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DILJA/1274: Einschüchterung fehlgeschlagen - Gazablockade unwiderruflich enttabuisiert (SB)


Ungeachtet des mörderischen Überfalls der israelischen Marine wird die Aktion der "Free Gaza Bewegung" fortgesetzt

Angesichts des weltweiten Zorns über das völkerrechtswidrige Vorgehen Israels gerät die Aufrechterhaltung der Gaza-Blockade ins Wanken


Was politischer Druck bewirken kann in einer Lage, die hinsichtlich der dem Konflikt zugrundeliegenden Macht- oder vielmehr Gewaltverhältnisse kaum asymmetrischer sein könnte, offenbart sich derzeit im Zusammenhang mit der weltweiten Empörung, um nicht zu sagen hellen Wut auf das Vorgehen der israelischen Armee gegen einen zivilen Hilfskonvoi, der am Montag in den frühen Morgenstunden überfallen und entführt wurde, wobei nicht nur mindestens neun Passagiere getötet und über 50 zum Teil schwer verletzt, sondern weit über 600 Friedensaktivisten inhaftiert wurden. Israel hat, militärisch gesprochen, alle Gewalt auf seiner Seite und in dieser Hinsicht, allen ohnehin höchst verhaltenen Vorhaltungen seiner westlichen Verbündeten zum Trotz, auch nach dem weltweit verurteilten schweren Verbrechen nichts zu befürchten.

Die kleine Flottille der "Free Gaza Bewegung", der die sechs am Montagmorgen gewaltsam aufgebrachten Schiffe angehörten, hat von Anfang an nicht den geringsten Versuch unternommen, sich auf eine Auseinandersetzung mit dem israelischen Miltär einzulassen. So hat die Schiffsleitung des unter türkischen Flagge fahrenden Führungsschiffs Mavi Marmara unmittelbar nach dem Überfall die Passagiere aufgefordert, keinen Widerstand zu leisten, weil die israelischen Soldaten scharf schössen und die Menschen auf den Schiffen dem nicht das Geringste entgegenzusetzen hätten.

Viele Aktivisten waren und sind jedoch gleichwohl nicht gewillt, sich durch die Einschüchterungsmaßnahmen, denen bislang schon mindestens neun Menschen zum Opfer gefallen sind, von ihrem humanitären wie politischem Vorhaben abbringen zu lassen. Ein solch hohes Maß an Zivilcourage ist beileibe keine Selbstverständlichkeit und unterstreicht die Ernsthaftigkeit, mit der hier seitens westlicher Zivilisten der Versuch unternommen wird, den im Gazastreifen eingeschlossenen Palästinensern einerseits tatkräftige Hilfe bei dem ihnen von Israel nach dem Gazakrieg von 2008/2009 verunmöglichten Wiederaufbau zu leisten und andererseits die im internationalen Kontext in den drei seit der Verhängung der Blockade des Gazastreifens vergangenen Jahren aufgebaute Tabuisierung dieser vom Weltsicherheitsrat seit geraumer Zeit kritisierten Zwangsmaßnahme zu durchbrechen.

Letzteres ist der Solidaritätsbewegung schon jetzt gelungen. Diesen politischen Druck hat nicht unbedingt die kleine Hilfsflottille, sondern indirekt Israel selbst erzeugt, weil es buchstäblich mit Kanonen auf Spatzen geschossen und dabei eine Grenze überschritten hat, die es sowohl den USA als auch den EU-Staaten unmöglich macht, sich gegenüber der internationalen Öffentlichkeit wie auch den eigenen Bevölkerungen als kompromißloser Parteigänger Israels zu erkennen zu geben. International kann es sich kein politischer Repräsentant in der gegenwärtigen Situation erlauben, will er nicht politischen Selbstmord begehen oder der von ihm vertretenen Institution oder Regierung einen schweren Imageschaden zufügen, den israelischen Angriff auf westliche Zivilisten zu rechtfertigen. Dies wäre für sich genommen für die israelische Regierung noch kein unentrinnbares Dilemma, da daraus ebenso wenig abgeleitet werden kann, daß die westlichen Staaten, wie vehement von ihnen gefordert wird, politischen Druck auf Tel Aviv ausüben würden bezüglich der Aufhebung der Blockade des Gazastreifens.

