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DILJA/1216: Wenn das Schule macht - soziale Fortschritte in Bolivien ohne den IWF (SB)


Boliviens Gegenentwurf zum westlichen Zwangsdiktat "neoliberalen" Wirtschaftens zeitigt unbezweifelbare Erfolge

Die Sachwalteragentur IWF muß um ihre Zugriffsoptionen fürchten


Der Internationale Währungsfonds (IWF) trat in diesen Tagen die Flucht nach vorne an und bescheinigte Bolivien, dem bis dato zweitärmsten Land Südamerikas, eine "angemessene" und "vorsichtige" Wirtschaftspolitik, mit der das Land der Weltwirtschaftskrise begegnet sei. Der Widersinn in den lobenden Worten, mit denen Gilbert Terrier, Chefanalyst des IWF, bei der Vorstellung des Berichts "Ökonomische Perspektiven der Amerikas 2009" in der vergangenen Woche in Hinsicht auf Bolivien nicht sparte, liegt darin, daß die Bretton-Woods-Agentur damit im Grunde an ihrem eigenen Ast sägt. Die sozialen und wirtschaftlichen Fortschritte, für die die Regierung des ersten indigenen Präsidenten des Landes, Evo Morales, verantwortlich zeichnet, sind so unbezweifelbar und signifikant, daß ein Verleugnen seitens des IWF allerdings nur dessen Glaubwürdigkeit und Seriosität (noch weiter) untergraben würde.

Der IWF stellt bekanntlich wie auch die Weltbank mit all seinen Zugriffsoptionen, Knebelkrediten und Zwangsmaßnahmen ein Instrument erster Güte dar, um die Interessen der westlichen Eliten und Großunternehmen an einer fortgesetzten Verfügbarmachung bzw. -haltung jedweder Sourcen in allen Regionen der Welt zum Nachteil der dortigen Staaten bzw. Bevölkerungen durchzusetzen. Viele der formal dekolonialisierten Staaten der sogenannten Dritten Welt wurden nahtlos in eine Schuldknechtschaft übergeleitet, in der es aus Verschuldung, Kreditneuaufnahme und weiterer Verschuldung kein ökonomisches Entkommen geben konnte. Durch sogenannte Strukturanpassungsprogramme, deren Durchsetzung an die Kreditvergabe als unverhandelbare Bedingung seitens des Internationalen Währungsfonds gekoppelt wurde, konnten die in nun wirtschaftliche Abhängigkeit getriebenen jungen Staaten dem Diktat der westlichen Geldgeber unterworfen werden.

In Lateinamerika wurden 1973 in Chile mit dem Putsch gegen die sozialistische Regierung Salvador Allendes die Voraussetzungen für ein "neoliberal" genanntes Wirtschaftsmodell geschaffen, das bis heute scheinbar alternativlos als Nonplusultra gehandelt wird, so als wäre die in diesem Begriff angesprochene Freiheit je eine andere gewesen als die der multinationalen Konzerne sowie der durch sie repräsentierten westlichen Interessengruppen. In Bolivien hat die von Morales' Vorgängerregierungen ausnahmslos betriebene "neoliberale" Politik zu einer Situation geführt, die einen radikalen Schnitt herbeigeführt oder zumindest extrem befördert hat. Die Verarmung der Bevölkerung war nach der Jahrtausendwende so weit vorangeschritten, daß soziale Proteste und Protestbewegungen nicht ausbleiben konnten. Am 12. und 13. Oktober 2003 kam es zu Ereignissen, die als "Schwarzer Oktober" in die Geschichte des Andenlandes eingehen sollten.

Der damalige Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada, selbst ein Minenbesitzer, der nach einer Privatisierungsflut von zuvor in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen und Industrien der reichste Mann des Landes geworden war, hatte in einer Fernsehansprache den Ausverkauf des bolivianischen Erdgases an ein ausländisches Konsortium bekanntgegeben; lediglich 18 Prozent der zu erwartenden hohen Gewinne wären in die Staatskasse geflossen. Diese Ankündigung hatte unerwartete Folgen, denn in allen Teilen des Landes brachen wütende Proteste aus, die die Regierung nicht unter Kontrolle zu bringen in der Lage war. Als sie dann in der Millionenstadt Alto das Militär gegen demonstrierende Menschen einsetzte und mit Maschinengewehren und Helikoptern auf Unbewaffnete schießen ließ, wodurch mindestens 60 Menschen getötet und über 400 verletzt wurden, geschah etwas, mit dem Präsident Lozada noch weniger gerechnet haben dürfte.

Die Wut und die Widerstandsbereitschaft der protestierenden Bevölkerung wurde durch dieses Massaker nicht gelähmt, sondern noch weiter angefacht. Die landesweiten Proteste nahmen in der Folge ein solches Ausmaß an, daß Lozada sich wenige Tage später, am 17. Oktober 2003, Hals über Kopf zur Flucht in die USA gezwungen sah. Mit seiner überstürzten Abreise wurde jedoch auch das Ende des neoliberalen Diktats eingeleitet. Evo Morales, bis dahin Anführer der zweitstärksten Fraktion im Parlament, der "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), wurde schließlich im Dezember 2005 zum Präsidenten Boliviens gewählt, und von da an war Schluß mit "neoliberal". Morales erfüllte umgehend die Kernforderung der sozialen Bewegungen nach Verstaatlichung - bei entsprechender Entschädigung der Voreigentümer - der Erdöl- und Erdgaswirtschaft. Damit wurde der Grundstock gelegt für eine eigenständige Wirtschafts- und Sozialpolitik Boliviens, die nicht nur zu unbestreitbaren Fortschritten in bezug auf die Lebensverhältnisse der verarmten Bevölkerungsmehrheit führte, sondern das Land aus dem Klammergriff des IWF löste.

