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DILJA/1371: Wie von neuen kalten Kriegern bestellt - Betrugsvorwürfe zur russischen Dumawahl (SB)


Auf nach Moskau! Verzahnte Mobilisierung offizieller wie inoffizieller Organisationen


"Massenproteste" und "Wahlmanipulationen" - diese Stichworte reichen aus, so sie mit den russischen Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 in Verbindung gebracht werden, um jeden Konsumenten herrschaftskonformer wie paßförmiger Medien und willfähriger Zuträger regierungsamtlicher und -halbamtlicher Verlautbarungen in dem zu bestätigen, was in den Schaltzentralen der führenden westlichen Staaten schon zuvor gemutmaßt worden war: Der Wahlsieg der Regierungspartei "Geeintes Rußland", die zwar mit den 77 ihr verlorengegangenen Parlamentssitzen ihre verfassungsändernde Zweidrittel-Mehrheit verloren und mit 283 Stimmen bzw. 49,5 statt 64 Prozent im Jahr 2007 stärkste Fraktion geblieben ist, beruhe auf Wahlbetrug. Die simple Frage, warum, wenn sich das Putin/Medwedew-Lager diesen knappen Sieg selbst gezimmert haben soll, es sich nicht gleich wieder eine weitaus komfortablere Zweidrittelmehrheit verschafft haben sollte, wird in den westlichen Medien ebensowenig aufgeworfen wie zu beantworten gesucht.

Sieben Parteien waren zur Duma-Wahl zugelassen worden. Vier von ihnen werden im Parlament vertreten sein - neben der Regierungspartei "Geeintes Rußland", die laut offiziellem Wahlergebnis auf 49,5 Prozent gekommen ist, sind dies als zweitstärkste Fraktion die kommunistische KPRF (19,16), die sozialdemokratische Partei "Gerechtes Rußland" (13,22) sowie die liberaldemokratische Partei um Wladimir Schirinowski (22,66). Am Tag nach der Wahl wurden von allen Oppositionsparteien Betrugsvorwürfe gegen die Regierungspartei erhoben, unterlegt mit im Internet veröffentlichten Video- und Fotoaufnahmen. Präsident Dmitri Medwedew erklärte die Stimmenverluste der Regierungspartei mit der gewachsenen Unzufriedenheit der Wähler im Zuge der weltweiten Finanzkrise.

Am 6. Dezember forderte er die Wahlbehörde auf, sämtliche Unregelmäßigkeiten aufzuklären und warnte zugleich davor, die im Internet kursierenden Videos für unumstößliche Beweise für die Wahlbetrugsvorwürfe zu halten. "Derartige Beweise erlauben keine Rückschlüsse auf Fairneß oder Unfairneß der Wahlen", so Medwedew, der in diesen Beweisen "im besten Fall Anlaß für eine Überprüfung und im schlimmsten Fall Provokationen" [1] sieht. In seiner traditionellen Jahresbotschaft vor beiden Duma-Kammern schlug der Präsident am 22. Dezember politische Reformen vor, so die Direktwahl der Gouverneure, eine Vereinfachung der Parteienregistrierung sowie die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Senders, der weder vom Staat noch von privaten Investoren kontrolliert werden könne. Mit diesen Maßnahmen sucht die russische Führung allem Anschein nach den landesweiten Protesten die Spitze zu nehmen.

Doch nicht nur innerhalb Rußlands, auch auf dem internationalen Parkett wurden anläßlich der Duma-Wahl bzw. der Wahlbetrugsvorwürfe konträre Positionen bezogen. Internationale Wahlbeobachter der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) hatten am Tag nach der Wahl erklärt: "Die Wahl war gut organisiert, aber die Qualität des Prozesses hat sich während der Auszählung deutlich verschlechtert." [2] Den OSZE-Beobachtern zufolge, die 115 Wahlbüros überprüften, habe es "häufige Verfahrensverletzungen und Fälle offensichtlicher Manipulierung" gegeben. Wahlbeobachter aus den Staaten der heutigen "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) trafen hingegen die Feststellung, daß die Dumawahl im großen und ganzen gültigen Standards Rechnung getragen habe. Die Verstöße hätten lediglich technischen Charakter und hätten sich nicht auf das Abstimmungsergebnis ausgewirkt. [2]

