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DILJA/1370: Schlimmer als zu Mubaraks Zeiten - Schüsse auf Demonstranten in Ägypten (SB)


Der Revolutionsbegriff wurde vom Obersten Militärrat vollständig für seine Zwecke instrumentalisiert


Als vor einem knappen Jahr eine Protestbewegung ausgehend von Tunesien auch in Ägypten innerhalb weniger Wochen ein Potential erreichte, das die herrschenden Eliten offensichtlich davon überzeugte, nicht nur wie gewohnt die Peitsche, sondern auch ein Zuckerbrot herauszuholen, weil andernfalls eine von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragene und vorangetriebene Revolution die alte Ordnung vollständig hinwegenfegen könnte, geschahen Dinge, die den Schwung der Tahrir-Revolutionäre tatsächlich zum Erlahmen brachten. Der Rücktritt Präsident Hosni Mubaraks war das größte Präsent, das den Protestierenden, von denen viele zum ersten Mal überhaupt die Erfahrung gemacht hatten, gegen die erstarrten Verhältnisses etwas ausrichten zu können, gemacht wurde. Dieser Rücktritt wurde im ganzen Land gefeiert, Revolutionseuphorie machte sich breit, weil nach den langen Jahrzehnten der Mubarak-Diktatur nun der Geschmack von Freiheit und sozialem Fortschritt in der Luft und zum Greifen nah lag.

In diesen turbulenten Tagen und Wochen störten sich zunächst die wenigsten AktivistInnen an der Tatsache, daß die Militärführung, anscheinend mit großer Selbstverständlichkeit, in dieser Situation die Macht im Staate an sich gerissen hatte. Gegen diesen Schritt regte sich zunächst nicht der geringste Widerstand, hatten es die Militärs doch verstanden, sich so zu präsentieren, daß sie als stützende Kraft, um nicht zu sagen als Hüterin der Revolutions- bzw. Demokratiebewegung wahrgenommen wurde. Volk und Armee Hand in Hand, lautete eine in der Demokratiebewegung weitverbreitete und weitgehend akzeptierte Parole. Da die meisten Protestierenden einen Bruder, Freund oder Bekannten in der Armee haben und die Militärführung in den turbulenten Tagen der Januar-Revolution großen Wert darauf legte, sich volksnah zu geben, so als wäre auch sie Teil einer nationalen Befreiungsbewegung, konnte eine Machtergreifung durch den Obersten Militärrat ("Supreme Council of the Armed Forces" - SCAF) durchgesetzt werden, der das zarte Pflänzchen "Demokratie" schon im Ansatz zertrat.

Es sollte jedoch etliche Monate und gezielt geförderte Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen, die sich im Kampf gegen Mubarak noch einig gewesen waren, dauern, bis das demokratiefreundliche Gewand, das die Militärführung sich angelegt hatte, unter dem Eindruck schießender Sicherheitskräfte und brutalster Polizeieinsätze wieder zerriß. Längst sind die Menschen wieder auf den Straßen, längst ist der Tahrir-Platz in Kairo wieder zum Zentrum ihrer Proteste gegen die Staatsführung geworden. Die Parolen ähneln denen der Januar-Revolution, nur daß nicht der Weggang Mubaraks, sondern die Entmachtung von Feldmarschall Hussein Tantawi, dem Chef des Obersten Militärrats, gefordert wird. Vor wenigen Wochen, kurz vor Beginn der ersten in der Nach-Mubarak-Ära durchgeführten Wahlen, war es bereits zu massivster Repression seitens der Sicherheitskräfte gekommen.

Mindestens 42 Menschen hatten dabei den Tod gefunden, die Zahl der Verletzten wird auf dreitausend geschätzt. Kern der Kritik war die an den Obersten Militärrat gerichtete Forderung der Demokratiebewegung, die Macht an eine zivile Regierung abzugeben. Am 19. November waren Militär und Polizei mit äußerster Gewalt gegen AktivistInnen vorgegangen, die den Tahrir-Platz abermals besetzen wollten. Die Repression mobilisierte jedoch abermals weitere Menschen, die auf die Straßen strömten, um "ihre" Revolution oder das, was davon noch übriggeblieben war, gegen die Sicherheitskräfte des alten und neuen Regimes zu verteidigen. Einem Bericht Amnesty Internationals [1] konnte jeder, der es wissen wollte, in dieser Zeit entnehmen, daß die Repression im angeblich neuen Ägypten sogar noch viel schlimmer geworden war als zu Zeiten des Despoten Mubarak.

