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AFRIKA/1924: Systemische Nahrungsnot - Beispiel Sierra Leone (SB)


Nahrungsmangel und partielle Entwicklungshilfe - Instrumente der Herrschaftssicherung


Während zur Zeit entscheidende globalpolitische Weichen gestellt und alte mit aufstrebenden neuen Hegemonialmächten Kämpfe austragen, um bei der unabwendbar bevorstehenden Neuordnung der Welt Vorteilspositionen zu erringen, von denen aus sie dann einen besseren Zugriff auf die knappen Fleischtöpfe haben, wird an der Basis der globalisierten Welt ein Mangelregime eingerichtet und dauerhaft befestigt. Ein typisches Beispiel dafür ist Sierra Leone, in dem auch neun Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs noch immer große Armut und Not herrschen. Von seinen natürlichen Voraussetzungen her besitzt der subtropische, waldreiche Staat durchaus das Potential, die eigene Bevölkerung zu versorgen, Nahrungsmittel zu exportieren und darüber hinaus Devisen aus dem Export von Diamanten einzunehmen, um hiermit laufend infrastrukturelle Verbesserungen vorzunehmen.

Warum Sierra Leone bis heute ein Armutsland geblieben ist, läßt sich nicht an ein, zwei Faktoren festmachen. Den allgemeinen Mangel allein mit dem zweifellos schweren Erbe des rund zehn Jahre währenden Bürgerkriegs zu erklären wäre zu einfach. Auch die ebenfalls nicht zu leugnende illegale (Korruption) und legale Ausbeutung (fremdbestimmte Arbeit) der Gesellschaft bzw. des Einzelnen vermögen für sich genommen nicht hinreichend Aufschluß zu geben, warum Sierra Leone es versagt blieb, auf die Beine zu kommen und den Bewohnern ein einigermaßen erträgliches, das heißt ausreichend versorgtes Leben zu bieten. Am Willen der Einwohner, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, mangelt es jedenfalls nicht.

Ein wichtiger Faktor der Verarmung, der häufig vernachlässigt wird und an den man mit auf einfache Antworten abzielenden kausalen Verknüpfungen nicht herankommt, betrifft das weltwirtschaftliche Umfeld, in dem Sierra Leone agiert. Da Nationen auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren wie Händler auf dem Basar, wird es schon von daher immer Gewinner und Verlierer geben. Hinzu kommt, daß die Hilfe, die dem Land nach dem Ende des Bürgerkriegs durch die internationale Gemeinschaft zuteil wurde und die auch heute noch geleistet wird, nicht reicht und nie reichen sollte, um es vollständig vom Mangel zu befreien. "Vollständig", das hieße, daß kein Sierraleoner fortan auf Nahrungshilfe angewiesen ist oder Hunger leiden muß. Statt dessen wird immer nur so viel Hilfe geleistet, daß die Perspektive, die Lage könnte irgendwann erträglicher werden, am Leben erhalten wird. Die Unterstützung, die das Land erfuhr, zielte allem Anschein nach von Anfang an nur darauf, den sozialen Frieden abzusichern, nicht aber die Not absolut und dauerhaft zu beheben.

Das Vorgehen hat Methode. Armutsländer werden gebraucht. Sie stabilisieren die Ordnung. Somit wäre der Hunger in Sierra Leone nicht als "Fehler" oder "Versagen" des Systems zu bezeichnen, sondern als eine wichtige Funktion, mit der in Afrika, aber auch in den relativen Wohlstandsregionen der Erde Herrschaftssicherung betrieben wird. Solange die Menschen wissen, daß Artgenossen andernorts Tag für Tag einen unmittelbaren Existenzkampf ausfechten, sind sie bereit, sich ausbeuten, das heißt, die Früchte ihre Leistung dauerhaft abernten zu lassen. Ohne diese Bereitschaft kein Mehrwert und keine Ausbeutung.

Sierra Leone muß mehr als 50 Prozent seines Nahrungsbedarfs durch Importe abdecken, sagte kürzlich JK Pessima vom sierraleonischen Ministerium für Land- und Forstwirtschaft und Ernährungssicherheit gegenüber der Presse. [1] Um Ernährungsnachhaltigkeit zu erreichen, wurden Traktoren und andere schwere landwirtschaftliche Geräte angeschafft und sollen nun zu subventionierten Preisen an die Bauern abgegeben werden. Zudem würden zur Zeit 150 Mechaniker von der SLRTC (Sierra Leone road transport corporation) im Umgang mit den Geräten ausgebildet, teilte Pessima mit.

Es gibt zur Zeit 265 Traktoren im Land, die mit Hilfe eines Darlehens der indischen Regierung erworben wurden, und in Kürze werden 900 Tonnen Dünger erwartet, berichtete die Zeitung "Concord Times" unter Berufung auf Landwirtschaftsminister Sam Sesay. [2 und 3] Außerdem wolle die Regierung 30 Reismühlen im Land bauen, und die Weltbank habe acht Millionen Dollar zur Wiederherstellung von Zubringerstraßen im ganzen Land freigegeben, wodurch die Landwirtschaft gestärkt werden solle.