Wenn man denn so wollte, steht nicht nur innerhalb Rußlands, sondern auch international in der Frage der Wahlbetrugsvorwürfe "Aussage gegen Aussage" oder "Standpunkt gegen Standpunkt". Würden gegen einen westlichen Staat in vergleichbarer Weise Betrugsvorwürfe erhoben werden, würde dieser - ganz ähnlich, wie es nun auch in Rußland geschieht - eine Überprüfung durch die dafür im eigenen Staat autorisierten Organe vornehmen wollen und ganz gewiß kein Urteil akzeptieren, das von Regierungen anderer Staaten in kurzer Zeit gefällt wurde. Die Europäische Union hingegen forderte, noch bevor in Rußland die von Medwedew angekündigten Überprüfungen vorgenommen werden konnten, "faire und freie" Wahlen, also Neuwahlen. US-Außenministerin Hillary Clinton hatte sich nicht minder kritisch zu der Duma-Wahl geäußert. Der russische Präsident wies die von der EU erhobene Forderung nach Neuwahlen laut 3sat-Angaben kategorisch zurück und erklärte: "Das ist unser Parlament. Die Kommentare des Europaparlaments bedeuten mir gar nichts". Die EU solle in der Frage der Menschenrechte lieber vor ihrer eigenen Türe kehren, was die "Verletzung der Rechte von russischsprachigen Minderheiten, Rassismus und Xenophobie" beträfe, so Medwedew.

Damit hat der scheidende russische Präsident ein hochbrisantes Thema angeschnitten, denn ganz losgelöst von der Frage, wie substantiell die Wahlbetrugsvorwürfe tatsächlich sind und zu welchen Konsequenzen dies in der innerrussischen politischen Auseinandersetzung auch immer führen mag, steht der Vorwurf im Raum, daß die westlichen Staaten an einer Destabilisierung Rußlands bzw. seiner gegenwärtigen politischen Führung nicht nur interessiert sind, sondern auf offiziellen und mehr noch inoffiziellen Kanälen darauf aktiv hinarbeiten. Die im Westen als "unabhängig" geltende Wahlbeobachtungsorganisation "Golos" (Stimme) steht in dem Ruch, als verlängerter Arm westlicher Interessen in Rußland tätig zu sein. Golos ist so unabhängig, wie es eine Organisation, die von den USA wie auch der Europäischen Union finanziert wird, nur eben sein kann. Das US-Statedepartment hatte unmittelbar nach der Duma-Wahl erklärt, die Finanzhilfen für russische Nichtregierungsorganisationen im Vorfeld der nun bevorstehenden Präsidenschaftswahlen zu erhöhen, weil es, wie Außenamtssprecher Marc Toner erklärte, im Interesse der USA läge, "die Nichtregierungsorganisationen sowie den Prozeß selbst und nicht irgendwelche einzelnen politischen Parteien zu unterstützen".

Toner bestätigte auch, daß Golos "eine der vielen Nichtregierungsorganisationen" sei, "die von uns Hilfe erhalten" [1]. Die auch von der der Europäischen Union mitfinanzierte Organisation Golos wurde noch vor der Wahl zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (ca. 725 Euro) wegen einer illegalen Kampagne gegen die Regierungspartei Geeintes Rußland verurteilt. Nach russischer Rechtslage ist die Finanzierung sogenannter Nichtregierungsorganisationen durch ausländische Quellen illegal, und so entbrannte ein heftiger Streit um die (juristischen) Maßnahmen, die in Moskau gegen Golos ergriffen wurden. "Beobachter fühlten sich an Zensurmethoden wie zu Sowjetzeiten erinnert", hieß es am 5. Dezember im Stern [5], der im übrigen nicht zur Wahl zugelassene "Kremlkritiker" mit den Worten zitierte, dies sei die "schmutzigste Abstimmung" [5] seit dem Ende der Sowjetunion gewesen.

Doch nicht nur in der Mainstream-Presse, auch regierungsoffizielle Stellen stimmten in diesen Kanon mit ein. Andreas Schockenhoff, der Rußlandbeauftragte der deutschen Bundesregierung, fühlte sich, wie er am 9. Dezember in einem Interview mit Focus-Online [6] betonte, an "Sowjetzeiten erinnert" und warnte vor einem "gefährlichen Rückschritt". Putin falle "in Sowjetmuster zurück", so sein Kernvorwurf. Offenbar arbeitet die deutsche Bundesregierung im Einklang mit der EU und den USA auf einen "Regimechange" in Rußland hin, um eine ihnen genehmere Regierung zu installieren. Allerdings scheinen die westlichen Obstrukteure vor dem Problem zu stehen, daß kein für solche Zwecke in Frage kommender Politiker in Rußland nennenswerte Chancen auf ein solches Amt hat. Auf die Frage nach seiner Einschätzung der oppositionellen Kräfte nannte der Rußlandbeauftragte der Bundesregierung Persönlichkeiten wie Wladimir Ryschkow oder den früheren Schachweltmeister Garri Kasparow, die "sehr charismatisch sind, aber untereinander zu wenig organisiert" [6].

