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DILJA/1145: Vertuschung fehlgeschlagen - Londoner Bürger stirbt nach Polizeiangriff (SB)


Der Brite Ian Tomlinson kam bei den G-20-Protesten in London nach der brutalen Attacke eines Polizisten ums Leben

Die Londoner Polizei ging - erfolglos - zum präventiven Gegenangriff über


Die Londoner Polizei hat ganz offensichtlich gelogen. Nach dem Tod des 47jährigen Briten Ian Tomlinson, der am 1. April einem ersten Obduktionsbefund zufolge in unmittelbarer Nähe der Proteste gegen den G-20-Gipfel im Londoner Finanzdistrikt einem Herzinfarkt erlag, hatte sie behauptet, daß der Verstorbene zuvor keinerlei Kontakt mit Polizeibeamten gehabt hätte. Diese Behauptung ist inzwischen als Lüge entlarvt worden, konnten sich doch Millionen Interessierte anhand eines vom britischen Guardian am 7. April auf dessen Internet-Seite veröffentlichten Amateur-Videos davon überzeugen, daß Tomlinson sogar einen sehr engen, direkten, gewaltsamen und möglicherweise sogar für ihn ursächlich tödlichen Kontakt mit einem Polizeibeamten gehabt hatte. Bezeichnender-, wenn auch keineswegs überraschenderweise bestanden die Bemühungen der Londoner Polizei auch mehrere Tage nach dem Todesfall in erster wie letzter Linie darin, den Skandal zu vertuschen, den sie durch dieses Verhalten tatsächlich jedoch extrem angeheizt und verstärkt hat.

Nachdem der Guardian am 7. April nicht nur ein Video, auf dem zu erkennen ist, daß der später als Ian Tomlinson identifizierte Mann hinterrücks von einem Polizisten angegriffen wird, der ihm, obwohl dieser keinerlei Bezug auf ihn nahm, in die Kniekehlen schlug und anschließend noch zu Boden riß, wiewohl noch immer keinerlei Gegenwehr erfolgte, sondern auch mehrere Augenzeugenberichte und Zeugenaussagen veröffentlichte, die einen völlig unprovozierten gewaltsamen Angriff eines Polizisten auf den nur wenige Minuten später Verstorbenen bestätigten, sah sich die Londoner Polizeiführung veranlaßt, eine Untersuchung anzuberaumen. Einige der Zeugen gaben an, daß Tomlinson bei seinem unfreiwilligen Sturz mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen sei. Den Videoaufnahmen ist zu entnehmen, daß sich etliche der umstehenden Menschen um ihn gekümmert haben, während die anwesenden Polizeibeamten - der angreifende Beamte hatte in einer ganzen Reihe weiterer, wie er mit Helm und Schutzschild ausgestatteter Polizisten gestanden - keinerlei Versuch unternahmen, dem Verletzten zu helfen.

Mit Hilfe der Demonstranten gelingt es dem 47jährigen schließlich wieder aufzustehen und, wenn auch benommen, wie eine weitere Zeugin später zu Protokoll geben sollte, weiterzugehen. Doch keine hundert Meter weiter, sinnfälligerweise in der Nähe der Bank von England, wo sich Anti-Gipfel-Demonstranten versammelt hatten und von der Polizei in Schach gehalten wurden, brach Tomlinson zusammen. Die Londoner Polizei behauptete wenig später, ihre Beamten seien von Demonstranten durch ständige Flaschenwürfe daran gehindert worden, dem am Boden liegenden Menschen zu helfen. Eine weitere Lüge, wie sich anhand von Zeugenaussagen und Videoaufnahmen inzwischen herausgestellt hat. Tatsächlich besteht gegen die beteiligten Polizisten sogar der Verdacht der unterlassenen Hilfeleistung. Schon vor der Veröffentlichung des von einem an den Antigipfelprotesten unbeteiligten New Yorker Fondsmanager gedrehten Amateurvideos und weiterer Zeugenaussagen am 7. April im Guardian waren Aussagen von Demonstranten im Internet [1] veröffentlicht worden, die der von der Polizei ausgegebenen und von der willfährigen Presse ungeprüft übernommenen Version widersprachen.

