Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

AFRIKA/2038: IStGH - Den Haager Gericht torpediert Chance auf Waffenstillstand in Libyen (SB)


Internationaler Strafgerichtshof betreibt Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Internationaler Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi ausgestellt


Einen Tag nachdem die Afrikanische Union Fortschritte bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand im libyschen Bürgerkrieg erzielt hat, erläßt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Haftbefehle gegen den libyschen Staatsführer Muammar al-Gaddafi (69), seinen Sohn Saif al-Islam (39) und den libyschen Geheimdienstchef und Schwager Gaddafis, Abdullah el-Senussi (62), wegen "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" [1]. Die zeitliche Koinzidenz der beiden Vorgänge wäre vielleicht noch als Zufall abzutun, wenn nicht diese justitielle Breitseite gegen die libysche Regierung exakt zur unaufhaltsamen, sturen Bombardierung der Infrastruktur des Landes durch die NATO paßte: Einen Waffenstillstand soll es offenbar nicht geben, solange Gaddafi seinen Kopf nicht freiwillig auf den Henkersblock gelegt hat oder er nicht getötet wurde.

Bereits zu Beginn des Angriffs der westlichen Kriegskoalitionäre am 19. März auf Libyen wurden Bemühungen afrikanischer Staaten, einen Waffengang auf dem Kontinent zu verhindern, mißachtet [2]. Die afrikanischen Staatsführer, die für eine friedliche Lösung nach Tripolis reisen wollten, wurden brüskiert und mußten händeringend erleben, daß die Bellizisten in den westlichen Metropolen und ihre Quislinge in Teilen der arabischen Welt kein Interesse an Diplomatie besaßen. Die offizielle Begründung für die hastigen Angriffe der französischen Luftwaffe, daß nur so ein Angriff der Gaddafi-Soldaten auf die Zivilbevölkerung im letzten Augenblick verhindert werden könne, wird dadurch Lügen gestraft, daß der Libyenkrieg lange geplant war. [3] So sollen Eliteeinheiten der britischen SAS Wochen vor dem NATO-Angriff nach Libyen eingesickert sein und den gewaltsamen Regierungswechsel vorbereitet haben. Im übrigen hatten westliche Regierungen in der Vergangenheit schon häufiger versucht, Gaddafi zu beseitigen.

Nicht zum ersten Mal muß sich nun der IStGH den Vorwurf gefallen lassen, er sei alles andere als unparteiisch, bediene die hegemonialen Interessen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika (obgleich die US-Regierung den IStGH nicht anerkannt und das ihn begründende Statut von Rom nicht unterzeichnet hat) und bediene mit seinem Vorgehen gar den Chauvinismus der Weißen gegenüber den Afrikanern.

Obgleich das Den Haager Gericht einen überparteilichen Anspruch vorhält, hat es bislang nur Personen aus Afrika angeklagt. Dadurch wurden und werden mehrere bewaffnete Konflikte auf dem Kontinent verschärft und verlängert. Mit Sudans Präsident Omar al-Bashir wurde sogar ein amtierender Staatschef angeklagt, und als vor einigen Jahren eine Vertreterin der ugandischen Regierung bereits in fortgeschrittenen Verhandlungen mit den Rebellen der Lord's Resistance Army (LRA) stand, um einen langjährigen Bürgerkrieg in Norduganda zu beenden, da war es der IStGH, der mit seinem Bestehen auf den Haftbefehlen gegen LRA-Führer Joseph Kony und seinen Stellvertretern eine Fortsetzung des blutigen Bürgerkriegs auslöste. Der ist bis heute nicht beendet, sondern hat sich lediglich in Nachbarländer verlagert.

Nun also Libyen. Während Südafrikas Präsident Jacob Zuma am Sonntag dem Libyen-Ausschuß der Afrikanischen Union vorsitzt und durchaus relevante Verhandlungsergebnisse vorzuweisen hat - so hat Gaddafi laut Al Jazeera [4] zugesagt, daß er nicht darauf bestehe, an den Friedensverhandlungen mit den Rebellen teilzunehmen -, unterminiert der IStGH am Montag diese Bemühungen und läßt eine machbare, friedliche Lösung des Bürgerkriegs in weite Ferne rücken.

