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DILJA/1118: Streitpunkt Nahrungsproduktion - Venezuelas Nationalgarde auf Reisfeldern (SB)


Venezuela setzt zur Sicherung der Reisproduktion die Nationalgarde ein

Tabubruch an kapitalistischen Heiligtümern - Enteignung einer US-Fabrik


"Welch ein Unglück: Nationalgardisten besetzen Reisfelder in Venezuela" - "Auch das noch: US-amerikanische Reisfabrik verstaatlicht" - Schlagzeilen dieser oder ähnlicher Art können in den westlichen Medien eigentlich nicht mehr lange auf sich warten lassen, zumal gemeinhin keine Gelegenheit ausgelassen wird, die Regierung von Präsident Hugo Chávez und mit ihr den inzwischen zehnjährigen Prozeß der Bolivarischen Revolution Venezuelas in Mißkredit zu bringen. Was läge da näher, als mit großformatigen Fotos, die die Truppen der Nationalen Garde zeigen, wie sie im ganzen Land Reisplantagen unter ihre Kontrolle bringen, den Eindruck erwecken zu wollen, in dem südamerikanischen Land würden demokratische Freiheiten mit Füßen getreten?

Tatsächlich hat Präsident Chávez am vergangenen Samstag eine Maßnahme verfügt, die er den großen Lebensmittelkonzernen bereits vor einem Jahr angekündigt hatte, sollten sie ihre Politik, die 2003 verfügten Preise für Grundnahrungsmittel zu umgehen, fortsetzen. Im Februar 2008 hatte Chávez den Agrokonzernen für den Fall mit der Verstaatlichung gedroht, daß sie die weiterhin Produktion mutwillig drosseln, die produzierten Lebensmittel horten oder ins Nachbarland Kolumbien schaffen, um sie dort zu Maximalpreisen und eben nicht zu den ihren Profit begrenzenden, festgelegten Grundnahrungsmittelpreisen Venezuelas zu veräußern. Gegen "kapitalistische Spekulanten", wie Präsident Chávez sie nannte, drohte die Regierung schon vor einem Jahr, die Nationalgarde einzusetzen, um die Nahrungsmittelproduktion im eigenen Lande sicherzustellen.

Inzwischen wurden diese Ankündigungen in die Tat umgesetzt. Vorübergehend ordnete Caracas die Besetzung aller reisanbauenden Landwirtschaftsbetriebe des Landes durch die Nationalgarde an, damit diese sicherstelle, daß die maximal mögliche Menge dieses Lebensmittels produziert werde und die Bevölkerung auch erreiche. Präsident Chávez erhob zugleich Anschuldigungen gegen die betroffenen Produzenten, indem er ihnen vorwarf, um ihres Profites willen die Reisproduktion heruntergefahren zu haben, die Erzeugnisse zu horten und nur zu erhöhten Preisen zu verkaufen. Um der staatlichen Preiskontrolle zu entgehen, hatten viele Betriebe den Reis mit künstlichen Geschmackszusätzen versehen, um ihr Produkt aus der Preisbindung herauszubringen. Sollten die Reisanbaubetriebe die Eskalation weitertreiben und vor Sabotage nicht zurückschrecken, drohte Chávez ihnen bereits am Samstag die Verstaatlichung an.

Dieser Konflikt kennzeichnet die Konfrontationslinie, die innerhalb Venezuelas besteht zwischen der Regierung Chávez, der Bolivarischen Bewegung und mit ihr der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die diese Regierung immer wieder bei Wahlen und Referenden - wie zuletzt am 15. Februar bei einem Referendum, das die unbefristete Kandidatur aller Amtsträger durch eine Verfassungsänderung ermöglicht -, immer wieder bestätigte und zur Fortsetzung des eingeschlagenen Kurses beauftragte auf der einen sowie der Oligarchie, das heißt den alten Eliten aus Politik und Wirtschaft, die bis zum ersten Wahlerfolg von Hugo Chávez das Land fest im Griff hatten, auf der anderen Seite. Die Regierung Chávez verfolgt seit nunmehr zehn Jahren einen konsequenten Weg sozialer Reformen mit Ergebnissen, die das anfänglich womöglich noch bestehende Mißtrauen, hier trete eine neue politische Kraft mit lediglich in neue Schläuche gegossenen Versprechen an, unbezweifelbar widerlegt haben.

Zu diesen Ergebnissen gehört unter anderem eine keineswegs unerhebliche Reduzierung der Armut sowie der Diskrepanz zwischen arm und reich. Die Zahl der in Venezuela in Armut lebenden Menschen konnte bis 2008 um 18 Prozent und die der in extremer Armut lebenden um 31 Prozent gesenkt werden, während der sogenannte Gini-Effizient, mit dem die Ungleichverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer beziffert wird, in Venezuela mit derzeit 0,41 den niedrigsten Wert in ganz Lateinamerika sowie in der eigenen Geschichte aufweist. Wesentlicher Bestandteil der sogenannten "Missionen", wie die Regierung Chávez ihre umfangreichen, als "revolutionär" bezeichneten Sozialprogramme in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen - von der Lebensmittelversorgung über ausreichenden Wohnraum und Bildung, eine ausreichende Gesundheitsversorgung sowie Leistungen in Kultur, Umweltschutz und sozialer Sicherheit - nennen, ist die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung, damit in Venezuela niemand hungern oder unter Mangelernährung leiden muß.

