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DILJA/1311: Keine Hilfe für Gaza - Israels Marine kapert das "Jüdische Schiff" (SB)


Israels Marine kapert Hilfsschiff auf dem Weg in den Gazastreifen

Hilfsaktion jüdischer Aktivisten als "provokativer Witz" verunglimpft


Mit Schulsachen, Musikinstrumenten, Fischernetzen und orthopädischen Prothesen beladen hatte sich am Sonntag im Hafen von Famagusta auf Zypern ein Segelschiff auf den Seeweg gemacht. An Bord des unter britischer Flagge segelnden Schiffes befanden sich neben der zehnköpfigen Besatzung jüdische Aktivisten aus mehreren westlichen Ländern (Deutschland, Britannien und den USA) sowie aus Israel selbst; sie wurden von zwei britischen Journalisten begleitet. Erklärtermaßen wollten die jüdischen Aktivisten mit dieser gegen die Blockade des Gazastreifens gerichteten Solidaritäts- und Hilfsaktion demonstrieren, daß nicht alle Juden mit dieser Politik Israels einverstanden sind. Organisiert wurde die Fahrt maßgeblich durch die in Deutschland beheimatete Organisation "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" und die britische Gruppe "Jews for Justice for Palestinians" (JFJFP).

Sollte noch immer irgendwo auf der Welt die Auffassung vertreten werden, es handele sich bei dem Nahostkonflikt im allgemeinen oder der israelischen Besatzungspolitik gegen die Palästinenser um einen orginär religiösen Konflikt, so liefert das weitere Geschehen genügend Anhaltspunkte, um diese Annahme einer konkreten Überprüfung zu unterziehen. Es befand sich an Bord des "jüdischen Schiffes" kein Mensch, dem aus israelischer Sicht eine wie willkürlich auch immer begründete Kollaboration mit dem Feind hätte unterstellt werden können. Unter den Passagieren waren Menschen, die überaus achtenswerte Mitglieder der israelischen Gesellschaft sind oder vielmehr sein müßten, hätten sie nicht den aus Sicht ihrer Regierung wie auch der führenden Eliten des Landes unverzeihlichen Fehler begangen, die Besatzungspolitik öffentlich zu kritisieren sowie ein Ende der Blockade des Gazastreifens zu fordern.

Unter den Passagieren befand sich neben einem israelischen Kampfpiloten auch der israelische Staatsbürger Rami Elchanan, der durch einen Selbstmordanschlag der Hamas im Jahre 1997 seine Tochter verloren hatte. Er begründete seine Teilnahme an dieser Solidaritätsaktion mit den Bewohnern des Gazastreifens damit, daß er zwar keinen Grund habe, die "Hamas zu lieben", aber doch die Auffassung vertrete: "Aber wenn wir nicht reden, wird dies niemals enden." [1] Doch dazu wird es nicht kommen. Die israelische Marine brachte das Segelschiff am heutigen Dienstag auf und schleppte es mitsamt seiner Passagiere in den Hafen von Ashdod. Bis auf 40 Kilometer hatte sich die "Irene", so der Name des jüdischen Hilfsschiffes, der Küste des Gazastreifens nähern können. Ein Sprecher des israelischen Militärs teilte mit, das Schiff sei ohne Zwischenfälle und ohne Gewaltanwendung aufgebracht worden, nachdem dessen Kapitän zuvor zwei Aufforderungen zum Umkehren ignoriert habe.

Ein Sprecher des Außenministeriums hatte diese unter dem Titel "Jüdisches Schiff nach Gaza - Zwei Völker, eine Zukunft" laufende Solidaritätskampagne als einen "provokativen Witz" bezeichnet. Ein "Witz" ist dies aus Sicht der Aktivisten und ihrer Unterstützer sicherlich nicht, wollen sie doch ihr Anliegen, gerade auch als Juden öffentlich und öffentlich sichtbar machen, daß die Politik des sich als jüdischer Staat definierenden Israels keineswegs die Zustimmung aller Juden findet.

Eine Provokation stellte diese Aktion für die herrschenden Kräfte Israels sowie ihre westlichen Verbündeten schon deshalb dar, weil weder der Schiffsbesatzung noch den Passagieren eine Unterstützung des "Terrorismus" unterstellt werden kann. Dies gehörte zu den erklärten Zielen der Aktivisten, wie einer der Passagiere, der 82jährige israelische Staatsangehörige und KZ-Überlebende Reuven Moskovitz, in einem vor der Abfahrt geführten und am heutigen Dienstag in der jungen Welt veröffentlichten Gespräch verdeutlichte. Auf die Frage, warum das "Jüdische Schiff" sich nicht der großen internationalen Flottille angeschlossen habe, die noch in diesem Jahr den Gazastreifen erreichen will, hatte Moskovitz erklärt [3]:

Wir sind eine Facette der vielfältigen Aktionen, die die Isolierung Gazas durchbrechen sollen, ich bin jedem dankbar, der sich daran beteiligt. Es hat mich sehr erschüttert, daß der internationalen Flottille, die Ende Mai von israelischen Soldaten so grausam überfallen wurde, unterstellt wurde, sie fördere den Terrorismus. Ich hoffe, daß es im Fall des "Jüdischen Schiffs" nicht so leicht möglich sein wird, der Öffentlichkeit solche absurden Verleumdungen aufzutischen.