Von Gaddafi, der noch vor wenigen Monaten mit den Staatsführern derjenigen Länder, die nun sein Land attackieren, zu Tisch gesessen und das Essen geteilt hat und der in das System der CIA-Folterflüge im globalen Krieg gegen den Terror involviert war, wird nun erwartet, daß er sich freiwillig der Gewalt beugt und ins Gefängnis werfen läßt. Wie das Beispiel des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic nahelegt, wäre so ein Knastaufenthalt womöglich mit dem gesundheitlichen Ruin verbunden. Welchen Grund sollte Gaddafi haben, nicht bis zum letzten zu gehen und, wie von ihm angekündigt, eher in seinem Land zu sterben als die Fahnen zu streichen? Nun, es gäbe schon Gründe. Die wurden von Afrikanern für Afrikaner im Libyen-Ausschuß der AU in Pretoria ausgehandelt [5], sind allerdings vom IStGH vereitelt worden. Zumas Sprecher Zizi Kodwa wird mit den Worten zitiert, daß der südafrikanische Präsident "unglücklich" über die Entscheidung des IStGH sei [6]. Zuma wirft der NATO vor, die UN-Resolution 1973, durch die ein Militäreinsatz zum Schutz der Zivilbevölkerung mandatiert wird, zu weit auszulegen [5].

Selbst die UN-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour, die als frühere Chefermittlerin des Jugoslawientribunals frei von jeglichem Verdacht ist, gegen die libyschen Rebellen und für das Gaddafi-Regime eingestellt zu sein, befürwortet einen "sofortigen Waffenstillstand", "rasch ernsthafte Gespräche zwischen Vertretern von Regime und Opposition" sowie die Beteiligung der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union als Mediatoren an den Verhandlungen. "Dafür allerdings müssten die Anführer des Aufstands und die Nato ihren gegenwärtigen Standpunkt überdenken", merkte Arbour treffend an [7]. Gaddafis Rücktritt als Vorbedingung für Verhandlungen zu stellen, erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines lang anhaltenden bewaffneten Konflikts. Und in einer Rede in London zum Thema Internationale Menschenrechte merkte die Kanadierin mit Blick auf den IStGH an, daß die "zunehmende Verquickung von Justiz und Politik langfristig nicht gut für die Justiz sein kann" [8].

Das Den Haager Gericht erhebt den Anspruch der Weltgerichtsbarkeit, betreibt aber faktisch Siegerjustiz. Es fungiert immer wieder als Knüppel der westlichen Wertegemeinschaft, um zu verhindern, daß die afrikanischen Staaten ihr koloniales Joch ablegen. Ungeachtet nicht zu leugnender immenser regionaler Unterschiede steht Afrika als gesamtes an der Schwelle eines wirtschaftlichen Aufschwungs und hat diese teilweise bereits überschritten, so daß die Chance besteht, daß sich der Kontinent zunehmend von den alten Zwängen befreit. Mit China, der Süd-Süd-Partnerschaft und verschiedenen außerafrikanischen Nationen, die einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben, haben in jüngere Zeit Akteure die Weltbühne betreten, die eine Alternative zur paternalistischen Politik der alten Kolonialmächte bieten. Das Scheitern der Doha-Runde der WTO und der Verhandlungen mit der EU über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) sind Indizien für ein wachsendes Selbstbewußtsein der afrikanischen Staaten.

Aber Emanzipation an der Peripherie der westlichen Hegemonialsphäre? Das darf nicht sein. So greift der Westen zu allen verfügbaren Mitteln der Intervention: Es werden milliardenschwere Auslandskonten der libyschen Regierung eingefroren; es wird zur Jagd auf Gaddafi geblasen; es wird die Infrastruktur Libyens zerstört, um sie hinterher wieder aufbauen und die zukünftige libysche Regierung dafür (und für den Kriegseinsatz) in Schuldabhängigkeit zu bringen.