Der Weltsicherheitsrat sah sich nach einer zwölfstündigen Dringlichkeitssitzung veranlaßt, von Israel nicht nur die sofortige Freilassung aller Deportierten sowie die Freigabe der Schiffe inklusive ihrer Ladung zu verlangen und eine unabhängige Untersuchung des Überfalls im Mittelmeer zu fordern. Er erinnerte zugleich auch an die durch die bislang dreijährige Blockade des Gazastreifens verhinderte Bereitstellung und Verteilung von ausreichenden humanitären Hilfsgütern an die dort eingeschlossenen 1,5 Millionen Menschen, wie sie in der UN-Resolution 1860 verlangt wird. Eben diesem Zweck sollten die Hilfslieferungen, die die Free-Gaza-Bewegung auf dem direkten Seewege in den Gazastreifen bringen wollte, ohne Gefahr zu laufen, daß die so dringend benötigten Materialien von den israelischen Behörden konfisziert werden, dienen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon fordert denn auch nach dem jüngsten Massaker der israelischen Armee entschiedener denn je zuvor die sofortige Aufhebung der Gaza-Blockade, die er als "kontraproduktiv, nicht nachhaltig und unrecht" bezeichnete. Er habe, so der UN-Generalsekretär in New York, die israelische Regierung bereits seit Monaten zum Einlenken wegen der Isolation des Gazastreifens gedrängt und warf Tel Aviv nun vor, daß es die blutige Tragödie im Mittelmeer nicht gegeben hätte, hätte Israel auf ihn gehört. Dies wird Israel, zumindest in Gestalt seiner derzeitigen Regierung, auch in der gegenwärtig politisch höchst angespannten Lage nicht tun. So erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Rede an die Nation, die Kritik aus dem Ausland sei "scheinheilig", die Menschen an Bord der Schiffe seien keine Menschenrechtsaktivisten, sondern "Extremisten" gewesen.

Der Regierungschef gab dann indirekt sogar zu, daß die zwischenzeitlich kolportierte Behauptung Tel Avivs, es seien an Bord der Hilfsschiffe Waffen und sogar nukleares Material, das für einen Terroranschlag auf Israel hätte verwendet werden können, gefunden worden, keinerlei Realitätsbezug aufwies. Es sei den Organisationen des Konvois darum gegangen, so Netanjahu, die Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen und nicht darum, Hilfsgüter zu liefern. "Wäre die Blockade gebrochen worden, wären Dutzende oder Hunderte weitere Schiffe gekommen und hätten Waffen gebracht", erklärte er desweiteren, ohne zu realisieren, daß er damit, wenn auch indirekt, bestätigt, daß es an Bord der überfallenen Schiffe keinerlei Waffen gegeben hat.

Die eigentlich Stoßrichtung der Rede Netanjahus zielt jedoch nicht darauf ab, die Militäroperation vom Montag zu rechtfertigen, sondern die Fortsetzung eben dieser Politik anzukündigen und durchzusetzen. Der israelische Ministerpräsident behauptet, es sei "unser Recht und unsere Pflicht gemäß dem gesunden Menschenverstand und internationalem Recht, solche Waffenlieferung nach Gaza zu verhindern; sei es zu See, zu Land oder aus der Luft" [1]. Dem ist unschwer zu entnehmen, was die israelische Regierung an anderer Stelle schon unverblümt angekündigt hat - nämlich, daß sie jeden weiteren Versuch, die Seeblockade zu durchbrechen, unterbinden wird.

