechtsopposition auf eine neue Armut im Lande


Gern wird in der inländischen oppositionellen Presse Venezuelas wie auch in den tendenziell feindseligen westlichen Konzernmedien der venezolanische Präsident Hugo Chavez als "Linkspopulist" oder auch ganz ungeniert als "Diktator" bezeichnet. Einen Begriff wie den des Diktators, der in der westlichen Welt mit Namen wie Hitler, Mussolini, Franco oder auch Stalin assoziiert wird, auf den seit 1999 regierenden und seitdem vielfach auf demokratische Weise im Amt bestätigten Präsidenten Venezuelas anzuwenden, offenbart beileibe nicht historische Unkenntnisse, sondern die pure Absicht der politischen Diskreditierung. Nach dem Erfolg beim Referendum für die zeitlich unbegrenzte Wiederwählbarkeit aller Amtsträger, also auch des Präsidenten, sieht sich die Regierung Chávez zurecht einmal mehr mandatiert, in ihrem inzwischen zehnjährigen Bestreben, der Gesellschaftsutopie "Sozialismus" über den konsequent verfolgten Weg umfassender Sozialprogramme und tiefgreifender Reformen eine greifbare Wirklichkeit zu verschaffen, nur umso entschlossener fortzufahren.

Im Lager ihrer Gegner scheint Ernüchterung eingekehrt zu sein. Der schöne Traum, das "Problem" Chávez einfach aussitzen zu können, weil nach bisheriger Rechtslage der Präsident nach seiner 2013 auslaufenden zweiten Amtszeit nicht hätte wiedergewählt werden können, hat sich nach dem Referendum vom 15. Februar 2009, das vom Regierungslager mit einem Vorsprung von rund einer Million Stimmen gewonnen werden konnte, vollends zerschlagen. Die Gegner des fraglos charismatischen Präsidenten, der sich nach dem Abstimmungserfolg vom Sonntag als "Soldat" des Volkes bezeichnete und diesem zu dienen gelobte, stören sich keineswegs an eben diesem Charisma, sondern an den inhaltlichen Positionen wie auch an dem gesamten, "Bolivarische Revolution" genannten Reformprozeß in Venezuela. Hätte der 54jährige frühere Oberstleutnant das richtige Parteibuch in der Hand, hätte er beispielsweise sein Redetalent in den Dienst der Oligarchie gestellt, die das Land vor seinem ersten Wahlsieg im Jahre 1998 jahrzehntelang fest im Griff hatte, hätten sich seine heutigen Gegner keineswegs an ihm gestört oder seiner Regierung "diktatorische Züge" nachgesagt.

Da viele Menschen die veränderte Situation im Lande mit seiner Person in Verbindung bringen und insbesondere die Anhänger des Regierungslagers verstärkt an die Wahlurnen gehen, wenn es direkt "um Chávez" geht, stand zu befürchten, daß ohne die mit dem jetzigen Referendum ermöglichte Verfassungsänderung das Ende der Amtszeit von Hugo Chávez auch das Ende des bolivarischen Prozesses hätte bedeuten können. Einen kleinen Vorgeschmack einer sozialen Rückentwicklung, die bei einem Sieg der Rechtsopposition fraglos drohen würde, konnten die Bewohner der Hauptstadt Caracas bereits erleben. Bei den Regionalwahlen am 23. November 2008 war die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), deren Präsident Chávez ist, zwar landesweit stärkste Partei geworden, hatte jedoch das Bürgermeisteramt in Caracas an die Opposition abgeben müssen, da ihr Kandidat Aristobulo Istoris dem jetzigen Amtsinhaber Luis Miquilena unterlag.

Wenig später kam es zu Ausschreitungen in Caracas wie auch einigen anderen Bundesstaaten. In der Hauptstadt hatten sich Anhänger der Opposition als Beauftragte des neuen Bürgermeisters ausgegeben und wollten Einrichtungen kommunaler Räte sowie der sozialen Missionen räumen. Die neuen Behörden gingen gezielt auch gegen die Bildungsprogramme vor, was viele tausend Menschen, unter ihnen Mitarbeiter und Teilnehmer der "Mission Ribas", die nun fürchten mußten, durch die Streichung der Kurse ihre Schulabschlüsse nicht mehr nachholen zu können, zu Protesten auf die Straßen brachte. Bei der Abstimmung zum Referendum konnte das Regierungslager auch in der Hauptstadt Caracas sowie in dem in den Regionalwahlen ebenfalls verlorengegangenen Bundesstaat Carabobo wieder eine Mehrheit erzielen. Die Bildungs- wie auch die Sozialprogramme der Regierung Chávez haben insbesondere für die zuvor in zum Teil sehr krasser Armut lebende und durch mangelnde Bildung von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgegrenzte Bevölkerungsmehrheit so greifbare und unbezweifelbare Fortschritte erbracht, daß bei ihr der seitens der Opposition sowie gegnerischer Kräfte aus dem Ausland unternommene Versuch, Chávez zu diskreditieren, vollkommen sinnlos ist.

