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DILJA/1348: Afghanistan uneroberbar - USA suchen Ausweg aus selbstgestellter Falle (SB)


Droht den USA "ihr zweites Vietnam" am Hindukusch?

Truppenrückzugsankündigung als taktischer Schachzug in einem unauflösbären und selbstgestrickten Dilemma


Unter Experten und Historikern mag die Frage umstritten sein, wie es der kapitalistischen Staatenwelt zum Ausklang des vorigen Jahrhunderts nach der jahrzehntelangen, unter Einsatz aller Mittel geführten Systemauseinandersetzung mit der sozialistischen Herausforderung in Gestalt der realexistierenden Sowjetunion und ihrer Trabanten gelingen konnte, diese für sich zu entscheiden. Über die Frage, welche Faktoren auf innen- wie außenpolitischer und selbstverständlich auch wirtschaftlicher und militärischer Ebene dazu geführt haben mögen, daß die einstige Supergegenmacht Sowjetunion 1989/90 vergleichsweise geräuschlos von der Weltbühne verschwand, könnte noch viel und kontrovers diskutiert werden. Die Annahme allerdings, daß der Krieg, den die Sowjets von 1980 bis 1988 in bzw. gegen Afghanistan führten, mitscheidend für die weitere Schwächung und schließlich Implosion des einst größten Vielvölkerstaates auf der eurasischen Landmasse gewesen sein könnte, weist einen hohen Grad an Plausiblität auf.

Wäre dem so gewesen, könnte sich ein renommierter US-Stratege dies als sein besonderes Verdienst ans Revers heften. Gemeint ist Zbigniew Brzezinski, eine der grauen Eminenzen der US-Geostrategie, der zwischen 1977 und 1981 als Berater für den damaligen US-Präsidenten James Carter tätig war. In diese Zeit fiel der Beginn der militärischen Intervention der Sowjetunion in dem Land am Hindukusch, das nun für die USA zu einem "zweiten Vietnam" zu werden droht. Brzezinskis Idee bestand seinerzeit darin, die Sowjetunion in die "afghanische Falle" zu locken, um ihr "ihr Vietnam" zu bescheren [1].

Was es damit auf sich hat, ist schnell erläutert. Die Afghanen sind eines der wenigen Völker weltweit, das sich niemals fremden Eindringlingen unterworfen und deren Besatzung akzeptiert hat. Afghanistan ist ein für ausländisches Militär äußert schwer, wenn überhaupt, zu kontrollierendes Land, was keineswegs nur an den geographischen Bedingungen liegt, die die mit ihnen vertrauten Einheimischen sich zu nutze zu machen verstehen. Die afghanische Gesellschaft ist keineswegs, auch wenn ihr westliche Politikmodelle aufgenötigt wurden, zentral hierarchisch strukturiert, sondern hält eine Stammeskultur am Leben, die die wichtigsten Entscheidungen auf einer Versammlung, der Loja Dschirga, trifft. An der Spitze des Staatsapparates scheint ein Präsident zu stehen, dem wahlweise Führungsschwäche oder seine Ergebenheit gegenüber den Besatzern vorgeworfen werden. Doch wie auch immer es um den Leumund und tatsächlichen Einfluß Hamid Karsais bestellt sein mag, wird er nicht grundlos, wenn auch spöttisch "König von Kabul" genannt. Damit soll zum einen angedeutet werden, daß er bzw. seine "Regierungsfähigkeit" von der Militärpräsenz ausländischer Okkupatoren in Kabul abgeleitet ist und zum anderen, daß es eine Staatsstruktur, von deren vermeintlicher Spitze aus er (oder ein anderer Amtsinhaber) tatsächlich die Politik des ganzen Landes bestimmen könnte, nicht existiert.

Ob die afghanischen Besatzungsgegner, die auch nach zehnjähriger Anwesenheit ausländischer Truppen nicht bereit sind, diese im Land zu akzeptieren, nun als "Taliban" bezeichnet oder gar zwecks ihrer weiteren Dämonisierung der eher phantomhaften "Al Kaida" zugeschlagen werden, vermag das militärisch ebensowenig lösbare Problem, den Besatzungswiderstand zu brechen, nicht zu bewältigen. Zbigniew Brzezinski mag vor über dreißig Jahren auf der Basis recht präziser Kenntnisse über das Land und die tatsächlichen sozialen Strukturen seiner Bewohner zu der Einschätzung gekommen sein, daß die Sowjetunion ungeachtet ihrer militärtechnologischen Überlegenheit hier in ein Dilemma geraten würden, so sie sich ersteinmal auf diesen Krieg eingelassen haben, aus dem es kein Entrinnen ohne schwerwiegende Schäden geben würde. Diese Rechnung könnte aufgegangen sein, die Sowjetunion konnte diesen Krieg nicht gewinnen, wenn unter "gewinnen" verstanden wird, die Verhältnisse in Afghanistan so sehr zu befrieden, daß nicht einmal eine weitere Militärpräsenz erforderlich ist, um die gewaltsam geschaffene Ordnung aufrechtzuerhalten.

