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AFRIKA/2158: Mangel und Willkür - die Not in Not ... (SB)



Das chronisch unterfinanzierte Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen weist zu Beginn des neuen Jahres ein besonders krasses Minus auf. Der Hilfsorganisation fehlen mehrere Milliarden Dollar. Dementsprechend bleiben zahlreiche Menschen unterernährt und müssen hungern. Unterdessen hat sich die UN-Organisation schon lange daran gewöhnt, eine Art Triage zu betreiben, wie sie ähnlich in der Katastrophenmedizin bei der Selektion der Verletzten zum Tragen kommt. Es bedeutet, daß das WFP mangels ausreichender Kapazitäten eine Auswahl trifft, welche Bedürftigen die volle Kalorienzahl erhalten, wer nur noch eine reduzierte Menge Nahrungsmittel bekommt und wem überhaupt keine Nahrung mehr gegeben wird.

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Selbst wenn das Welternährungsprogramm das von ihm erbetene Budget seitens Regierungen, Organisationen und Privatspendern vollständig erhielte und zeitnah verteilte, wären nicht alle hungrigen Menschen versorgt. Bei weitem nicht. Weltweit leiden rund 815 Millionen Menschen chronisch Hunger. Das WFP jedoch versorgt nur rund ein Achtel davon. Der größere Teil der Bedürftigen fällt von vornherein durchs Raster. Das ist kein Schicksalsschlag, sondern Folge der vorherrschenden Politik des Hungers.

Im vergangenen Jahr standen dem WFP 6,8 Mrd. Dollar zur Verfügung, gebraucht hätte es eigenen Angaben zufolge 9,1 Mrd. Dollar, meldete das National Public Radio der USA. [1] Nach Angaben der Washington Post war die Diskrepanz noch größer. Demnach standen einem Bedarf von 9,6 Mrd. Dollar Zuwendungen von 5,96 Mrd. Dollar gegenüber. [2]

Wo nichts ist, kann auch nichts verteilt werden. Was in diesem Fall bedeutet, daß das WFP im Dezember vergangenen Jahres die Nahrungshilfe für eine halbe Million Menschen in Somalia ausgesetzt hat. In der Ukraine soll ab Februar 40.000 Bedürftigen die Nahrungsmittelhilfe gestrichen werden. In Syrien werden seit Januar nur noch 2,8 Mio. und nicht, wie noch im letzten Jahr, vier Millionen Menschen unterstützt.

650.000 Flüchtlinge in Äthiopien erhalten nur noch im Durchschnitt 1680 Kalorien pro Tag. Wenn das WFP bis März nicht genügend Mittel erhält, werden die Flüchtlinge auf 1000 Kalorien pro Tag heruntergesetzt. Erst bei 2100 Kalorien täglich gilt ein Mensch als ausreichend ernährt. (Personen, die körperliche Arbeit verrichten, brauchen jedoch etwa 3000 oder noch mehr Kalorien täglich.) Rund 780.000 Frauen und Kinder in Kenia müssen mit ähnlichen Kürzungen ihrer Nahrungsrationen durch das WFP rechnen. Ersatz ist nicht in Sicht. Und die 420.000 Flüchtlinge in den nordkenianischen Lagern Dadaab und Kakuma erhalten laut Hiiraan News seit November 2017 30 Prozent weniger Nahrung. [3]

"Wenn wir nicht genug Geld haben, müssen wir im Grunde genommen entscheiden, wer keine Nahrung erhalten wird", sagt Peter Smerdon, Sprecher des WFP für Ostafrika. Sie könnten aber auch die Kalorienzahl reduzieren, beispielsweise um zehn oder zwanzig Prozent der vollen Ration. Und wenn sie wüßten, daß in absehbarer Zeit Spenden nicht rechtzeitig eintreffen, könnten sie auch einen "tiefen Schnitt" machen.