In den westlichen Medien wird deshalb mehr oder minder unverhohlen darauf spekuliert, daß im Zuge der weltweiten sogenannten Finanzkrise sowie des gesunkenen Ölpreises die "fetten Jahre" in Venezuela bald vorbei sein könnten. Offensichtlich wird im Westen nun, da von einem Ende des bolivarischen Prozesses in Venezuela aufgrund des gewonnenen Referendums in absehbarer Zeit nicht die Rede sein kann, darauf gesetzt, daß die Popularität des Präsidenten - und damit, wie gleichfalls erhofft, die verhaßte Reformpolitik - schwinden könnte, wenn der Staat seine sozial orientierte Ausgabenpolitik aufgrund mangelnder Einnahmen aus dem Ölgeschäft nicht mehr finanzieren kann. Mit anderen Worten: Die Rechtsopposition des Landes wünscht sich nichts anderes als ein abermaliges Absinken der Ärmsten des Landes in eine noch größere Armut, als sie jetzt allen Bemühungen zum Trotz durchaus noch besteht, nur um dann triumphieren zu können, weil damit angeblich bewiesen wäre, daß Wohlstand eben nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft möglich sei und die breite Masse sich mit dem ihr von der Oligarchie seit so langer Zeit schon zugeordneten kargen Schicksal abzufinden habe.

Die venezolanische Regierung kann sich aufgrund des gewonnenen Referendums nicht nur in Hinsicht auf die von ihr angestrebte Verfassungsänderung, sondern auch ganz generell in ihrem Bestreben, die Bolivarische Revolution, sprich die Transformation der Gesellschaft in eine sozialistische, vorantreiben, von der Bevölkerungsmehrheit bestätigt und beauftragt sehen. Es liegt auf der Hand, daß ihre in- wie ausländischen politischen Gegner die bisherigen Erfolge nur allzugern vom Tisch gefegt sehen würden, zumal durch sie die vorherigen Regierungen nachträglich diskreditiert werden. Daß nach der vergleichsweise kurzen Spanne von zehn Jahren größere Erfolge in der Bekämpfung der Armut erzielt werden konnten als in den Jahrzehnten zuvor, obwohl Venezuela weitaus länger ein erdölexportierendes Land ist, läßt dies eigentlich nur die Schlußfolgerung zu, daß die Regierungen vor der 1999 begonnenen Ära Chávez gar nicht daran interessiert waren, den in Händen der Oligarchie liegenden gesellschaftlichen (Öl-) Reichtum von oben nach unten umzuverteilen.

Auf internationaler Ebene schweigen sich die der Durchsetzung westlicher Wirtschaftsinteressen und Hegemonialbestrebungen gewidmeten Institutionen wie Weltbank und IWF weitgehend über die sozialen Verhältnisse in der Bolivarischen Republik Venezuela aus. Die Vereinten Nationen hingegen haben diese Scheu nicht. So erklärte die UN-Kulturorganisation UNESCO Venezuela 2005 für frei von Analphabetismus. CEPAL, die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, bestätigte die Erfolge der Regierung Chávez im Kampf gegen die Unterernährung von Kindern und attestierte dem Land, nach Chile und Kuba das beste Ergebnis in der Region erzielt zu haben. Ein großer Mißstand war die mangelnde Trinkwasserversorgung, die in der Zeit vor Chávez nur 55 Prozent der Bevölkerung erreicht hatte. Aufgrund umfangreicher Investitionsprogramme konnte diese Quote seit 1998 deutlich erhöht werden, sie lag im Jahre 2007 bei 80 Prozent.

Venezuela könnte von sich sagen, die Milleniumsziele der Vereinten Nationen erreicht zu haben. Anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Bolivarischen Revolution stellte Blancanieve Portocarrero, die Botschafterin Venezuelas hier in Deutschland, auf einer Informationsveranstaltung der Botschaft in Berlin klar, daß der tiefere Zweck des Referendums, das eine unbefristete Wiederwählbarkeit aller Repräsentanten und damit auch in personeller Hinsicht die Fortsetzung und Vertiefung des eingeschlagenen Kurses ermöglicht, in der "Ausweitung der demokratischen Rechte" sowie in der "Verbesserung des Lebensstandards" läge. Zur Veranschaulichung legte sie dar, daß die Armut in Venezuela in den zurückliegenden zehn Jahren um 50 Prozent reduziert werden konnte. Die extreme Armut habe in den 1990er Jahren noch bei 42 Prozent gelegen und beträgt jetzt noch 9,5 Prozent. In allen sozialen Bereichen - der Bekämpfung von Kindersterblichkeit und Arbeitslosigkeit sowie der Schaffung einer sozialen Absicherung - konnten nachweisbare Fortschritte erzielt werden.

