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DILJA/1406: Kein Dach über dem Kopf (SB)


Nicht der Rede wert? Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit in Deutschland



In seiner majestätischen Gleichheit verbietet das Gesetz den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.

Der französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger von 1921, Anatol France, hatte mit diesem Ausspruch 1894 deutlich gemacht, was es mit der Gleichheit vor dem Gesetz, einer der Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie, wohl tatsächlich auf sich hat. Seitdem hat sich die Rechtslage, formal gesehen, grundlegend geändert. So haben wohnungslos gewordene Menschen nach dem Ordnungsrecht der Bundesländer einen Anspruch auf Unterbringung durch die Kommunen wie auch auf Sozialhilfe und Sozialleistungen. All dies gilt als Selbstverständlichkeit und beruht auf einer Selbstverpflichtung, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland nicht fundamentaler sein könnte, gehört doch das Sozialstaatsprinzip zum unabänderlichen Kern des Grundgesetzes. Wie angesichts dieser Voraussetzungen und behaupteten Rechtsansprüche hunderttausende Menschen in Deutschland von Zwangsräumungen, drohender Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit betroffen sein können, ist eine Frage, die in Gesellschaft, Medien und Politik wenig thematisiert wird.

Eine offizielle, bundesweite Statistik über Wohnungslosigkeit in Deutschland wird nicht geführt. Einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, einem Dachverband freier Träger der Wohnungslosenhilfe, vom November 2011 zufolge ist das Ausmaß der Wohnungslosigkeit von 2008 bis 2010 "dramatisch gestiegen" [1]. Demnach lag die Zahl der Wohnungsnotfälle 2010 bei ca. 354.000 gegenüber 330.000 im Jahre 2008. Ein Mensch gilt als "Wohnungsnotfall", wenn er wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht ist oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt.

Nach einer zuvor zehnjährigen Rückläufigkeit führte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zur Begründung steigende Mietpreise bei gleichzeitig zunehmender Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten an sowie einem sinkenden sozialen Wohnungsbau und machte deutlich, daß dieser Negativentwicklung durch die Wohnungspolitik nicht nur nicht entgegengesteuert, sondern daß sie durch Mittelkürzungen in der Städtebauförderung sogar noch forciert werde. Der Dachverband warnte angesichts der wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, wobei er Hartz IV ausdrücklich als "sozialpolitische Fehlentscheidung" bezeichnete, bereits Ende 2011 vor einer Fortsetzung dieses Trends und sagte einen weiteren dramatischen Anstieg wohnungsloser Menschen um 10 bis 15 Prozent bis 2015 auf dann 270.000 bis 280.000 gegenüber 248.000 im Jahr 2010 voraus. Ca. 22.000 Menschen sollen diesen Schätzungen zufolge 2010 ohne jede Notunterkunft auf der Straße gelebt haben. [1]

In rechtlicher Hinsicht werden bei wohnungslosen Menschen deutliche Unterschiede gemacht, je nachdem, ob sie freiwillig oder unfreiwillig in dieser Lage sind. Als "freiwillig Obdachlose" oder auch "Nichtseßhafte" werden Menschen bezeichnet, die ohne feste Unterkunft von Ort zu Ort ziehen. Die Kommunen sind nicht verpflichtet, ihnen eine Unterkunft zu stellen, was erst dann der Fall wäre, wenn sie sich um eine dauerhafte Unterkunft bemühen würden. Hier deutet sich, kaum verborgen, eine Bezichtigung der Betroffenen ab: Wer sich nicht um eine Wohnung "bemüht", lebt "freiwillig" auf der Straße oder in Notunterkünften. Als Gründe für Obdachlosigkeit werden häufig Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit, Schulden und Beziehungsprobleme, Wohnungskündigungen und Drogen angeführt. Wie sich Betroffene in einer solchen Lebenssituation, die durch die Obdachlosigkeit noch verschärft wird, um eine Wohnung "bemühen" können sollen, wenn sie zuvor schon nicht in der Lage waren, deren Verlust zu verhindern, ist eine schwer, wenn überhaupt, zu beantwortende Frage.

Im Polizei- und Ordnungsrecht gelten Obdachlose als "Störer", nicht jedoch ihre (vorherigen) Vermieter, die durch ihre Kündigungen bzw. Räumungsklagen im ordnungsrechtlichen Sinn nicht verantwortlich sind und als "Nicht-Störer" gelten. Von der rechtlichen Option, sie unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands gleichwohl in Anspruch zu nehmen, um die früheren Mieter seitens der Ordnungsbehörden in ihre bisherigen Wohnungen wieder einzuweisen, wird in der Bundesrepublik Deutschland kaum Gebrauch gemacht.