Kasparow ist Chef der Oppositionsbewegung "Anderes Rußland", die als Partei zur Dumawahl nicht zugelassen wurde. In St. Petersburg konnten sich die oppositionellen Parteien und Organisationen, obwohl sie sich in der Frage der Betrugsvorwürfe einig zu sein scheinen, nicht einmal auf einen gemeinsamen Protestmarsch einigen. So fanden am 24. Dezember in dieser Stadt gleich drei Kundgebungen statt: eine der gemäßigten Oppositionellen (Solidarnost, Jablonko, Gerechtes Rußland) auf dem Pionierplatz mit rund 1.500 Teilnehmern, eine der nationalistischen Kräfte am Sacharow-Platz mit rund 1000 Teilnehmern und schlußletztendlich eine dritte vor dem Smolny von der Kasparow-Partei "Anderes Rußland", an der gerade einmal einige Dutzend Menschen teilnahmen. Da drängt sich der Eindruck auf, daß Persönlichkeiten mit starker Westanbindung wie der ehemalige Schachweltmeister oder auch der frühere Präsident Michail Gorbatschow, in der russischen Bevölkerung nicht eben gut angesehen sind.

Für eine Überraschung sorgte der dem Putin-Umfeld zugerechnete ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, der vor kurzem von Medwedew entlassen worden war und nun öffentlich in die Forderung nach Neuwahlen einstimmte. Dann folgte wenig später ganz so, als gäbe es da ein geheimes Drehbuch, die Forderung nach einem "Rußland ohne Putin", die von Kasparaw und Gorbatschow erhoben wurde. Putins Sprecher Dmitri Peskow konterte diese Attacke mit der Bemerkung, Gorbatschow sei vor 20 Jahren der "Totengräber der Sowjetunion" gewesen und als Präsident gescheitert, während Putin, der im Wechsel mit Medwedew Anfang März erneut das Präsidentenamt anstrebt, "noch immer der beliebteste Politiker Rußlands" sei. Die Forderung nach einem "Rußland ohne Putin" offenbart bei aller Direktheit für den im Westen ungemachen Politiker auch das Dilemma, daß weit und breit kein Gegenkandidat, der eine Gewähr böte, die Interessen der westlichen Staaten zu verfolgen, in Sicht ist.

Wer nun fragt, was an einem "harten Hund" wie Putin denn so grundverkehrt sei, daß die westlichen Staaten alle ihnen zugänglichen zivilen und sonstigen Hebel in Bewegung setzen, um ihn aus dem bzw. den Ämtern zu bringen, könnte in der Rede eine Antwort finden, die Putin am 10. Februar 2007 auf der "43. Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik" gehalten hat. Wie sich damals in einer Emnid-Umfrage herausgestellt hatte, teilten rund zwei Drittel der deutschen Bundesbürger Putins Kritik an den USA, der übermäßigen Anwendung kriegerischer Gewalt und dem einseitigen Streben nach Weltherrschaft. Denkbar ist, daß der damalige russische Präsident sich bei dieser wie auch vielen weiteren Gelegenheiten Feinde geschaffen hat, die zwar Worte wie Freundschaft und Partnerschaft im Munde führen, wenn es um Rußland geht, aber sich dann doch bitte schön ein Rußland schaffen wollen ohne Störenfriede dieser Art. Putin hatte in München unipolaren Weltmachtsansprüchen eine klare Abfuhr erteilt, wie folgendem Zitat zu entnehmen ist [7]:

Die nach dem "Kalten Krieg" vorgeschlagene unipolare Welt ist nicht entstanden. Die Geschichte der Menschheit kennt natürlich Perioden eines unipolaren Zustandes und des Strebens nach weltweiter Vorherrschaft. Was geschah nicht in der Geschichte der Menschheit? Jedoch was ist eine unipolare Welt? Wenn jemand diesen Terminus erläuterte, müßte er zwangsläufig zu einem einzigen Ergebnis kommen: Das bedeutet ein einziges Machtzentrum, ein einziges Kraftzentrum, ein einziges Entscheidungszentrum. Das ist die Welt eines einzigen Herrn, eines einzigen Souveräns. Und das ist letztlich nicht nur für alle gefährlich, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän, weil ihn das von innen zerstört.