"Es geht in diesem Prozeß nicht darum, daß man sich in einer gewissen Farbe kleidet oder daß man einer bestimmten Ideologie anhängt", erläuterte die Botschafterin das Verständnis ihrer Regierung von der Bolivarischen Revolution. Vielmehr ginge es darum, sich für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzusetzen, so Portocarrero. Das allerdings sind Töne, die in Ländern wie Deutschland, zumindest auf offizieller Ebene, wohl gar nicht gern gehört werden. In Zeiten, in denen sich die Bundesregierung international verpflichtet hat, keine "wichtige" Bank sterben zu lassen ganz unabhängig davon, wieviel etwaige Rettungs- oder auch Übernahmeaktionen den Staat kosten würden, wird das Bekenntnis, zuerst und zuletzt die Lebensverhältnisse aller Menschen in einem Staat nachhaltig und nachweislich verbessern zu wollen, nicht nur auf taube Ohren stoßen, sondern geradezu zwangsläufig Widerspruch hervorrufen.

Dabei könnte es, wohlbemerkt aus Sicht der Gegner des Bolivarischen Reformprozesses, sogar noch schlimmer kommen. Die zynische, weil auf die Not vieler Menschen hoffende Annahme, der Fall des Ölpreises würde früher oder später auch den "Alptraum" Venezuela beenden, könnte sich als komplette Fehlspekulation erweisen. Bei aller zu Gebote stehenden Vorsicht, angesichts einer weltweiten Dauer- und Systemkrise auch nur irgendetwas vorhersagen zu wollen, fällt doch auf, daß Venezuela mit großen sozialen Verwerfungen oder gar einer Hungerkatastrophe nicht zu kämpfen hatte, und so könnte sich die Tendenz abzeichnen, daß nicht nur die Sozial- und Bildungs-, sondern auch die Wirtschaftspolitik der Bolivarischen Republik Venezuela den Vergleich zu den klassisch kapitalistischen Staaten westlichen Zuschnitts nicht zu scheuen braucht. Während im Westen einzig und allein die Rettung des Bank- und Finanzsystems großgeschrieben wird und nicht der Erhalt bzw. die Schaffung stabiler Lebensumstände für alle Menschen, wird in Venezuela eine soziale Wirtschaftspolitik betrieben, die Botschafterin Portocarrero in einem Gespräch mit dem Schattenblick folgendermaßen charakterisierte [1]:

Wir haben eine soziale Wirtschaft, während vor dem Prozeß eine hegemoniale Wirtschaftspolitik der großen Transnationalen, des großen Kapitals vorherrschte. Das gibt es heute nicht mehr. Gegenwärtig entwickeln wir eine gemischte Wirtschaftsform, in der das Kapital wieder in Gestalt sozialer Dienste in die Gesellschaft fließt. Das zum ersten. Zum zweiten arbeiten wir daran, ein produktives Netzwerk zu schaffen, das auf horizontaler Ebene greift: In Kooperativen, Genossenschaften, mittleren und kleinen Unternehmen und familiären Produktionseinheiten. Es ist jedoch nicht so, daß dabei die traditionellen großen Unternehmen wie die Erdölkonzerne vernächlässigt werden. Vielmehr wird beiden Raum zugestanden. Die kleinen Unternehmen werden gefördert, während auf der anderen Seite auch die großen Konzerne gehalten werden, jetzt aber unter ganz anderen Bedingungen als früher. In der Vergangenheit kam es zu Interventionen durch ausländische Firmen. Inzwischen hat sich die ganze Struktur geändert.

Daß die Hoffnungen der Chávez-Gegner auf ein absehbares Ende der wirtschaftlichen wie auch der gesamten Entwicklung des Landes durch den Fall des Ölpreises auf nichts anderem als Wunschdenken beruhen könnten, geht aus einer weiteren Antwort der Botschafterin hervor. Auf die Frage des Schattenblick, inwieweit der Fall des Ölpreises und der Rückgang der Staatseinnahmen zu einer Kürzung der Sozialausgaben oder einer Änderung des Zeitplans der Umsetzung der Revolution geführt hat, erklärte Portocarrero:

Während der Jahre, in denen der Ölpreis so hoch war, wurde dieses Geld auch benutzt, um verschiedene Fonds zu einzurichten, die ganz gezielt gefüllt wurden. Daher existiert jetzt eine große Anzahl von verschiedenen Fonds, die dafür benutzt werden, um diese Programme auch weiterhin zu finanzieren. Natürlich hat man in diesen zehn Jahren auch daran gearbeitet, eine Infrastruktur zu schaffen, die eine andere Art von Ökonomie ermöglicht und vor allen Dingen unabhängig macht vom Erdöl. Daher sagt man zu recht, daß Venezuela gegenwärtig im Grunde das krisenresistenteste Land ganz Südamerikas ist.

[1] Nachzulesen im Schattenblick unter POLITIK\REPORT, INTERVIEW/007: Blancanieve Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)

18. Februar 2009