Erstaunlich wäre dann allerdings, warum die US-amerikanische Regierung Jahrzehnte später in dieselbe Falle getappt ist, die ihr eigener Stratege, wenn man denn so will, zuvor mit Erfolg der Sowjetunion gestellt hat. Oder waren die Begehrlichkeiten und strategischen Sachzwänge, denen die damalige Bush-Regierung, die diesen Krieg in unmittelbarer Folge auf 9/11 begann, folgen zu müssen glaubte, so groß, daß diese Gefahr nicht gesehen oder nicht ernstgenommen wurde? In Washington hätte man wissen können und müssen, daß in Afghanistan fremde Soldatenstiefel nicht akzeptiert werden, ganz gleich, wo sie herkommen und wie die Beweggründe, Rechtfertigungen oder Versprechungen sein mögen, die mit ihnen ins Land getragen wurden. Nun steht die westliche Kriegsallianz fast zehn Jahre am Hindukusch und damit schon etwas länger, als die Sowjetunion bis zu ihrem vollständigen Rückzug gebraucht hat.

Westliche Militärexperten erklären hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand schon seit vielen Jahren, daß dieser Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist und daß es bestenfalls eine Frage der Zeit sei bis zum Rückzug der Besatzungstruppen. Über die "Taliban" wurde von westlichen Diplomaten, die zuvor mit ihnen in Kontakt gestanden hatten, auch schon vor längerer Zeit berichtet, daß sie sich völlig sicher seien, diesen Krieg bereits gewonnen zu haben, auch wenn dies ihren Gegnern noch nicht bewußt geworden sei, weshalb sie nicht zu Verhandlungen bereit seien und bestenfalls mit sich darüber reden ließen, ob sie ihren Gegnern, falls gewünscht, bei ihrem Rückzug freies Geleit gewähren würden. US-Präsident Obama hingegen setzte bei seinem Amtsantritt im Januar 2009 voll und ganz auf die Offensivkarte; er glaubte augenscheinlich, mit militärischer Stärke und noch mehr Truppen als zuvor die zu diesem Zeitpunkt schon recht aussichtslose Lage in ihr Gegenteil verkehren zu können.

Die Zahl der in Afghanistan stationierten US-Truppen stieg in der Regierungszeit eines Friedensnobelpreisträgers von 31.000 im Januar 2009 auf derzeit rund 100.000 Soldaten. Diese Verdreifachung der US-Truppenstärke hat jedoch neben ebenfalls massiv gestiegenen Zahlen eigener Kriegstoter und -verletzter sowie nahezu bodenloser Kriegskosten keine Erfolge gezeitigt in Hinsicht auf die beabsichtigte Befriedung des Landes. Inzwischen ist die US-amerikanische Bevölkerung Umfragen zufolge zu zwei Dritteln gegen den Afghanistankrieg; drei Viertel verlangen einen deutlichen Truppenrückzug. Da die kriegsbedingten Kosten auch zu einem sozialen Krieg, sprich einer massiven Zusammenstreichung der Sozialausgaben geführt hat, ist die Kriegsmüdigkeit der amerikanischen Bevölkerung bereits so weit gediehen, daß Präsident Obama die Reißleine zu ziehen versucht.

Seine Ankündigung, die Truppen in Afghanistan von Juli bis Dezember des laufenden Jahres um 10.000 und im kommenden Jahr um 23.000 zu reduzieren und diesen Prozeß auch darüber hinaus fortzusetzen, ist alles andere als eine tatsächliche oder auch nur baldmöglichste Beendigung dieses militärischen Desasters. Ob diese Maßnahmen, die die Truppenstärke in absehbarer Zeit noch nicht einmal auf das Vor-Obama-Niveau zurückbringen, geeignet sind, ihre ordnungspolitische Funktion in den USA zu erfüllen, muß unterdessen bezweifelt werden. Die US-Offiziellen sind damit beschäftigt, den ihrem Land drohenden oder bereits eingetretenen Gesichtsverlust klein- oder wegzureden. So erklärte der Ende diesen Monats aus dem Amt scheidende Verteidigungsminister Robert Gates, daß die mit den Taliban aufgenommenen Gespräche nicht bedeuteten, daß die USA ihre Kampfhandlungen einschränken würden. Gegenüber dem US-Fernsehsender CNN behauptete Gates, er habe den Eindruck, daß die Taliban den militärischen Druck spüren und den Eindruck gewinnen müßten, daß sie nicht siegen können, bevor sie bereit seien zu ernsthaften Verhandlungen.

Umgekehrt könnte vielleicht ein Schuh draus werden und könnte in Washington von einer ernsthaften Verhandlungsbereitschaft die Rede sein. Bereits Anfang Juni hatte Gates erklärt, daß er sich noch in diesem Jahr eine Art politischer Gespräche mit den Taliban vorstellen könne, nur um dann hinzuzufügen, daß diese die vollständige Unterwerfung der Taliban voraussetzen würde. Sie hätten die afghanische Verfassung zu akzeptieren, ihre Waffen niederzulegen und zu bekennen, daß sie diesen Krieg nicht gewinnen könnten. Kurz gesagt bekundete der amerikanische Verteidigungsminister nichts anderes als die Bereitschaft der Obama-Regierung, im Falle einer vollständigen und bedingungslosen Kapitulation ihrer Gegner im Afghanistankrieg zu verhandeln. Eine Realitätsanbindung scheint diese Offerte nach allem, was über diesen Krieg bekannt geworden ist, allerdings nicht zu haben, und so ist die den USA drohende Gefahr eines "zweiten Vietnams" weder gebannt noch besänftigt.



Anmerkungen

[1] Die Welt als Schachbrett. Der neue Kalte Krieg des Obama-Beraters Zbigniew Brzezinski (Teil I), von Hauke Ritz, junge Welt, 28.06.2008, S. 10

24. Juni 2011