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AFRIKA/1986: Nigeria - Frauen besetzen Chevron-Einrichtung (SB)


Ungebrochene Politik der Vernachlässigung in Nigeria

Einwohner des Nigerdeltas von Einnahmen des Erdölexports abgeschnitten, aber Umweltschäden ausgesetzt


Die Verbraucher von Erdöl und anderen Energieträgern in den Industriestaaten bekommen von den sozialen und ökologischen Problemen der Rohstoffgewinnung in Übersee in der Regel nichts mit. Beispielsweise in Nigeria. Dort wird seit einem halben Jahrhundert Erdöl aus der Erde gepumpt und außer Landes gebracht. Das Nigerdelta erlebt die vermutlich größte Umweltkatastrophe des Kontinents. Schon vor vielen, vielen Jahren war den Einwohnern zugesagt worden, daß das Abfackeln von Erdgas, das bei der Erdölförderung austritt, enden soll. Das ist bis heute nicht geschehen. Luft, Boden und Wasser dieses Hauptfördergebiets von Erdöl in dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas sind von Ruß und Öl kontaminiert, und die Einwohner erhalten keine Kompensationszahlungen, geschweige denn daß sie in einem nennenswerten Umfang an den Einnahmen aus dem lukrativen Erdölexport beteiligt werden.

Das bildet den Hintergrund für einen Dauerkonflikt im Nigerdelta, der zeitweilig bürgerkriegsähnliche Ausmaße annimmt. Eher friedlich, aber nichtsdestotrotz mit großem Zorn sind dagegen am Mittwoch Hunderte Protestierer, die große Mehrheit von ihnen Frauen, in das Gelände einer Erdgas-Einrichtung am Escravos-Channel von Madangho im Bundesstaat Delta-State eingedrungen. Die Frauen haben die Nase gestrichen voll von den ewigen Verheißungen der Regierung und der Unternehmensführung des US-Konzerns Chevron, daß man sich zu Gesprächen zusammensetzen und über alles reden werde.

Bis vor drei Wochen hatten die Einwohner der Itsekiri-Gemeinde von Ugborodo in der Warri South-West Local Government Area von Delta State schon einmal die 800 Millionen Dollar teure Anlage, die Chevron Tank Farm, besetzt. Sie haben die Anlage nur geräumt, weil ihnen zugesagt worden war, daß man sich ihre Beschwerden anhören werde. Da seitdem rein gar nichts geschehen war, kochte die Stimmung über. Den Einwohnern geht es weder um Bereicherung noch haben sie ein politisch, religiös oder ethnisch orientiertes Anliegen. Sie wollen ganz einfach angehört werden, weil sie ihre Existenz als gefährdet ansehen. Landwirtschaft und Fischfang ist in vielen Regionen des Nigerdeltas aufgrund der Ölverseuchung ausgeschlossen. Armut grassiert - was anderes, als sich mit Händen und Füßen gegen die "Unterdrückung und Marginalisierung" zu wehren, sollen die Menschen sonst machen?

Den Gipfel der Vernachlässigung sehen die Bewohner darin, daß ihre Ugborodo-Gemeinde komplett in den kürzlich vom Ministerium für Angelegenheiten des Nigerdeltas bekanntgegebenen Plänen zur Verbesserung des Küstenschutzes ausgeklammert wird. Der Vorsitzende des Ugborodo Community Trust Fund, Dekan Thomas Ereyetomi, erklärte laut der nigerianischen Zeitung "This Day" [1], daß sie mit der Besetzung ein Signal setzen wollen. Man werde die "kriminelle Vernachlässigung" nicht länger dulden. Seit das Okan-Erdölfeld im Jahr 1963 erschlossen worden sei, habe die Gemeinde mit mehr als 250.000 Barrel Rohöl täglich zum nationalen Wohlstand beigetragen. Man werde die Aktivitäten von Chevron weiterhin stören, wie schwer die Einrichtungen des Unternehmens auch gesichert seien, bis die Bundesregierung Antworten liefere, hieß es seitens der Protestierer.

Demnach mangelt es in der Region an der elektrischen Stromversorgung und anderen Infrastruktureinrichtungen. Darüber hinaus wird das Land vom Meer bedroht, und nicht zuletzt treten immer wieder Ölleckagen auf, während Tag und Nacht Gas abgefackelt wird. In der Ugborodo-Gemeinde befinden sich abgesehen von der Chevron Tank Farm eine Verladeeinrichtung und Erdgas-Installationen. Die Einwohner befürchten, daß ihre Gemeinde in den nächsten drei Jahren wegen der kräftigen atlantischen Wellen von der Erdoberfläche getilgt wird. Angesichts des Klimawandels und des zu erwartenden Meeresspiegelanstiegs ist die Befürchtung der Einwohner verständlich.

Mit Erdöl und Erdgas wird ein Lebensstil betrieben, den sich die Bewohner des Nigerdeltas, zu deren Lasten dieser Stil gepflegt wird, am wenigsten leisten können. Sie werden zu den Fußabtretern einer globalisierten Welt gemacht, in der die technologischen Errungenschaften und die relative Versorgungssicherheit nur einer kleinen reichen Oberschicht sowie ausländischen Unternehmen zugute kommen. Den Ölfördereinrichtungen, Verwaltungsgebäuden und Privathäusern der wohlhabenderen Erdölmanager mangelt es nicht an elektrischem Licht. Den Dorfbewohnern bleibt nur der Flackerschein der rauschenden Feuerzungen vom Gas-Abfackeln, die sich in den Nachthimmel bohren und Tag und Nacht nicht abgestellt werden können.


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Anmerkungen:

[1] "Nigeria: Women Invade U.S.$.8 Billion Chevron Facility in Delta", This Day (Lagos), 19. August 2010
http://allafrica.com/stories/201008190011.html

19. August 2010