Im israelischen Parlament kam es bereits zu tumultartigen Auseinandersetzungen zwischen arabischstämmigen Israelis, die wie Hanin Soabi, die selbst auf einem der Schiffe mitgefahren war, die Regierungspolitik in scharfen Worten kritisierten. Soabi forderte eine Erklärung dafür, warum die Regierung Netanjahu eine unparteiische Untersuchung von außen ablehne. Sie wurde von Likudabgeordneten als Verräterin und trojanisches Pferd verunglimpft. Eine unabhängige Untersuchung will der UN-Menschenrechtsrat durchführen lassen, wozu sich dieses Gremium mit 32 seiner 47 Mitglieder entschlossen hat - wobei bezeichnenderweise drei westliche Staaten, die USA, Italien sowie die Niederlande, gegen die Resolution gestimmt und weitere neun Mitglieder sich enthalten haben.

Die Haltung der USA ist ohnehin in ihrer Widersprüchlichkeit schon wieder eindeutig und kaum mißzuverstehen. So soll sich Barack Obama in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der unverblümt von einem "blutigen Massaker auf Schiffen mit Hilfsgütern" spricht, der Forderung nach einer unabhängigen und transparenten Untersuchung angeschlossen haben. Allem Anschein nach hat die israelische Regierung sämtliche Warnungen aus Washington, doch bitte schön etwas verhaltener zu Werke zu gehen, in den Wind geschlagen. Die US-Regierung scheint sich im Unterschied zu Tel Aviv weitaus besser darüber im klaren gewesen zu sein, welch eine katastrophale Wirkung ein "PR-Desaster", von dem mittlerweile intern auch die israelische Regierung spricht, entfalten kann, weshalb sie, wenn auch vergeblich, auf "Vorsicht und Zurückhaltung" Wert gelegt hat, zumal sich auch US-Bürger an Bord der Schiffe befunden hätten.

Das Gerade von einem "PR-Desaster", das die Washington Post nun innerhalb der israelischen Regierung wahrgenommen haben will, stellt einen weiteren Zynismus dar, da mit dieser Formulierung noch immer nicht der Tatsache Rechnung getragen wurde, daß mindestens neun Menschen in Folge dieser Politik getötet worden sind. Dies ist gegenüber der Weltöffentlichkeit und den Menschen in den westlichen Staaten nicht zu rechtfertigen, wodurch ein, wenn man so will, selbstgemachter politischer Druck entsteht, der schwer auf den Regierungen nicht etwa Israels, sondern der führenden westlichen Staaten lastet. In wenigen Tagen, voraussichtlich am Freitagabend oder Samstagmorgen, wird die MS "Rachel Corrie", ein nach einer 2003 im Gazastreifen getöteten US-Amerikanerin benanntes weiteres Free-Gaza-Schiff, auf ihrer Fahrt in Richtung Gazastreifen die Stelle erreichen, an der die übrigen Hilfsschiffe überfallen worden waren.

Da dieses Schiff unter irischer Flagge fährt, hat die irische Regierung gegenüber der israelischen bereits deutlich gemacht, daß sie, so Außenminister Michael Martin, "höchste Zurückhaltung" von dieser erwartet. Und weiter: "Ich wiederhole meine dringende Aufforderung an die israelische Regierung, dem Schiff, das sich in irischem Besitz befindet und noch immer Richtung Gaza fährt, eine sichere Durchfahrt zu gewährleisten" [2]. Der irische Außenminister betonte, daß es "zwingend erforderlich" sei, daß es kein weiteres Blutvergießen und keine neuen Konfrontationen gäbe. Auch der irische Regierungschef Brian Cowen stellte klar, daß es der "Rachel Corrie", deren Besatzung mehr denn je gewillt ist, die Blockade des Gazastreifens in Begleitung zweier weiterer Schiffe zu durchbrechen, erlaubt werden müsse, seinen Einsatz zu Ende zu führen. Israel hingegen hat angekündigt, auch dieses, nach Angaben der "Free Gaza"-Organisatoren mit medizinischer Ausrüstung, Unterrichtsmaterialien und Zement beladene Schiff zu stoppen.

