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DILJA/1271: Mord im Mittelmeer - Israel tötet Aktivisten der Free-Gaza-Bewegung (SB)


Gewaltsamer Überfall der israelischen Marine auf Hilfskonvoi für Gaza

Verhaltene bis scharfe internationale Reaktionen anläßlich des Todes von bis zu 20 unbewaffneten Zivilisten


Israel hat eine totale Nachrichtensperre über die Vorfälle verhängt, die sich in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages in einer Entfernung von etwa 140 Kilometern von Gaza im Mittelmeer zugetragen haben und bei denen, wie von einem israelischen Armeesprecher bestätigt wurde, mindestens zehn Passagiere des türkischen Führungsschiffes einer kleinen Flottille, die die gegen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens verhängte Blockade durchbrechen und zu humanitären Zwecken Hilfsgüter in das Gebiet bringen wollte, getötet worden. Anderen Quellen zufolge kamen bei diesem Überfall der israelischen Marine auf ausschließlich zivile Schiffe, die sich noch dazu in internationalen Gewässern befunden haben, bis zu 20 Menschen ums Leben. Von den fünf deutschen Staatsangehörigen, die sich ebenfalls auf einem der Schiffe, vermutlich dem unmittelbar angegriffenem, befunden haben, fehlt derzeit jedes Lebenszeichen. Bei ihnen handelt es sich um die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Annette Groth und Inge Höger, den ehemaligen Abgeordneten und Rechtswissenschaftler Norman Paech, den stellvertretenden Vorsitzenden der Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland", Matthias Jochheim, sowie Nader El Sakka von der Palästinensischen Gemeinde Deutschland e.V.

Unmittelbar nach dem Angriff der israelischen Armee auf das türkische Passagierschiff "Mavi Marmara" brach, wie einer Pressemitteilung des Büros der Linksabgeordneten Höger zu entnehmen ist, der Kontakt zu den Parteifreunden ab. Bis zu 50 weitere Passagiere sollen verletzt und in Krankenhäuser verbracht worden sein, ohne daß die israelischen Behörden Angaben über den Verbleib der Betroffenen machen würden. Von zahlreichen Organisationen sowie der Linkspartei ergingen umgehend Aufforderungen an die deutschen Stellen, namentlich den Bundespräsidenten, den Bundestagspräsidenten, die Bundeskanzlerin sowie den Bundesaußenminister, sich unverzüglich für die Freilassung sämtlicher Besatzungsmitglieder einzusetzen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärte, die Bundesregierung bemühe sich, den Verbleib der Deutschen aufzuklären. In einer vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebenen Erklärung wird tunlichst vermieden, die israelischen Streitkräfte mit den Todesfällen in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Darin heißt es [1]:

Israelische Marinekräfte haben in internationalen Gewässern einen mit Hilfsgütern für Gaza beladenen Schiffskonvoi gestoppt. Dabei gab es Tote und Verletzte. Die Bundesregierung sei bestürzt über die militärische Aktion und bedauere zutiefst den Verlust von Menschenleben, sagte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm. "Im Vordergrund muss jetzt die umfassende Aufklärung der Umstände stehen, die zu dieser Eskalation von Gewalt und damit zu den tragischen Ereignissen führten", betonte der Regierungssprecher.

Allem Anschein nach wähnt sich die deutsche Regierung in einem schier unauflösbarem Dilemma. Bei ihr als einem treuen und bedingungslosen Bündnisgefährten Israels steht eine echte Infragestellung der israelischen Politik unter keinen Umständen auf der Agenda. Gibt sie sich jedoch in einer Situation wie der gegenwärtigen, in der international massivste Kritik an Israel geübt wird angesichts des jüngsten Verbrechens der israelischen Armee, offen als ein Staat zu erkennen, der einen militärischen Angriff auf Zivilisten, die mit ihrer Unterstützungsaktion für die im Gazastreifen eingeschlossenen Menschen nichts anderes bezwecken als die Leistung minimalster humanitärer Hilfen, die eigentlich zum Pflichtkatalog ihrer Regierungen sowie internationaler Organisationen gehören, faktisch gutheißt, droht sie ihr Gesicht zu verlieren. Wie soll die eigene Kriegführung, beispielsweise in Afghanistan, noch humanitär bemäntelt werden können, wenn sich Deutschland - und in einer vergleichbaren Lage befinden sich auch die übrigen, an diesem Krieg beteiligten EU- und NATO-Staaten - in einem Konflikt zwischen einer aus westlichen Hilfsorganisationen ins Leben gerufenen humanitären Aktion und einem militärisch hochgerüsteten Staat wie Israel in bezeichnender Weise und keineswegs vornehm zurückhält?