Die Entwicklung "sozialistischer" Betriebe wurde staatlicherseits insbesondere in der Landwirtschaft vorangetrieben, um die Abhängigkeit des Landes von Lebensmittelimporten aus dem Ausland zu reduzieren. Die Bekämpfung der Armut führte indirekt bereits zu einer besseren Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. In den Jahren zwischen 2004 und 2006 konnte das durchschnittliche Einkommen armer Menschen verdoppelt werden mit der Folge, daß der Konsum von Lebensmittel schneller anstieg als deren Produktion - woraus sich erahnen läßt, wie groß zuvor der offene oder auch verdeckte Hunger armer Menschen in Venezuela gewesen sein mag.

Privatwirtschaftlich organisierte Lebensmittelproduzenten reagierten auf das stark gestiegene Interesse an Nahrungsmitteln mit massiven Preissteigerungen. Dies hatte zur Folge, daß die Preise von Nahrungsmitteln, die nicht der staatlichen Preisbindung unterliegen, in den letzten fünf Jahren um über 350 Prozent gestiegen sind. Die sozialen Errungenschaften der Bolivarischen Regierung, gegen Armut und Mangelernährung im Land mit oberster Priorität vorzugehen, werden dadurch selbstverständlich geschmälert. Es erweist sich an dieser Stelle, daß kapitalistisch strukturierte Volkswirtschaften - und um eine solche handelt es sich bei der venezolanischen, wenn sie auch den Weg zur Verwirklichung des Sozialismus eingeschlagen hat, nach wie vor - keineswegs der Optimalversorgung der Bevölkerung zuarbeiten, sondern den Mangel geradezu produzieren.

Nach dem Sieg beim Referendum verkündete Präsident Chávez, an den "Missionen" festzuhalten und deren Mittel nicht zu kürzen, weil sie "heilig" und "das Leben des Volkes" seien. Gerade im Lebensmittelbereich zeigte sich jedoch schnell, daß die Versorgung der Bevölkerung mit dem Grundnahrungsmittel Reis torpediert wurde, um durch einen absichtlich erzeugten Mangel die Preise in die Höhe zu treiben. Im Nahrungsbereich wird somit durch den jüngsten Beschluß der Regierung eine Konfrontationslinie erkennbar, die selbstverständlich das ganze Land und keineswegs nur die Lebensmittelproduktion betrifft. Eine friedliche Koexistenz profitorienterter Wirtschaftskonzerne, die in Venezuela durchaus geduldet werden, auch wenn Unternehmen der Öl-, Stahl-, Zement- und Telekommunikationsbranche in der jüngeren Vergangenheit ebenso verstaatlicht wurden wie Banken und die größte Goldmine des Landes, mit "sozialistischen" Wirtschaftsformen, deren Prioritätensetzung insbesondere in Krisenzeiten bei der bestmöglichen materiellen Versorgung der gesamten Bevölkerung liegt, ist wegen der einem solchen Konstrukt zugrundeliegenden fundamentalen Interessengegensätze nicht einmal theoretisch denkbar.

Am Mittwoch machte Präsident Chávez seine Ankündigung, die reisproduzierenden Konzerne zu verstaatlichen, sollten sie weiterhin die Preisbindung unterlaufen, in einem ersten Fall wahr. Per Dekret ordnete Chávez die Einleitung des Verfahrens zur Enteignung einer US-amerikanischen Fabrik an, die zum US-Lebensmittelkonzern Cargill gehört. Dem größten Lebensmittelkonzern Venezuelas, Polar, droht dieselbe Maßnahme, sollte auch dieser die staatlichen Bestrebungen, die Lebenshaltungskosten auf einem bestimmten, für alle Menschen erträglichen Niveau zu halten, durch seine Mißachtung des seit 2003 für Grundnahrungsmittel geltenden Preisbindungs- und Quotensystems verletzen. Aus den USA ertönte postwendend zu den jüngsten Maßnahmen der Regierung Chávez der Vorwurf, diese betreibe eine Mißwirtschaft - was aus dem Munde einer selbsternannten Weltführungsmacht, die im Interesse der von der sogenannten Weltfinanzkrise betroffenen Menschen im In- und Ausland nichts nachweislich Konstruktives vorzubringen hat, einem indirekten Lob gleichkommt.

Wenn die Wirtschaftspolitik eines Staates mit erklärtermaßen sozialistischen Ambitionen an erster Stelle von dem Bemühen gekennzeichnet ist, die Menschen im eigenen Land vor Armut und Hungersnöten zu beschützen, was angesichts einer sich zuspitzenden weltweiten Mangellage immer schwieriger zu bewältigen sein wird, zur "Mißwirtschaft" erklärt wird, spricht dies Bände für das Begriffsverständnis wie auch die tatsächliche Praxis derjenigen Repräsentanten des weltweiten Raubsytems, genannt Weltwirtschaft, die diesen Vorwurf an die Regierung in Caracas erheben, ohne im selben Atemzug die Gegenprobe zu machen und die eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik in Hinsicht auf die Entwicklung von Hunger und Armut im eigenen Land einer ergebnisbezogenen Überprüfung zu unterziehen.

5. März 2009