Und das hat natürlich nichts mit Demokratie zu tun. Weil: Demokratie ist, wie Sie wissen, die Macht der Mehrheit, wobei das Interesse und die Meinungen der Minderheit berücksichtigt werden. Deutlich gesprochen: Wir, Rußland, werden dauernd über Demokratie belehrt. Aber diejenigen, die uns belehren, wollen selbst nicht besonders viel lernen. (...) Hinzu kommt: Was in der heutigen Welt geschieht - und wir beginnen gerade erst, das zu diskutieren -, das sind die Folgen des Versuches, eben diese Konzeption in die internationalen Beziehungen einzuführen - die Konzeption einer unipolaren Welt.

Ein Rußland mit Putin oder, genauer gesagt, mit einer dem Modell eines multipluralen und damit demokratischen Konzeptes verpflichteten Regierung wäre jeglichen Versuchen seitens der westlichen Staaten, sich in eine Position der Alleinherrschaft zu manövrieren, vorzuziehen. Vor diesem Hintergrund bekommen die Streitigkeiten um die Dumawahl und die Wahlbetrugsvorwürfe in Rußland überhaupt erst den Stellenwert, der ihnen angemessen ist, geht es doch um nicht weniger als die Einmischung in die inneren Verhältnisse Rußlands, was in einer Zeit, in der humanitär bemäntelte Kriege schon zum Alltagsgeschäft gehören, bereits in Vergessenheit gebracht zu sein scheint. Um daran zu erinnern, welche friedenssichernde Wirkung diesem ehernen Prinzip der Vereinten Nationen einst zugeschrieben worden war, sei hier zum Abschluß an folgende Sätze von Ex-Kanzler Helmut Schmidt erinnert aus seiner am 8. Mai 2007 in der Tübinger Universität gehaltenen "Weltethosrede" [8]:

Seit 1945 verbietet das Völkerrecht in Gestalt der Satzung der Vereinten Nationen jede gewaltsame Einmischung von außen in die Angelegenheiten eines Staates; allein der Sicherheitsrat darf eine Ausnahme von dieser Grundregel beschließen. Mir will es heute dringend nötig erscheinen, die Politiker an diese Grundregel zu erinnern. Denn z. B. die militärische Intervention im Irak, noch dazu lügenhaftig begründet, ist eindeutig ein Verstoß gegen das Prinzip der Nichteinmischung, ein eklatanter Verstoß gegen die Satzung der United Nations. Politiker vieler Nationen sind an diesem Verstoß mitschuldig. Ebenso tragen Politiker vieler Nationen (darunter auch deutsche) Mitverantwortung für völkerrechtswidrige Interventionen aus humanitären Gründen. So sind seit fast einem Jahrzehnt auf dem Balkan gewaltsame Interessenkonflikte auf westlicher Seite mit einem humanitären Mantel bekleidet worden (einschließlich der Bomben auf Belgrad).


Anmerkungen

[1] Putin macht Clinton verantwortlich. Anhaltende Proteste gegen Wahlmanipulationen in Rußland seien von USA unterstützt, junge Welt, 09.12.2011, S. 7

[2] Wahlfälschung: Russische KP reicht Klage ein. junge Welt, 06.12.2011, S. 3

[3] EU-Russland-Gipfel: Schwäche der EU stärkt den Kreml. Von Oliver Grimm. Die Presse, 16.12.2011,
http://diepresse.com/home/wirtschaft/eurokrise/717132/EURusslandGipfel_Schwaeche- der-EU-staerkt-den-Kreml

[4] Geldstrafe für unabhängige Wahlbeobachter in Russland. Der Stern, 2. Dezember 2011,
http://www.stern.de/politik/ausland/geldstrafe-fuer-unabhaengige- wahlbeobachter-in-russland-1758200.html

[5] Massive Attacke legt kremlkritische Internetseiten lahm. Der Stern, 5. Dezember 2011,
http://www.stern.de/politik/ausland/russische-parlamentswahl-osze- beobachter-prangern-verstoesse-an-1758921.html

[6] "Putin fällt in Sowjetmuster zurück". Interview von Sandra Tjong mit Andreas Schockenhoff, FOCUS-Online, 09.12.2011,
http://www.focus.de/politik/ausland/russlandbeauftragter-schockenhoff- putin-faellt-in-sowjetmuster-zurueck_aid_692391.html

[7] Sicherheit für alle. Die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 10. Februar 2007 auf der "43. Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik". Dokumentiert in der jungen Welt, 14.02.2007, S. 10

[8] Prinzip der Nichteinmischung. Aus der Rubrik "Abgeschrieben", junge Welt, 14.05.2007, S. 8


28. Dezember 2011