12.000 (!) Zivilisten waren seit dem Sturz Mubaraks vor Militärgerichte gestellt worden. Ihnen wurden "Verbrechen" wie rücksichtsloses Verhalten, Mißachtung der Ausgangssperre, Sachbeschädigung oder Beleidigung der Armee vorgeworfen. "SCAF hat Tausende Zivilisten vor Militärgerichte gestellt, friedliche Demonstranten attackiert und Mubaraks Notstandsgesetz ausgeweitet. Damit hat er die repressive Herrschaft fortgesetzt, gegen die die Gegner Mubaraks so hart angekämpft haben", erläuterte Philip Luther, der Amnesty-Direktor für Nahost und Maghreb, die Entwicklung in Ägypten. [2] Nun sollte es sich bitter rächen, daß die ägyptische Demokratiebewegung geglaubt hatte bzw. sich hatte weismachen lassen, daß das Militär mit ihr in einem Boot säße. Vor einem Monat, als die am 28. November begonnenen Wahlen bevorstanden, zeichnete sich dann überdeutlich ab, was von einer Revolution von Gnaden der Militärführung tatsächlich zu halten ist.

Der SCAF wollte in die neue Verfassung weitreichende Rechte für das Militär hineinschreiben (lassen) und diesem eine Position einräumen, in der es ungehindert von jeder zivilen Regierung oder juristischen Instanz agieren kann. Mit anderen Worten: Er beanspruchte die Macht im Staate für sich. Mit Demokratie - um von dem ohnehin überstrapazierten Revolutionsbegriff gar nicht erst zu reden - hat all dies selbstverständlich nicht das Geringste zu tun, und so konnte es gar nicht ausbleiben, daß die Menschen, die glaubten, Mubarak davongejagt zu haben, abermals auf die Straßen gingen, um nun auch ebenso vehement und definitiv den Rücktritt des Obersten Militärrats zu fordern. Die Militärführung hatte das "Revolutions"-Versprechen, nur für eine Übergangszeit für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, gebrochen und ließ wissen, daß sie dies nur als Empfehlung, jedoch nicht als bindende Richtschnur, verstanden habe.

Die ägyptische Bevölkerung hat dies ungeachtet ihrer zum Teil unterschiedlichen und gegensätzlichen politischen wie religiösen Auffassungen jedoch auch "verstanden". Dem Land steht das Erwachsen einer abermaligen Massenbewegung bevor, und abermals sind die zumeist jungen AktivistInnen nicht bereit, der massiven Gewalt zu weichen. Nach der Eskalation Ende November ist es in den vergangenen Tagen abermals zu schwerwiegenden Vorfällen gekommen. Am 16. Dezember hatten sich Demonstranten in Kairo versammelt, um gegen die Regierung - die Armee hatte, um sich ein "ziviles" Gesicht zu verleihen, Kamal Al-Ganzouri als Ministerpräsidenten eingesetzt - zu protestieren. Al-Ganzouri jedoch ist ein "alter Bekannter", war er doch bereits zwischen 1996 und 1999 unter Mubarak als Ministerpräsident tätig gewesen. Alter Wein in alten Schläuchen, denn offenbar kann der Oberste Militärrat, um seine Macht zivil abzufedern, Gewährsleute nur unter ehemaligen Mubarak-Vertrauten finden mit der Folge, daß nun die Protestbewegung auch die Ablösung dieses Ministerpräsidenten fordert und die Übergabe der Macht an eine demokratisch legitimierte Regierung.

Und obgleich dies eine Forderung ist, die unter demokratischen Staaten eine kaum der Erwähnung bedürfende Selbstverständlichkeit sein müßte, bleiben ganz im Gegensatz zu der höchst turbulenten Entwicklung im Januar und Februar dementsprechende Forderungen oder Unterstützungsmaßnahmen für die Demokratiebewegung seitens westlicher Staaten und Institutionen vollständig aus. Über die aktuellste Entwicklung wird in der internationalen Presse zudem kaum berichtet, so als wäre ein Banner des Schweigens über Ägypten gelegt worden. Besonders makaber mutet die Haltung der westlichen Welt angesichts der jüngsten Toten und Verletzten an, die der Erwähnung nicht für wert befunden werden. Der Oberste Militärrat nimmt für sich in Anspruch, gegen die Proteste vorzugehen, weil diese "die Revolution" zerstören wollen würden, weshalb er mit allen Mitteln die staatlichen Institutionen zu schützen habe.

Mindestens 13 Menschen sollen in den zurückliegenden vier Tagen auf dem Tahrir und in den umliegenden Straßen getötet worden sein. Auf unbewaffnete Zivilisten wird mit scharfer Munition geschossen, die Sicherheitskräfte gehen rigoros mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Die Schallmauer des internationalen Desinteresses vermochten jedoch nur Bilder und Berichte von gewaltsamen Übergriffen gegen Frauen zu durchbrechen, woraufhin sich die Armeeführung zu einer "Entschuldigung" veranlaßt sah. US-Außenministerin Hillary Clinton hatte in diesem Zusammenhang von einer "Entehrung der Revolution" gesprochen und damit zu verstehen gegeben, daß die Militärführung nach Ansicht Washingtons die Rolle der selbsternannten Revolutionshüter zu spielen und dabei lediglich auf eine Weise vorzugehen habe, die es den westlichen Staaten nicht so schwermacht, ihre Kooperation mit dem alt-neuen Regime in Ägypten zu festigen.

Anmerkungen

[1] http://www.amnesty.org/en/region/egypt

[2] http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105961


22. Dezember 2011