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DILJA/1361: Abgang der Generäle - Kein Jubel in den NATO-Staaten über Demokratisierung der Türkei (SB)


Nach dem Rücktritt der Generäle

Ist die Macht des "tiefen Staates" in der Türkei tatsächlich gebrochen?


Seit 1952 ist die am 29. Oktober 1923 als Republik mit säkularen Staatsprinzipien ausgerufene Türkei Mitglied der NATO und nahm seitdem im westlichen Militärbündnis aufgrund ihrer geopolitischen Lage wie auch der Größe ihres Heeres eine nicht unwesentliche Rolle ein. Lange Zeit fungierte die Türkei als wichtigster Vorposten, militärischer Brückenkopf und Stützpunkt in Hinsicht auf den gesamten Raum des Nahen und Mittleren Ostens, und so beruhte die Integration der Türkei, einem zu 99,9 Prozent muslimischen Land, in die westliche Sicherheits- und Hegemonialstruktur auf einer dieser Funktionszuweisung entsprechenden Nützlichkeit und keineswegs einer hohen politischen und sozialen Verwandtschaft zu den übrigen NATO-Staaten. Die Türkei war und blieb aus Sicht ihrer angeblichen Partner, die die vermeintliche Suprematie des christlichen Abendlandes immer als Mandat und Befähigung zur Inanspruchnahme globalhegemonialer Verantwortung gedeutet haben, stets ein Kellerkind, wovon die unendliche Geschichte ihrer EU-Beitrittskandidatur eine eigene Sprache spricht.

Mit dem Amtsantritt des als konservativ-islamisch geltenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im Jahre 2002 allerdings setzte, zunächst auf recht leisen Sohlen, eine Entwicklung ein, die den türkischen Staat in seinen latent vorhandenen militärdiktatorischen Grundfesten zu erschüttern drohte und am vergangenen Freitag mit dem Rücktritt der türkischen Militärführung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Allem Anschein nach hat die alte kemalistische Elite in Staat und Militär die Auseinandersetzung mit den gemäßigt-islamischen Kräften um Erdogan und seine AKP auf ganzer Linie verloren und mit diesem Rücktritt der militärischen Führung ihre politische Kapitulation erklärt. Generalstabschef Isik Kosaner gab zur Begründung für diesen Schritt in einer Abschiedserklärung an seine "Waffenbrüder" an, daß es ihm nicht länger möglich sei, im Amt zu bleiben, weil er sich außerstande sähe, die Rechte jener Männer zu verteidigen, die infolge eines seiner Meinung nach fehlerhaften Rechtsverfahrens inhaftiert seien.

Dem Generalstabschef schlossen sich die Befehlshaber der Teilstreitkräfte Marine, Heer und Luftwaffe an; einzig der Oberkommandierende der paramilitärischen Gendarmerie, General Necdet Özel, blieb im Amt und wurde wenig später von Ministerpräsident Erdogan sowie dem parteilosen, der AKP jedoch nahestehenden Staatspräsidenten Abdullah Gül kommissarisch zum neuen Generalstabschef ernannt. Kosaners Begründung verweist auf die hohe Zahl inhaftierter Offiziere. So sind in der Türkei, und dies stellt eine in der Geschichte des Landes absolut einmalige Entwicklung dar, rund 250 Militärs, unter ihnen 40 aktive Generäle und Admiräle, in Untersuchungshaft wegen des Vorwurfs, an Putschvorbereitungen gegen die Regierung beteiligt gewesen zu sein. Unmittelbarer Auslöser des geschlossenen Rücktritts des bisherigen Generalstabs am vergangenen Freitag war die Bitte Kosaners an Ministerpräsident Erdogan, die Dienstzeit inhaftierter Generäle zu verlängern, was dieser ablehnte.

Nun ließe sich die seit 2002 schwelende Auseinandersetzung zwischen Regierung und Militär als innenpolitische Angelegenheit der Türkei einstufen und womöglich abhaken, wäre da nicht die aus Sicht der übrigen NATO-Staaten peinliche, weil entlarvende Frage nach dem Demokratiegehalt der türkischen Republik. Bereits vier Mal - 1960, 1971, 1980 und 1997 - hat das Militär in der Türkei geputscht und die innenpolitischen Verhältnisse mit zum Teil extrem gewaltsamen Mitteln nach ihren Vorstellungen gestaltet. Proteste aus den befreundeten NATO- und EU-Staaten blieben aus. Nicht wenige der gewaltsamen Umstürze gegen demokratisch gewählte Regierungen dienten hier dem Zweck, die dem Land seitens des Internationalen Währungsfonds (IWF) gestellten und an die Vergabe weiterer, dringend benötigter Kredite geknüpften Bedingungen durchzusetzen. Sie richteten sich gegen die Bevölkerung, die gegen die Zurücknahme von Nahrungsmittelsubventionen protestierte, sowie gegen linke und fortschrittliche Parteien und Organisationen.