Hätte die für diesen Todesfall zunächst zuständige Polizei des Finanzdistrikts City of London tatsächlich aufklären wollen, wie Ian Tomlinson zu Tode gekommen war und ob es eine Fremdeinwirkung gegeben haben könnte, hätte sie aufgrund der beunruhigenden Zeugenaussagen in den folgenden Tagen dazu Anlaß genug gehabt. Es besteht jedoch der Verdacht, daß schon unmittelbar nach dem später eindeutig dokumentierten und vielfach bezeugten Angriff eines Polizeibeamten auf einen wehr- und arglosen Mann, dessen einziger "Fehler" es war, mit den Händen in den Hosentaschen an der Polizeikette vorbeizuschlendern, um von der Arbeit nach Hause zu gelangen, alle beteiligten Polizeikräfte mit der Vertuschung des Vorfalles, der zu diesem Zeitpunkt noch kein Todesfall war, beschäftigt waren.

Einer der Zeugen, Peter Apps, schilderte in den vom Internetportal Indymedia Deutschland bereits am 3. April veröffentlichten Augenzeugenberichten, wie Ian Tomlinson einer Gruppe von vier Studenten aus der Richtung, in der Polizisten und Demonstranten standen, entgegenstolperte und kollabierte. Eine Frau aus den Reihen der Protestler leistete dem zusammengebrochenen und am Boden liegenden Mann Erste Hilfe, während weitere Demonstranten die Polizei per Megafon zu Hilfe riefen. Natalie Langford, eine Studentin an der Universität Queen Mary, bezeugte einen Polizeiangriff, in dessen Folge viele Menschen auf die Gruppe, die sich um den Zusammengebrochenen gebildet hatte, zu- und um diese herumliefen. Ein weiterer Demonstrant hatte über Handy den Notruf 999 angerufen und bei der polizeilichen Notrufzentrale um Hilfe gefragt.

Den Berichten zufolge erschienen daraufhin vier Polizisten und zwei Polizeisanitäter, die jedoch nichts Eiligeres zu tun hatten, als die dem kollabierten Mann Erste Hilfe leistende Frau sowie auch alle anderen um ihn bemühten Demonstranten gewaltsam von ihm wegzustoßen. Die Frau habe noch versucht, mit den anrückenden Polizisten über den Zustand des Mannes zu sprechen, doch sie schenkten ihr kein Gehör und verweigerten sogar die Annahme des Handys, über die die polizeiliche Notrufzentrale mit ihren Kollegen in Kontakt treten wollte. Ein weiterer Zeuge namens Elias Stoakes gab an, daß die Polizeiärzte, die nun um Ian Tomlinson herumstanden, keine Herz-Lungen-Wiederbelebungsmaßnahmen durchführten, mit denen in lebensbedrohlichen Notfällen dieser Art üblicherweise versucht wird, einen Atem- und Kreislaufstillstand zu beheben. Alle Zeugenaussagen stimmen darin überein, daß es keine Wurfgegenstände gab, die in dieser Situation die Polizeibeamten an irgendetwas gehindert haben könnten.

Wirft schon das sich anhand dieser Zeugenaussagen aufdrängende Bild ein denkbar schlechtes Licht auf die Polizei des Finanzdistrikts City of London, erhärtet sich der Verdacht, daß Scotland Yard ein schweres, von den eigenen Beamten begangenes bzw. gedecktes Gewaltverbrechen vertuschen will, nach den Veröffentlichungen im Guardian nahezu zur Gewißheit. Da die Indizien und Beweise für einen solchen Übergriff zu diesem Zeitpunkt, also am 7. April, erdrückend waren, sahen sich die Verantwortlichen veranlaßt, die Ermittlungen der örtlichen Polizei dieses Distrikts - die ja gegen ihre eigenen Beamten hätte ermitteln müssen - zu entziehen und in die Hände der "Independent Police Complaints Commission" (IPCC), einer (angeblich) Unabhängigen Beschwerdekommission der Polizei, zu übergeben. Diese Sondereinheit ist allerdings mehr noch als die regulären Scotland-Yard-Kräfte damit befaßt, das Interesse des Staates an einer schlagkräftigen und durch etwaige Vorwürfe nicht zu diskreditierenden Polizei durchzusetzen.