Zu Anschuldigungen dieser Art hat sich das israelische Militär bislang zwar nicht hinreißen lassen, was jedoch nicht das Geringste an dessen Bereitschaft änderte, einen weiteren Bruch internationaler Bestimmungen zu begehen, indem ein Hilfsschiff gewaltsam an der Weiterfahrt gehindert und es mitsamt seiner Passagiere gegen deren Willen in einen israelischen Hafen verschleppt wurde. Das Begriffsverständnis der israelischen Marine, demzufolge keine Gewalt angewandt wurde, ist in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig. Wenn sich ein israelisches Kriegsschiff einem zivilen, unbegleiteten und militärisch wehrlosen Segelschiff nähert, stellt bereits diese Annäherung auch eine Androhung möglicher Gewalt dar insbesondere deshalb, weil die israelische Marine erst vor wenigen Monaten in einer vergleichbaren Situation neun internationale Gaza-Aktivisten getötet und im Anschluß daran nicht das geringste Einlenken gezeigt hat.

In einer von den Kampagnenbetreibern veröffentlichten "Botschaft der Solidarität" war Richard Kuper von der britischen Organisation "Jews for Justice for Palestinians" näher darauf eingegangen, warum die Aktivisten ihren Versuch, mit einem mit Hilfsgütern beladenen Schiff die Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen, zu einer gewaltfreien Aktion (ihrerseits, wie hinzuzufügen wäre) erklärt haben [4]:

Dies ist eine gewaltfreie Aktion. Unser Ziel ist es, nach Gaza zu gelangen, aber unsere Aktivisten werden sich auf keine gewalttätige Konfrontation einlassen. Sie werden den Israelis keinerlei Vorwand bieten, sie - mit welcher Begründung oder welchem Vorwand auch immer - zu überfallen oder Gewalt gegen sie anzuwenden.

Aus israelischer Sicht bedarf es der Begründung oder des Vorwands nicht, um ein ziviles Schiff zu kapern und entgegen der Absichten der gesamten Besatzung in einen israelischen Hafen zu schleppen. Dies macht ganz den Anschein, als wolle die israelische Regierung mit diesem provozierenden Vorgehen klarstellen, daß der unlängst veröffentlichte Bericht des UN-Menschenrechtsrats zum Angriff der israelischen Marine auf die internationale Hilfsflotte "Free Gaza" am 31. Mai sie nicht im mindestens beeindrucken oder zu Zugeständnissen veranlassen könnte.

In dem am 23. September in Genf veröffentlichten Bericht einer vom UN-Menschenrechtsrat beauftragten Untersuchungskommission war festgestellt worden, daß dieser Angriff "eindeutig rechtswidrig" gewesen ist. Israel habe, so der Bericht, "Kriegsverbrechen" begangen, "absichtlich getötet" und "nicht hinnehmbare Brutalität und Folter" [5] begangen. Mehr als 50 Menschen waren verschleppt und zum Teil schwer verletzt, neun sogar getötet worden, wobei die Umstände der Tötungen in sechs Fällen einer "willkürlichen Hinrichtung" geglichen hätten. Dem 56seitigen UN-Untersuchungsbericht zufolge, der auf Befragungen von über einhundert Zeugen in Genf, London, Istanbul und Amman beruht und daran krankt, daß Israel jegliche Kooperation bei seiner Erstellung sowie bei den ihm zugrundeliegenden Untersuchungen verweigerte, hat Israel bei der "völlig unnötigen" Erstürmung der Gaza-Flottille ein "unglaubliches Maß an Gewalt" angewandt.

In dem Bericht wurde desweiteren auch die "Rechtswidrigkeit der Seeblockade Gazas" festgestellt, was bis heute ohne politische Konsequenzen geblieben ist. Da die USA, die EU und die UN von ihrer Möglichkeit, gegen Israel Sanktionen zu verhängen, wegen der Seeblockade des Gazastreifens ebensowenig Gebrauch machen wie wegen des völkerrechtsswidrigen Siedlungsbaus, der nach Ablauf eines achtmonatigen Moratoriums in der Nacht von Sonntag auf Montag um Punkt Mitternacht demonstrativ und provokativ fortgesetzt wurde, steht ihre faktische Rückendeckung für die Politik Israels außer Frage.