Der letzte Putsch - 1997 - war demgegenüber ein "weicher", und richtete sich gegen den politischen Vorläufer Erdogans, den ebenfalls gemäßigt-islamischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, der sich angesichts der Putschandrohung genötigt sah, ein Papier zu unterzeichnen, das es dem Militär erlaubte, ohne Aufforderung und damit Legitimation der Regierung in einer "Krise" militärisch einzugreifen. Im Klartext bedeutete dies, was schon zuvor eine Tatsache war, über die im befreundeten westlichen Ausland gern Stillschweigen bewahrt wurde: Die Türkei ist eine de-facto-Militärdiktatur, in der solange Demokratie gespielt werden konnte, wie die parlamentarischen Akteure sowie die jeweiligen Regierungen sich an die vom Militär in Gestalt des Nationalen Sicherheitsrates gesetzten Grenzen hielten.

Die kemalistische Staatsdoktrin, die vom Militär, das sich als deren Hüterin verstand bzw. ausgab, zum höchsten Wert erklärt wurde, hinter dem jede tatsächliche oder auch nur vermeintlich abweichende Position selbst dann, wenn sie von einer demokratisch gewählten Regierung vertreten wird, zurückzustehen habe, steht nun durch die aktuelle Entwicklung womöglich in Frage. Eine tatsächliche Katastrophe wäre dies beileibe nicht, und so ist in ersten Kommentaren bereits von der nun eingesetzten Demokratisierung der Türkei die Rede. Dies ist so begründet wie zutreffend angesichts dessen, daß das Primat der Politik in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein müßte. Sollte der aktuelle Machtwechsel am Bosporus tatsächlich dazu führen, daß das Militär und dessen Führung bedingungslos die Vorgaben und Befehle der politischen Führung anerkennen und ausführen, wäre damit zugleich ein Zustand beendet, den es in einem Staat, der beansprucht, eine Demokratie zu sein, niemals hätte geben dürfen.

Aus naheliegenden Gründen sind Jubelrufe aus den NATO-Staaten bislang ausgeblieben. Das Phänomen des sogenannten "tiefen Staates", wie die irregulären und demokratisch nicht legitimierten Strukturen innerhalb der türkischen Republik genannt werden, die "eigentlich das Sagen haben", könnte bereits der Geschichte angehören, was für die NATO-Staaten einen womöglich in seinen Ausmaßen schwer auszulotenden Verlust an Einflußnahme auf die Türkei bedeuten könnte. Die jetzigen Enthüllungen, die keineswegs wirklich neu sind, weil dementsprechende Ermittlungen der türkischen Justiz bereits seit Jahren geführt werden, werfen ein schlechtes Bild auf die gesamte NATO, der es schwerlich entgangen sein könnte, daß in einem ihrer Mitgliedsstaaten das Militär der eigentliche Regent ist und von seiner Macht auch schon oft Gebrauch gemacht hat. So heißt es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beispielsweise [1]:

"Ergenekon" wird von vielen in Zusammenhang mit dem "tiefen Staat" (derin devlet) gebracht, das heißt mit klandestinen Strukturen, die im Untergrund Bestrebungen der Regierung bekämpfen und sabotieren - eine Mischung von Staatsdienern, Armeeangehörigen und mafiosen Elementen, die insgeheim zusammenarbeiten. Schon seit den neunziger Jahren wird vom "tiefen Staat" gesprochen. Äußerungen auf Internetseiten und Dokumente, die der Justiz in den vergangenen Monaten bekannt wurden, sollen belegen, dass es sich etwa bei dem Plan "Vorschlaghammer" nicht nur um das Dispositiv für ein Militärmanöver, sondern um einen regelrechten Putschplan gehandelt habe, in den Teile der hohen Militärs verwickelt gewesen seien. Dabei sei es um den Sturz der AKP und Erdogans gegangen.

Ministerpräsident Erdogan begründete das entschlossene Vorgehen seiner Regierung, den Einfluß des Militärs zurückzudrängen, unter anderem auch damit, auf diese Weise die Türkei für die Aufnahme in die EU fit zu machen. Da der islamische Politiker jedoch auch in vielen anderen außenpolitischen Bereichen eine Eigenständigkeit an den Tag gelegt hat, mit der er sich in der EU wie auch gegenüber den USA kaum Freunde gemacht haben dürfte, steht nicht zu erwarten, daß die Europäische Union die "neue" Türkei nun in ihren Reihen als Vollmitglied aufnehmen wird. Die Beziehungen könnten sich eher weiter abkühlen, womit sich, sozusagen im nachhinein, erweisen würde, daß der "tiefe Staat" in der Türkei, sprich die heimliche Herrschaft des Militärs, ganz im Sinne und Interesse ihrer westlichen Partner war.

Anmerkungen

[1] Türkei - Eine anatolische Machtprobe. Von Wolfgang Günter Lerch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Juli 2011.
http://www.faz.net/artikel/C31325/tuerkei-eine-anatolische-machtprobe-30476965.html


1. August 2011