Inzwischen verfügt die Regierung von Präsident Morales über dreimal so hohe finanzielle Rücklagen wie zu Beginn ihrer Amtszeit. Die Volkswirtschaft Boliviens verzeichnet im laufenden Jahr eine vierprozentige Wachstumsrate. Zum ersten Mal seit 1970 weist der Staatshaushalt kein Defizit auf. Die Staatverschuldung wurde aus eigenen finanziellen Mitteln von 4,4 Milliarden US-Dollar im Jahre 2006 auf 2,4 Milliarden abgebaut, wodurch die Aufnahme neuer Kredite vermieden werden konnte. Der Boliviano, die heimische Währung, wurde vom US-Dollar weiter abgekoppelt und so vor einem weiteren Wertverlust geschützt. Die staatlichen Einnahmen stiegen zwischen 2005 und 2008 um 18, die Ausgaben um neun Prozent. Mit öffentlichen Geldern wurden Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Straßen, Schulen und Krankenhäusern vorangetrieben.

Umfangreiche Sozialprogramme lindern die Nöte der Ärmsten, doch noch immer müssen 40 Prozent der Bevölkerung mit einem US-Dollar pro Tag auskommen. Finanzielle Zuwendungen wie Renten, Schul- und Muttergeld werden unbürokratisch ausgezahlt. Desweiteren bietet das heutige Bolivien seinen Bürgern eine kostenlose medizinische Versorgung. Bolivien gehört zu den Staaten, in denen die Kindersterblichkeit in den zurückliegenden fünf Jahren am stärksten gesenkt werden konnte. Innerhalb von nur drei Jahren wurde zudem eine Alphabetisierungskampagne durchgeführt, weshalb Bolivien als drittes Land Lateinamerikas nach Kuba und Venezuela nun keine Analphabeten mehr aufweist. Fast zwei Millionen Schüler und Schülerinnen von der 1. bis zur 8. Klasse bekommen Zuwendungen für das Schulmaterial. Über 60jährige erhalten eine finanzielle Unterstützung von etwa 342 Dollar pro Jahr (Rente der Würde).

Die materielle Basis all dessen ist die Wiederverstaatlichung der Erdöl- und Erdgasindustrie. Mit den internationalen Ölkonzernen wurden neue Verträge ausgehandelt, die neben den steigenden Weltmarktpreisen der Staatskasse steigende Einnahmen ermöglichten (von 992 Millionen US-Dollar im Jahre 2005 auf 2,7 Milliarden 2008). All dies führte zu ungewohnten Tönen seitens des IWF. "Schaue ich mir das Bolivien von vor zehn Jahren an, dann muß ich gestehen, daß mir die Sozialpolitik dieser Regierung äußerst gut gefällt" [1], kam sein Analyst Terrier nicht umhin festzustellen. Die Regierung Morales, die die Zusammenarbeit mit dem IWF eingestellt und all dessen Finanzierungsprojekte nach ihrem Amtsantritt sofort abgebrochen hatte, stellte unterdessen klar, daß sie auch fürderhin nicht daran denkt, zur "neoliberalen" Politik oder der Unterwerfung unter das Diktat dieser Institution zurückzukehren.

Der IWF muß nun befürchten, daß das Beispiel Bolivien Schule machen könnte. Aus einem der ärmsten Länder des Kontinents ist ein Staat geworden, der gegenüber seinen Bürgern seine Selbstverpflichtung nachweislich erfüllt. So ist der Konsum der privaten Haushalte kontinuierlich gestiegen; das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt lag 2005 noch bei 1010, 2008 jedoch schon bei 1651 US-Dollar. Das Beispiel Boliviens könnte weltweit auf ein großes Interesse stoßen - wenn auch nicht unbedingt bei den Regierungen, so doch bei vielen Menschen in allen Regionen der Erde. Bei einer Umfrage, die von der britischen BBC anläßlich des 20. Jahrestages des Falls der Mauer und des Endes des Sowjetsystems weltweit durchgeführt wurde, kam für die Wortführer der kapitalistischen Staatenwelt Beunruhigendes zu Tage.

Nur elf Prozent der in 27 Staaten Befragten vertraten die Auffassung, der Kapitalismus würde gut funktionieren. 23 Prozent waren demgegenüber der Meinung, das gegenwärtige Wirtschaftssystem sei mit unheilbaren Mängeln behaftet. In einzelnen Ländern lag der Prozentsatz dieser Kapitalismus-Kritiker noch ungleich höher, so in Frankreich bei 43, in Mexiko bei 38 und in Brasilien bei 32 Prozent. 51 der weltweit Befragten glaubten, der Kapitalismus habe Fehler, die sich durch Reformen oder Regulierungen beheben ließen. Nun stellt die Wirtschaftspolitik Boliviens keine grundlegende Abkehr vom Kapitalismus dar, wie auch in der im Januar 2009 durch ein Referendum angenommenen neuen Verfassung Boliviens Kollektiv- wie auch Privatbesitz garantiert werden. Sie könnte als eine durchaus gelungene Korrektur (des Kapitalismus) bewertet werden, was den Sachwaltern der alten transatlantisch dominierten Weltordnung jedoch nicht den geringsten Trost bieten dürfte, weil ihr gewohnter Krallengriff in diesem Land buchstäblich ins Leere geht.

Anmerkung

[1] Musterland Bolivien. Wachstum, solide Staatsfinanzen, beispielhafte Sozialprogramme: Regierung Morales beeindruckt mit Wirtschaftserfolgen selbst den IWF, von Benjamin Beutler, junge Welt, 11.11.2009, S. 9

12. November 2009