Die Polizeiaufsichtsbehörde (IPCC) übernahm am 8. April die Ermittlungen oder vielmehr Vertuschungsbestrebungen. Ihre erste Maßnahme nach den am Abend des 7. April ins Internet gestellten Beweisen bestand darin, in Polizeibegleitung in der Redaktion des Guardian zu erscheinen und zu verlangen, daß das besagte Video wieder von der Website der Zeitung genommen werde, angeblich weil dieses die Ermittlungen "gefährden" und die Familie belasten würde. Der Guardian ließ sich dies nicht bieten und erfüllte schon gar nicht die geforderte Zensur, so daß inzwischen Millionen Internetnutzer das Video gesehen haben. Der Guardian erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizeiaufsichtsbehörde. So hätten Kommissionsmitglieder versucht, die Journalisten der Zeitung zu beschuldigen, indem sie ihnen vorwarfen, die Familie des Verstorbenen belästigt zu haben. Gegenüber anderen Zeitungen behauptete die "unabhängige" Kontrollkommission, noch bevor sie überhaupt ernsthafte Untersuchungen angestellt haben konnte, daß an den "Gerüchten" darüber, daß der Zeitungsverkäufer Tomlinson vor seinem Zusammenbruch von der Polizei angegriffen worden sei, nichts dran wäre.

Eine solche Untersuchungskommission hat sich mit derlei Äußerungen selbst diskreditiert, und so steht die britische Polizei insgesamt unter einem nicht unerheblichen öffentlichen Druck. Inzwischen hat nicht nur der Guardian, sondern auch der Fernsehsender Channel Four belastendes Material veröffentlicht. Der Sender stellte Filmmaterial ins Netz, aus dem hervorgeht, wie ein Sondereinsatzbeamter der Londoner Metropolitan Police mit einem Stock ausholt, um Tomlinson zu schlagen. Eine Identifikation des schlagenden Beamten ist anhand dieses Filmmaterials allerdings nicht möglich, doch dies spielt keine Rolle, da sich der betreffende Beamte inzwischen selbst gestellt und sich gegenüber seinen unmittelbaren Vorgesetzten sowie der IPCC zu erkennen gegeben hat.

So jedenfalls ist es inzwischen der Presse zu entnehmen, wobei allerdings nicht auszuschließen ist, daß die höheren Verantwortlichen der Metropolitan Police von Anfang an genau wußten, wer in dieser Situation was getan hatte und den Betreffenden erst später in die Rolle eines unteren Chargen drängten, der als Bauernopfer der öffentlichen Empörung geopfert werden sollte, um die höheren Dienstränge wie auch den gesamten Polizeiapparat von jedweden Vorwürfen freizuhalten. Dieser Beamte wurde zunächst weder vom Dienst suspendiert noch wegen des Verdachts auf eine schwere Straftat festgenommen. Nach Ansicht von Bürgerrechtsorganisationen ist die Polizeiaufsichtsbehörde ebensowenig wie die Metropolitan Police geeignet oder willens, eine tatsächlich unabhängige Untersuchung durchzuführen. Die IPCC tut das Allernotwendigste, um den Schein zu wahren, und hat eine zweite Obduktion des Opfers angewiesen, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Frage, ob und wenn ja mit welchen Folgen Ian Tomlinson vor seinem Tod Gewalteinwirkungen ausgesetzt war, in der ersten überhaupt nicht erörtert worden war.