Kommt es zum Rechtsstreit zwischen Mietschuldnern und Wohnungseigentümern, erweist sich schnell, welcher Seite Gerichte und Behörden zuneigen. Die Interessen der Eigentümer, die seit vielen Jahren geltend machen, zum Teil erhebliche Mietausfälle zu verkraften zu haben, scheinen hier eine eigene Dynamik entfaltet zu haben. Nach Angaben des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen (GdW) vom August 2003 hätten "säumige Mieter" bei den über 2800 in diesem Verband organisierten Unternehmen im Jahr 2002 über 700 Millionen Euro Mietausfälle verursacht. Allerdings sollen leerstehende Wohnungen mit rund 1,3 Milliarden Euro den größten Teil dieser Mietausfälle bewirkt haben, wobei zwei Drittel dieser Verluste auf ostdeutsche Wohnungsgesellschaften entfallen seien. [2]

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, daß es in den zurückliegenden Jahren zu immer mehr Wohnungskündigungen und Zwangsräumungen gekommen ist mit oft katastrophalen Folgen für die ehemaligen Mieter. In vielen Städten, so auch in Berlin, regen sich Proteste. Betroffene und solidarische Menschen versuchen immer öfter, Zwangsräumungen zu verhindern. Am 11. April ist eine 67jährige Frau, die zwei Tage zuvor im Berliner Stadtteil Wedding ihre Wohnung verloren hatte, gestorben. An diesem besonders tragischen Beispiel läßt sich exemplarisch nachzeichnen, wie bei Zwangsräumungen eine Hand in die andere greift und betroffene Menschen am Ende ungeachtet des ihnen eigentlich zustehenden rechtlichen Schutzes vor dem Nichts stehen.

Wie die Süddeutsche Zeitung am Tag nach ihrem Tode berichtete [3], war die Zwangsräumung gegen Rosemarie F. trotz eines ärztlichen Attestes, in dem die Unzumutbarkeit dieser Maßnahme bescheinigt wurde, durchgeführt worden. Außerdem habe es eine Mietübernahmeerklärung des Sozialamtes gegeben, was die Wohnungseigentümerin jedoch nicht davon abgehalten hatte, auf der Herausgabe der Wohnung zu bestehen. Einen ersten Räumungsversuch hatte das Berliner Landgericht am 27. Februar noch im letzten Moment verhindert, um eine "unbillige Härte" zu abzuwenden. Am 9. April kam es dann doch zu dieser Härte. In Begleitung von 140 Polizisten, um die Gerichtsvollzieherin gegen etwaige Proteste zu schützen, wurden in Abwesenheit der Mieterin die Schlösser ausgewechselt.

Die nun wohnungslose, herzkranke Seniorin kam zunächst in einer Wohngemeinschaft unter, bevor sie in einer Berliner "Wärmestube" Aufnahme fand, einer ehrenamtlich betriebenen Obdachlosenunterkunft im Wedding, deren Betreiber Zoltan Grashoff zwei Tage nach der Zwangsräumung bestätigte, daß sie in dieser Einrichtung leblos aufgefunden wurde. Der schwerbehinderten Rentnerin war ihre Wohnung wegen Mietrückständen, die sie nicht selbst zu verantworten hatte, gekündigt worden. Die Mietzahlungen waren vom Amt für Grundsicherung übernommen worden, aber in Folge von Klinikaufenthalten der Rentnerin und Eigentümerwechseln nicht rechtzeitig eingetroffen. Wie Grashoff der Berliner Zeitung zufolge sagte, habe die Rentnerin dem Druck und Streß nicht standhalten können. Innerhalb von zwei Tagen habe sie dann körperlich erheblich abgebaut. [4] Nach Ansicht eines Unterstützers habe die Zwangsräumung ihr die Lebensgrundlage entzogen. [5]

Rosemarie F. stammte aus Thüringen, wo sie Außenwirtschaftsökonomie studiert hatte. Laut Berliner Zeitung habe sie die Mauer wiederhaben wollen, so hoch wie möglich. "Es war nicht alles gut in der DDR, aber sozial war es okay", so ihre Begründung. [4] Wie ihr Leben in der Bundesrepublik am Ende aussah, hatte sie wenige Wochen vor ihrem Tod noch geschildert. Ihre eigene Rente sei so niedrig gewesen, daß sie noch unterhalb der Grundsicherung gelegen habe. Ihre Wohnung habe 350 Euro Miete gekostet, und da sei für Heizung, Strom und Telefon nichts mehr übrig gewesen. In die Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo sei sie jeden Tag gegangen, um etwas zu essen, auch mit Kleidung sei sie dort versorgt worden.

Nach ihrem Tod machten die verantwortlichen Behörden deutlich, daß sie sämtliche Hilfsangebote abgelehnt habe. Sie sei angeschrieben worden, man habe versucht, sie telefonisch zu erreichen, und schließlich seien sogar Mitarbeiter vor Ort gewesen, hieß es. Zur Erklärung führte die Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot an, daß viele Menschen sich nicht helfen lassen wollten, den Kopf in den Sand steckten und ihre Möglichkeiten überhaupt nicht kennen würden. [4] Wie groß die Wohnungsnot mit all ihren, unter Umständen sogar tödlichen, Folgen inzwischen tatsächlich sein mag, läßt sich vielleicht anhand der Zahl der Menschen, die in diese Berliner Beratungsstelle kommen, die sich seit 2005 verdoppelt und im vergangenen Jahr bei 2800 gelegen hat, erahnen.



Anmerkungen:

[1] http://www.bagw.de/fakten/1.phtml

[2] http://www.welt.de/print-welt/article250584/Zwangsraeumung-ist-das-letzte-Mittel-bei-Mietschulden.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/panorama/berlin-rentnerin-stirbt-nach-zwangsraeumung-ihrer-wohnung-1.1647491

[4] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/rentnerin-rosemarie-f--nach-der-zwangsraeumung-kam-der-tod,10809148,22355522.html

[5] http://nachrichten.rp-online.de/panorama/berliner-rentnerin-nach-zwangsraeumung-gestorben-1.3327114

19. April 2013