Eine Fortsetzung, um nicht zu sagen weitere Eskalation der Ereignisse scheint damit unabwendbar geworden zu sein, wobei der eigentliche Kern der Konfrontation nicht in der (unsinnigen) Frage, ob die Hilfsschiffe, wie von Israel unterstellt, Waffen an die Hamas liefern könnten, bestehen dürfte, sondern in der politischen Brisanz dieser Solidaritätsaktion. Die Blockade des Gazastreifens und damit die seit drei Jahren bestehende Entwürdigung und Entrechtung von eineinhalb Millionen Menschen, die zu politischen Zwecken in größte materielle Nöte manövriert wurden, wird damit, ohne daß Israel oder die USA dies verhindern könnten, international auf die Tagesordnung gebracht. Der Zusammenhang zwischen der Brutalität des israelischen Überfalls und der Brutalität dieser Blockade tritt so offen zu Tage, daß es für westliche Regierungen immer schwieriger werden wird, das Vorgehen Israels in dem einen wie dem anderen Punkt mitzutragen.

In Israel selbst werden unterdessen Stimmen laut, die eine radikale Umkehr fordern. So sprach die 81jährige Schriftstellerin, ehemalige Knesset-Abgeordnete und Mitbegründerin der israelischen Friedensbewegung "Peace Now", Shulamit Aloni, in einem junge-Welt-Interview in bezug auf die Kaperung der Freiheitsflottille von einem "Schandfleck in der Geschichte meines Landes" [3]. Befragt nach der Blockade des Gazastreifens stellte Aloni den Zusammenhang zu der Militäroperation her:

Die Blockade hat die Hamas genauso wenig geschwächt wie die Tötung vieler ihrer Führer. Sie hat nur das Leiden der Bevölkerung verstärkt und Gaza in ein riesiges Gefängnis unter freiem Himmel verwandelt. Wer Schiffe angreift, ein anderes Volk unterdrückt und die Kolonisierung der besetzten palästinensischen Gebiete fortsetzt, pflegt die Illusion, daß sich Israels Sicherheit auf Waffengewalt stützen könne. Das ist jedoch eine Illusion, die immer wieder zu Desastern führen wird, wenn die Welt nicht entschieden dagegen protestiert. Dem muß sich der Teil Israels anschließen, der nicht zum Komplizen dieses Verbrechens werden will.

Dies gilt nicht nur innerhalb Israels. Auch im internationalen Kontext und namentlich in Hinsicht auf die westlichen Staaten wird sich, so dies nicht bereits geschehen ist, unweigerlich herausstellen, wer "zum Komplizen" dieser Verbrechen wird. Sollten die NATO- und EU-Staaten sowie die Vereinten Nationen, die allesamt die Vorgänge, die zum Tode der Passagiere führten, verurteilt haben, nicht dafür Sorge tragen, daß die "Rachel Corrie" und ihre Begleitschiffe unbehelligt den Gazastreifen erreichen können, steht ihre Komplizenschaft außer Frage.

Anmerkungen

[1] Angriff auf Gaza-Hilfskonvoi. USA warnten Israel vor Eskalation, Zeit Online (dpa, Reuters, AFP), 3. Juni 2010,
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/gaza-konvoi-usa-israel

[2] Hilfsgüter. Irisches Schiff nimmt Kurs auf Gaza, Zeit Online (dpa, AFP, Reuters), 2. Juni 2010,
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/gaza-israel-irland

[3] "Ein Schandfleck in der Geschichte meines Landes". Israels Angriff auf Gaza-Hilfsschiffe muß vor internationalem Gericht geahndet werden. Ein Gespräch mit Shulamit Aloni, von Raoul Rigault, junge Welt, 3. Juni 2010. S. 3

3. Juni 2010