Zu all dem wird dem Libyen-Ausschuß und damit der Afrikanischen Union insgesamt unmißverständlich klargemacht, daß sich der Westen einen Teufel darum schert, ob Afrika die Probleme auf dem Kontinent selbst lösen will. Nicht, daß es noch einer solchen Botschaft bedurft hätte. Schließlich dürfen ausgesuchte afrikanische Länder immer nur am Katzentisch sitzen, wenn sich die führenden Industriestaaten bei ihren G8-Treffen abstimmen. Einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wird dem Kontinent gleichfalls verwehrt, und bei internationalen Klimaschutzgipfeln wird das unter anderem von afrikanischen Ländern geforderte Ziel, die globale Durchschnittstemperatur nicht um 2 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen zu lassen, sondern höchstens um 1,5 Grad, notorisch ignoriert.

Faßt man diese Erfahrungen zusammen und nimmt nun noch das jüngste Vorgehen des Westens in Libyen hinzu, so ergibt dies ein eindeutiges Bild: Seit der kolonialen Eroberung haben sich dessen Interessen nicht geändert. Unter der Teilhaberschaft von örtlichen Eliten und Sachwaltern soll Afrika ein Kontinent bleiben, der die Ressourcen für die westliche Wertschöpfungskette liefert, anspruchslose Arbeitskräfte bereitstellt und bei Bedarf als Absatzraum westlicher Waren dienen darf. Für diese Ziele wird Libyen, das immer eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Westen angestrebt hat, zerrüttet.

Anmerkungen:

[1] "Pre-Trial Chamber I issues three warrants of arrest for Muammar Gaddafi, Saif Al-Islam Gaddafi and Abdualla Al-Senussi", ICC-CPI-20110627-PR689, Presseerklärung vom 27. Juni 2011
http://www.icc-cpi.int/NR/exeres/D07229DE-4E3D-45BC-8CB1-F5DAF8370218.htm

[2] "African Union Demands End to Military Strikes On Libya, Skips Paris Meeting", Sudan Tribune (Paris), 19. März 2011
http://allafrica.com/stories/201103200009.html

[3] Näheres dazu unter anderem im Schattenblick-Pool POLITIK -> REDAKTION -> NAHOST
NAHOST/1057: Intervention des Auslands in Libyen bereits im Gange (SB)

[4] "African Union officials meeting in Pretoria say Libya leader has agreed not to take part intalks to end fighting", Al Jazeera, 26. Juni 2011
http://english.aljazeera.net/news/africa/2011/06/201162615731797543.html

[5] "Libya: Zuma Slams Nato Operation As AU Panel Meets", Radio France Internationale (RFI), 26. Juni 2011
http://allafrica.com/stories/201106260001.html

[6] "Gaddafi-Regime. Medienberichte: Deutsche Waffen im Krieg in Libyen. Haftbefehl gegen Gaddafi - Tripolis: Inakzeptabel", Hamburger Abendblatt, 28. Juni 2011
http://www.abendblatt.de/politik/article1938817/Medienberichte-Deutsche-Waffen-im-Krieg-in-Libyen.html

[7] "Libyen braucht einen Waffenstillstand - sofort", Gastbeitrag von Louise Arbour, Präsidentin der International Crisis Group, für "Die Zeit", 6. Juni 2011
http://www.crisisgroup.org/en/regions/middle-east-north-africa/north-africa/libya/arbour-libyen-braucht-einen-waffenstillstand-sofort.aspx

[8] "The Rise and Fall of International Human Rights", Rede von Louise Arbour beim Sir Joseph Hotung International Human Rights Lecture 2011 im British Museum, London, am 27. April 2011
http://www.crisisgroup.org/en/publication-type/speeches/2011/the-rise-and-fall-of-international-human-rights.aspx

28. Juni 2011