Indes berichtet die Zeitung im gleichen Zeitraum, daß die Bauern so arm sind, daß sie sich nicht einmal die subventionierten Traktoren mieten können. [3] Selbst Mietkosten in Höhe von 20 Prozent des "normalen" Preises sind für sie unerschwinglich. Hinzu kommt, daß sie sich den Unterhalt eines Traktors nicht leisten können. Viele Bauern betrieben deshalb lediglich Subsistenz, um über die Runden zu kommen, sagte eine Landwirtin gegenüber der "Concord Times". Ihr zufolge bleiben große Agrarflächen unbestellt.

Der Forderung der Bauern, daß die Regierung die Traktoren kostenlos abgibt, hält Landwirtschaftsminister Sesay entgegen, daß die Leute die Traktoren mißhandelten, wenn sie nichts dafür bezahlen müßten. [3] Außerdem könnten die Bauern ihre Unkosten über sieben Jahre hinweg verteilen.

Die hier aufscheinenden nationalen Probleme kommen zu den hohen Hürden aufgrund der Einbettung in ein Weltwirtschaftssystem, aus dem sich kaum zu lösen ist, hinzu. Ein Blick in die Zeitungen aus den letzten Wochen und Monaten zeigt, daß Sierra Leone mit seinem - häufig als bürgerkriegsbedingt beschrieben - Nahrungsmangel nicht allein ist. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents, leiden 100 Millionen Einwohner Hunger, schrieb die Zeitung "Daily Trust". [4] Im Sahelstaat Niger sind 7,8 Millionen Einwohner, das entspricht drei Fünfteln der Bevölkerung, einer "moderaten bis schweren Ernährungsunsicherheit" ausgesetzt, teilten die Vereinten Nationen diese Woche Mittwoch mit. [5] Und das Welternährungsprogramm (WFP) schrieb, daß es in Jemen aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung die Essensrationen, die an eine Million Einwohner verteilt werden, von 2100 kcal auf 1700 kcal kürzen mußte. Alles in allem sei jeder dritte Jemenite chronisch hungrig. Der Bitte um Spenden für humanitäre Hilfe in Höhe von 177 Mio. Dollar sei nur zu 0,4 Prozent nachgekommen worden, berichtete UN-Direktor John Holmes. [6]

Nahrungsmangel herrscht auch in Äthiopien, Kenia, Dschibuti, Sudan, Somalia, Simbabwe, Madagaskar ... außerhalb Afrikas in Indien, Myanmar, Indonesien, Philippinen, China, Rußland, Afghanistan, Irak, Haiti, Honduras ... All diese und viele vermeintlichen Einzelfälle mehr, hinter der selbstverständlich eine jeweils eigene Entwicklung steckt, liefern zusammengenommen einen deutlichen Blick auf den systemischen Charakter der Nahrungsnot auf der Erde. Nach UN-Angaben müssen mehr als eine Milliarde Menschen Hunger leiden, eine weitere Milliarde ist permanent von Hunger bedroht. In Wohlstandsländern wird der Mangel zur Zeit noch durch institutionalisierte Privatinitiativen wie die Tafeln in Deutschland und Wohlfahrtsorganisationen in den USA kompensiert. Das Ausmaß der Nahrungsnot ist in den Entwicklungsländern zweifellos größer als hierzulande, aber ob das immer so bleibt, kann nicht mit Sicherheit angenommen werden. Denn so wie der Mangel und seine partielle Aufhebung in Form von Privilegien schon immer als zentrales Herrschaftsinstrument dienten und deshalb gar nicht vollständig ausgelöscht werden sollen, so müssen die Armutsländer miterleben, wie immer neue Vorwände geschaffen werden, um den Mangel zu verwalten und ihn nicht beheben zu müssen. Die vorläufig letzte Ausrede ist die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Welche "schicksalshafte" Krise muß als nächstes herhalten, um den Mangel nur zu verwalten und nicht zu beheben?


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Anmerkungen:

[1] "Sierra Leone: 'Govt Spends More On Food Importation'", Concord Times (Freetown), 1. Februar 2010
http://allafrica.com/stories/201002020593.html

[2] "Sierra Leone: On Agricultural Boom and Food Self Sufficiency in Sierra Leone", Concord Times (Freetown), 8. Februar 2010
http://allafrica.com/stories/201002110581.html

[3] "Sierra Leone: High Cost of Tractors Scare Farmers", Concord Times (Freetown), 8. Februar 2010
http://allafrica.com/stories/201002110498.html

[4] "Nigeria: '100 Million Locals Are Hungry'", Daily Trust (Abuja), 27. Januar 2010
http://allafrica.com/stories/201001280437.html

[5] "Niger: As Country Faces Severe Food Shortages, UN and Partners Appeal for Aid", UN News Service (New York), 10. Februar 2010
http://allafrica.com/stories/201002100955.html

[6] "U.N. cuts food rations in Yemen due to lack of funds", Reuters, 5. Februar 2010
http://uk.reuters.com/article/idUKLDE6140XT._CH_.2420?sp=true

11. Februar 2010