Wenn Menschen nichts zu essen haben, sterben sie. Das ist eine Binsenweisheit. Bereits weniger bekannt ist, daß Menschen, die längere Zeit zu wenig Nahrung erhalten, geschwächt und anfällig für Infektionskrankheiten werden. Die enden dann eher tödlich, als wenn sie auf einen vollständig ernährten Menschen treffen. Am wenigsten bekannt ist jedoch, daß chronisch unterernährte Kinder physische und kognitive Defizite erleiden, die zeit ihres Lebens nicht mehr behoben werden können. Das bedeutet, daß beispielsweise in Dauerkrisengebieten wie Somalia oder Südsudan eine Generation nach der anderen heranwächst, in denen ein relativ hoher Anteil Kinder aufgrund Nahrungsmangels vorgeschädigt ist.

Außerdem wachsen die Kinder in verarmten Verhältnissen auf, denn in vielen Fällen werden die Eltern Haus und Hof und damit ihre materiellen Voraussetzungen, um zumindest ein kleines Einkommen zu erwirtschaften, verkauft haben, bevor sie gezwungen sind, ihren Kindern nicht ausreichend zu essen zu geben. Kommt jetzt noch hinzu, daß in einem Staat Schulgeld verlangt wird, das zu erheben eine der typischen Forderungen internationaler Geldgeber an afrikanische Regierungen ist, wollten diese weiterhin mit günstigen Krediten versorgt werden, fallen ärmere Familien durch das Gitterrost nach unten durch. Sie bleiben arm und ungebildet - nicht weil das ihr Naturzustand wäre, sondern weil sie von der Weltgesellschaft dorthin manövriert wurden.

Smerdon beschönigt gegenüber der in Kenia erscheinenden Zeitung The Nation den Umstand, daß das WFP völlig unzureichend mit Mitteln ausgestattet wird, und erklärt, daß der Bedarf täglich wachse und es deswegen den Geberländern schwerfalle, ihn zu decken.

An solchen Stellen erweckt das WFP den Eindruck, es müsse den Geberländern nach dem Mund reden, um überhaupt Zuwendungen zu erhalten. Denn das Problem, das Smerdon schildert, wäre auf verschiedene Weise leicht zu lösen. Beispielsweise so, daß in einem Geberland der Abteilungsleiter für Hungerhilfe zu seinem zuständigen Minister sagt: "Der Bedarf des WFP wächst inzwischen täglich. Das Geld reicht hinten und vorne nicht." Antwort des Ministers: "Dann führt doch einen entsprechenden Steigerungsfaktor in die Hungerhilfe ein."

So einfach ginge es - bei entsprechendem Willen! -, die Hungerhilfe dem Bedarf anzupassen. Noch einfacher wäre es, wenn das WFP nicht um jeden Posten betteln müßte, sondern ein festes Budget hätte, in das die UN-Mitgliedstaaten gemäß ihren Möglichkeiten einzahlten, aus dem dann die Hungerhilfe in der ganzen Welt organisiert werden könnte.

Nicht nur an den Schreibtischen der Geberländer, sondern auch des WFP wird in letzter Konsequenz über Leben und Tod von Menschen entschieden. Das WFP sagt, sein Maßstab für die Verteilung sei die Größe der Not, die Schwere der Bedürftigkeit der Menschen. Doch nach welchen Kriterien gehen WFP-Mitarbeiter vor, wenn sie mangels ausreichender Mittel für alle Notleidenden sehenden Auges - sofern sie beim Verlassen der Flüchtlingslager in die Rückspiegel ihrer Fahrzeuge schauen - Menschen Siechtum und Hungertod überlassen?

Wenn Frauen und Kinder vom WFP bevorzugt Nahrung erhalten, ältere Menschen jedoch nicht, obgleich sie gewiß nicht minder nach Leben lechzen, unterscheidet sich die Selektion dann noch von derjenigen, die einer direkten Vernichtungslogik folgt? Erweist sich hier nicht das WFP als verlängerter Arm einer Weltgesellschaft, die das Richtschwert schon längst zum Schlag gegen jene Menschen geführt hat, die im Ringen der um Vorherrschaft konkurrierenden Interessen an den Rand gedrängt und zur Flucht getrieben wurden?


Fußnoten:

[1] tinyurl.com/ya8jkdbm

[2] tinyurl.com/ybbyd46p

[3] tinyurl.com/ybe3qgfz

12. Januar 2018


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