Der Unmut in der Bevölkerung Londons wie auch in ganz Britannien ist inzwischen so groß, daß führende Politiker sich veranlaßt sahen, für ihre Polizei in die Bresche zu springen. So erklärte die britische Innenministerin Jacqui Smith, daß die Untersuchung der Beschwerdekommission schnellstens zum Abschluß gebracht werden solle und daß, sollte die Notwendigkeit einer Anklage festgestellt werden, diese auch erfolgen müßte. Wäre die IPCC wie behauptet eine unabhängige Kommission, wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Da die Ministerin die Möglichkeit, daß trotz belastender Ergebnisse keine Anklage erhoben werden könnte, generell durchaus in Betracht zu ziehen scheint - warum sonst würde sie betonen, daß in diesem Fall gegebenenfalls Anklage zu erheben sei? - ist nach der fehlgeschlagenen Vertuschung der weitere Weg vorgezeichnet. Der schlagende und inzwischen doch noch vom Dienst suspendierte Beamte wird als (alleiniger) Übeltäter herhalten müssen und voraussichtlich auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wodurch die für diesen Einsatz und die Einsatzbefehle verantwortlichen Vorgesetzten wie auch der gesamte Polizeiapparat entlastet werden würden.

Andere Politiker, so beispielsweise Dick Howarth von der Liberaldemokratischen Partei, versuchten sich als Wortführer der Proteste. "Das Video zeigt deutlich einen nicht provozierten Angriff eines Polizisten auf einen Passanten. Das ist widerlich", kommentierte Howarth und erklärte damit, was Millionen Menschen in dem Video ohnehin schon selbst gesehen hatten. Ein Sprecher der Konservativen sprach von "extrem alarmierenden" Nachrichten und wird damit wohl nicht unbedingt den Vorfall selbst, bei dem ein von der Polizei brutal angegriffener Mensch nur wenig später starb, sondern die Tatsache gemeint haben, daß dies beim besten Polizeiwillen nicht mehr vertuscht werden kann.

Die Familie des Verstorbenen - Ian Tomlinson war neunfacher Vater - hat sich unterdessen eindeutig für die Aufklärungsarbeit ausgesprochen, die von manchen Medien geleistet wurde und ohne die der Tod ihres Angehörigen noch immer völlig im Dunkeln wäre. Paul King, der 26jährige Stiefsohn Ian Tomlinsons, der am vergangenen Samstag in London am Ort des Geschehens an einem Schweigemarsch zum Gedenken an seinen Vater teilgenommen hat, hatte für die Familie erklärt: "Wir wollen um der Familie und der Kinder Willen Gerechtigkeit. Bis nicht alles ans Licht kommt und wir die Beweise haben, die wir brauchen, können wir unseren Vater nicht zur Ruhe legen."

Für diesen Fall kommt ein neues Gesetz, das das Fotographieren und Filmen von Polizeibeamten verbietet und unlängst in Kraft getreten ist, noch zu spät. Aus Sicht der Polizeibehörden und der in ihrem Rücken stehenden politischen Führung des Landes wird sich die Dringlichkeit dieses Zensurgesetzes, gegen das Journalistengewerkschaften bereits Sturm laufen, allerdings noch einmal bewahrheitet haben. Die Begründung, es müßten Filmaufnahmen und Fotos von Polizeibeamten verboten werden, die von "Terroristen" verwendet werden könnten, ist durch den tragischen Todesfall des Ian Tomlinson allerdings in ihrer vollen Absurdität überdeutlich geworden. Vorbei sind demnach in Britannien die Zeiten, in denen die Presse als wenn auch inoffizielle, so doch nach demokratischen Gesichtspunkten unverzichtbare "vierte" Gewalt im Staate galt mit der löblichen Aufgabe, die Exekutive insbesondere in ihrer Gewaltanwendung zu beobachten und auf dem Wege der Veröffentlichung etwaiger Übergriffe auch zu kontrollieren.

[1] https://london.indymedia.org.uk/videos/1023

15. April 2009