Dies würde auch das Fehlen jeglicher Unterstützung seitens der betroffenen Regierungen für die eigenen Staatsangehörigen unter den Passagieren des "jüdischen Schiffes" erklären. Die deutsche wie auch die britische Regierung könnten angesichts des heutigen Vorfalls offiziellen Protest bei der israelischen Regierung einlegen und die unverzügliche Freigabe des Schiffes mitsamt seiner vollständigen Besatzung und aller Passagiere fordern, damit diese ihre durch das israelische Militär unterbrochene Fahrt in den Gazastreifen fortsetzen können.

Im Falle des KZ-Überlebenden Reuben Moskovitz, aber auch aller anderen, wäre dies ein politisches Zeichen, das eigentlich mit den hierzulande in Anspruch genommenen Werten in Deckung zu bringen ist. Würde es nicht gerade auch der deutschen Bundesregierung gut zu Gesicht stehen, in diesem Fall einem Holocaust-Überlebenden zur Seite zu stehen? Moskovitz hatte in dem bereits erwähnten Interview deutlich gemacht, daß sein heutiges Eintreten für die Palästinenser mit den Erfahrungen in Verbindung steht, die er selbst schon in seiner Kindheit hatte machen müssen [3]:

In Rumänien habe ich miterlebt, wie die einheimischen Faschisten damals mit den Nazis kollaborierten. Ich fand mich plötzlich in einem Getto wieder, ich habe buchstäblich meine Kindheit verloren. Schon früh wurde mir klar, daß ich mein Leben lang gegen Verfolgung, Unterdrückung und Diskriminierung kämpfen würde. Ich war 19 Jahre alt, als ich 1947 nach Israel auswanderte, ich lebte als zionistisch-sozialistischer Pionier dann in Galiläa in einem Kibbutz. Sehr bald wurde ich aber mit systematischen ethnischen Säuberungen konfrontiert, mit Massakern, Enteignung und Vertreibung unserer palästinensischen Nachbarn.

Wie könnte einem heute 82jährigen israelischen Staatsangehörigen, der sich in seinem Leben um den Aufbau des Staates Israels verdient gemacht und die Kibbuzbewegung aktiv unterstützt hat, seine kritische Haltung gegenüber der Gaza-Blockade sowie der israelischen Besatzungspolitik zum Vorwurf gemacht werden? Doch gerade weil stichhaltige Argumente hier wie auch in den übrigen Fällen jüdischer "Dissidenten" an der israelischen Staatsdoktrin weit und breit nicht zu finden sind, scheint die internationale Kooperation zugunsten Israels umso besser zu funktionieren.

Wäre dem nicht so, wäre kaum zu erklären, warum einem jüdischen Überlebenden der NS-Verfolgung, der aufgrund seiner eigenen Erfahrungen eine solidarische Haltung gegenüber den Palästinensern einnimmt, in der öffentlichen Diskussion hierzulande so wenig Beachtung entgegengebracht wird. Die von Reuben Moskovitz in den folgenden Sätzen bezogene Position scheint somit nicht nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland einer wenn auch inoffiziellen Staatsdoktrin entgegenzustehen [3]:

Israel hat sich im Nahen Osten zu einer Supermacht entwickelt, die den Palästinensern jede Selbstbestimmung vorenthält. Ich habe nie vergessen, wie in den 50er Jahren die ursprünglichen Bewohner des Landes vertrieben wurden. Viele von ihnen flohen damals nach Gaza, einem Küstenstreifen mit damals einigen zehntausend Bewohnern; heute sind es 1,5 Millionen - eingepfercht in diesen schmalen Landstreifen, der eher ein Gefängnis oder ein Getto ist. 1967 mußte ich in Ramallah als Soldat erleben, wie unsere Armee palästinensische Kinder drangsalierte - so etwas hatte ich ja in Rumänien am eigenen Leib erlebt.

Anmerkungen

[1] Gaza-Solidaritätsschiff ohne Gewalt gestoppt, Jüdische Aktivisten und Holocaust-Überlebender an Bord der "Irene", Der Standard, 28.09.2010,
http://derstandard.at/1285199440489/Gaza-Solidaritaetsschiff-ohne-Gewalt-gestoppt

[2] Gaza-Schiff ohne Blutvergießen gestoppt, Hamburger Abendblatt, 28.09.2010,
http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1645707/Gaza-Schiff-ohne-Blutvergiessen-gestoppt.html

[3] "Das Gesicht des humanen Judentums zeigen". Das "Jüdische Schiff" ist mit Hilfsgütern nach Gaza unterwegs. Gespräch mit Reuven Moskovitz, von Sophia Deeg, junge Welt, 28.09.2010, S. 8

[4] Botschaft der Solidarität. Erklärung der Kampagne "Jüdisches Schiff nach Gaza - Zwei Völker, eine Zukunft", nachgedruckt in der jungen Welt, 28.09.2010, S. 8

[5] Unglaubliches Maß an Gewalt. Bericht des UN-Menschenrechtsrats zum israelischen Angriff auf die Gaza-Flottille, von Karin Leukefeld, junge Welt, 24.09.2010, S. 6

28. September 2010