Regierungssprecher Willem unternahm denn auch erste vorsichtige Schritte, um inmitten des Zorns, der Wut und der Trauer über dieses Vorgehen der israelischen Armee erste Versuche zu deren Verteidigung einzuleiten. Dies dürfte sich angesichts der Faktenlage jedoch nicht nur als äußerst schwierig, sondern als geradezu entlarvend für die tatsächliche Positionierung der deutschen Bundesregierung erweisen. Israel erließ nicht nur eine allgemeine Nachrichtensperre, sondern möchte auch die eigene Version verbreitet wissen. Demnach hätten die Aktivisten, als die israelische Marine per Hubschrauber die Schiffe enterte, die Soldaten mit Stangen und ähnlichem Gerät "angegriffen", es sei sogar auf die Israelis geschossen worden, so daß diese sich verteidigen mußten. Auf dem türkischen Flaggschiff waren allerdings 30 Live-Kameras montiert, und so liefern Videoaufzeichnungen Bilder, auf denen schwerbewaffnete israelische Soldaten und am Boden liegende, allem Anschein nach verletzte Zivilisten zu sehen sind.

Die eher verhaltenen Reaktionen der deutschen Bundesregierung wie auch der übrigen Bundestagsparteien sprechen ihre eigene Sprache. Einzig von seiten der Linkspartei waren klare Stellungnahmen zu vernehmen, wie sie in einer solchen Situation auch von ihren politischen Kontrahenten im Bundestag zu erwarten gewesen wären. In einer von Gregor Gysi, dem Vorsitzenden der Linksfraktion, veröffentlichten Presseerklärung heißt es unter anderem [2]:

Israel versucht seit geraumer Zeit den Gazastreifen, in dem es seine Besatzung aufgegeben hat, abzuriegeln. Dazu hat Israel kein Recht. Es gibt keine einzige völkerrechtliche Norm, auf die Israel eine solche Abriegelung stützen kann. Deshalb ist sie mehrfach und von einer Vielzahl von Staaten verurteilt worden.

Mehrere Schiffe waren unterwegs, um Hilfsgüter an die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zu liefern. Die israelische Armee wollte dies rechtswidrig nicht zulassen und die Schiffe besetzen.

Ohne im Einzelnen beurteilen zu können, was bei der Besetzung geschah, ist es niemals und durch nichts zu rechtfertigen und deshalb verbrecherisch, dass einseitig das Feuer eröffnet wird und friedliche Menschen getötet oder verletzt werden.

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery drückte sein Entsetzen in noch krasseren Worten aus [3]:

In dieser Nacht wurde mitten auf dem Meer ein Verbrechen begangen - auf Befehl der Regierung Israels und dem IDF-Kommando.

Ein kriegsähnlicher Angriff gegen Schiffe mit Hilfslieferungen und tödliche Schüsse auf Friedensaktivisten und Aktivisten humanitärer Hilfe. Es ist eine wahnsinnige Sache, die sich nur eine Regierung leisten kann, die alle roten Linien überschritten hat.

Nur eine wahnsinnige Regierung, die alle Beherrschung verloren hat und jede Verbindung zur Realität kann so etwas tun: Schiffe, die humanitäre Hilfe und Friedensaktivisten aus aller Welt mit sich bringt, als Feinde anzusehen und massive militärische Kräfte in internationale Gewässer zu schicken, sie anzugreifen, zu zu beschießen und zu töten.

"Niemand in der Welt wird die Lügen und Entschuldigungen glauben, mit denen die Regierungs- und Armeesprecher daherkommen", sagt der frühere Knessetabgeordnete Uri Avnery von der Gush Shalombewegung.

Es steht jedoch zu befürchten, daß Avnery im letzten Punkt irrt und die führenden westlichen Staaten - und sei es wider besseren Wissens - Israel auch in diesem Konflikt den Rücken frei halten und, von etwaigen Verbalprotesten abgesehen, ihre mehr oder minder offene Unterstützung ungerührt der jüngsten Toten fortsetzen werden. Mit "Wahnsinn" hätte das Vorgehen der israelischen Armee dann ebenfalls nichts zu tun, sondern mit der Durchsetzung einer Blockadepolitik gegenüber den Palästinensern, für die Tel Aviv zu keinem Zeitpunkt von seinen westlichen Freunden ernsthaft kritisiert oder unter Druck gesetzt wurde.

Anmerkungen

[1] Bestürzung über israelischen Marineeinsatz gegen Gaza-Hilfskonvoi, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, "REGIERUNGonline", 31.05.2010
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2010/05/2010-05-31-marineeinsatz-gaza.html

[2] Gregor Gysi zur Erstürmung der Gaza-Hilfsflotille: Verbrecherische Handlung, Presseerklärung - die Linke im Bundestag vom 31. Mai 2010

[3] Pressemitteilung vom 31. Mai 2010 von Uri Avnery, Gush Shalom

[4] http://schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_initia_free_gaza.shtml

31. Mai 2010